Rückblick: Donnerstag, 16.
August 2012, ca. 23 Uhr
Ich
versuchte den Blick der Ärztin zu deuten. Sie guckte ernst. Zu ernst. Bereits
auf dem Weg in das Arztzimmer fragte ich sie: „Ist es irgendetwas Schlimmes?“
Die Ärztin schritt schneller voran. „Es ist etwas Schlimmes, oder?“, fragte ich
schon eine Spur lauter, angespannter. „Kommen Sie bitte mit“, sagte sie ruhig.
Wir erreichten das Arztzimmer, setzten uns. Ich starrte sie an. „Ihr Kind hat
einen Tumor“, sagte sie beherrscht, ohne die eigene Betroffenheit wirklich verstecken
zu können. Ich sprang auf, irgendein Fluchtinstinkt setzte ein. Ich sah meinen
Mann an, und er, der sonst immer alles im Griff zu haben scheint, schaute mich
genauso an, wie ich mich fühlte. Zerstört. Ich sank zurück auf meinen Stuhl,
krallte meine Hand in seinen Oberschenkel, meine Augen flehten ihn an. Er
sollte sagen, dass das nicht wahr ist. „Ist es Krebs?“, schoss es aus mir
heraus. Sie zeigte uns die MRT-Bilder. Sogar für Laien war der große weiße
runde Knubbel klar erkennbar. „Es ist ein Tumor, er ist groß, in etwa so groß
wie ein Apfel“, erklärte die Ärztin. Ich stellte mir einen roten runden Apfel
vor, und daneben das kleine Köpfchen meiner Tochter. Das konnte nicht sein.
Gleich würde ich aufwachen, gleich, gleich. Aber ich wachte nicht auf, ich war
verstört. Micha ebenso. Ich stürmte aus dem Arztzimmer hinaus zu meiner
Tochter, meiner kleinen Prinzessin. Ich nahm sie in die Arme, Verzweiflung pur.
Ich wollte sie packen und ganz weit vor all dem hier flüchten. Eine
Südseeinsel? Nur wir beide. Die Geschwister spürten unsere Verzweiflung. „Was
ist los“, schrie Jesse. Luke klammerte sich an mich. Alle Kinder weinten,
obwohl sie doch noch gar nichts
wussten. „Vianne ist schwer krank, sie hat einen Tumor“, sagte ich zu den
Kindern. Alle schrien, weinten und heulten durcheinander. Ich hatte keine
Tränen. Noch nicht! Ich musste die Kinder irgendwie führen. Die Ärztin stand
vor mir. „Sie fahren jetzt gleich in die Neurochirurgie der Uniklinik. Es
bringt nichts,
wenn sie jetzt in ihr Ferienhaus zurückkehren und morgen zwei Stunden lang in
der Sprechstunde warten. Der diensthabende Arzt weiß schon Bescheid, er schaut
sich Vianne sofort an.“ Bis heute bin ich diese Frau so dankbar, dass sie uns
nicht allein gelassen hat mit der ersten Diagnose. Jetzt wurde mir auch klar,
warum wir so lange auf das Gespräch hatten warten müssen, außer uns war nämlich
niemand mehr vor Ort. „Wo ist die Uniklinik?“, fragte mein Mann beherrscht. Und
wieder bekamen wir Hilfe. In unserem Zustand hätten wir die Klinik nie
gefunden. „Meine Assistentin fährt vor Ihnen her und zeigt Ihnen den Weg“,
erklärte die Radiologin. Sie nahm mich zur Seite und schaute mich eindringlich
an: „Ihre Tochter wird wieder gesund“, sagte sie beschwörend. Ich weiß nicht,
ob man so etwas als Ärztin überhaupt sagen darf, ist mir auch egal. Mir machte
es in diesem Moment Hoffnung und half mir, zu funktionieren. Schließlich
standen wir dort mitten in der Nacht mit vier Kindern, die alle weinten,
komplett gefangen in der Situation. Hätte die Ärztin diese Aussage auch
gemacht, wenn sie gewusst hätte, was wirklich in Viannes Köpfchen wuchs? Diese Frage
stelle ich mir im Nachhinein häufig. Ich weiß es nicht. Ist auch egal.
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