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26. Juni 2016

Nach dem MRT



Echtzeit! 10. September 2014


Wir laufen herum wie Zombis. Ich habe mich entschlossen, arbeiten zu gehen. Ich brauche Normalität um mich herum. Ich reiße mich förmlich um den Pressetermin am Vormittag, halte Smalltalk mit den Leuten vor Ort, mache Fotos von der neuen Kanustrecke, überarbeite die Pressemitteilung. Es funktioniert.

Ada und Vianne wollten in den Kindergarten, Luke ist in der Schule, Jesse beim Schülerpraktikum. Micha übernimmt die schwere Aufgabe, die  Kindergärtnerinnen zu informieren (ich kann das heute nicht). Sie müssen gut auf Vianne achten. Das Scheißding ist in nur acht Wochen gewachsen, auf den letzten Aufnahmen war noch nicht einmal ein Schatten zu sehen. Wir müssen aufpassen, dass das Rückenmark nicht gequetscht wird, wenn der Tumor in der Geschwindigkeit weiter wächst. Momentan ist der Druck noch nicht so groß, aber falls Vianne plötzlich Symptome zeigen sollte, muss sie unverzüglich operiert werden. Am Nachmittag - Vianne war mit Andi und Ada beim Kinderturnen!?! - haben wir einen Gesprächstermin mit den Dortmundern. Ich vertraue ihnen. Wir legen es in ihre Hände, wir können nicht mehr. Sie sollen Empfehlungen herausgeben. Sie machen ihre Arbeit sehr gut, haben bereits gestern am späten Abend viele Dinge in die Wege geleitet, sich vernetzt mit den entsprechenden Fachbereichen. Es besteht vielleicht die Möglichkeit, Vianne als Patientin in einer bestimmten Studie aufzunehmen, die sich ganz vielversprechend anhört. Sie haben die MRT-Bilder komplett ausgewertet. Das Köpfchen ist tumorfrei. Die Empfehlung: schnellstmögliche Operation an der Wirbelsäule, sofortige Temodal-Gabe (orale Chemotherapie) nach Rücksprache mit dem Neurochirurgen, mit dem wir am Freitag einen Termin haben. Sie wollen grünes Licht, dass sich Chemo und Operation nicht beeinflussen. Es geht mir langsam etwas besser.

Micha und ich schmusen abends lange mit den Kindern im Bett. Der Zombi in uns schwindet langsam, das Gefühl kehrt zurück. Wir laufen zwar auf wackligen Beinen, aber wir laufen. Jesse, Luke und Ada wanken. Vianne weiß, dass der Tumor zurück ist. Sie ist schlau und wir machen ihr nichts vor. Sie ist stärker als ich. Gestern hat sie zu mir gesagt, ich solle aufhören zu weinen, es sei alles nicht so schlimm. "Doch, es ist schlimm", gab ich ihr zur Antwort. "Wir müssen vielleicht wieder häufiger ins Krankenhaus und wir müssen dich operieren lassen." Ihre Antwort: "Im Krankenhaus ist es doch gar nicht so schlecht! Soll ich dich noch einmal küssen, dann geht es dir besser." Sie ist fünf Jahre alt!

Die nächsten Tage knüpfe ich wieder an 2013 an. Die Zeit fließt unaufhaltsam weiter, ich würde sie gerne für eine kurze Verschnaufpause anhalten. Aber das geht nicht. Also werde ich mich beeilen.

Böse MRT-Wahrheit



Echtzeit!  9. September 2014


Das heutige MRT von Kopf und Wirbeläule hat mit Lumbalpunktion über anderthalb Stunden gedauert. Die Angst, die ich am Wochenende noch gut in Schach halten konnte, hüllt mich unaufhaltsam ein. Wieder versuche ich, in den Gesichtern der Ärzte zu lesen. Nachdem wir zur ihr durften, hat Vianne gleich angefangen zu weinen, zu strampeln, obwohl sie noch gar nicht richtig wach war. Da kommen böse Erinnerungen hoch. Als das Rezidiv entdeckt wurde, ist sie ebenso unruhig aus der Narkose gekommen. Auf dem Weg durch den Tunnel zurück zur Kinderklinik ist sie zum Glück wieder eingeschlafen. Wir unterhalten uns mit der Schwester, die ihr Bett schiebt, über deren Sommerurlaub. Wir greifen nach jedem Strohhalm, jeder Ablenkung, jeder Normalität. Micha und ich sind absolut durch den Wind, auch wenn ich es mir persönlich nicht eingestehen will. Ich merke es daran, dass ich Dinge von einer Minute auf die andere vergesse, verlege, verliere. In meinem Kopf entstehen andauernd Szenarien, was Dr. B in Kürze zu uns sagen wird: "Da ist wieder etwas", oder "alles gut" oder "sieht nicht gut aus", oder "wir sind uns nicht sicher". Dr. L. hat mich gestern bei Viannes Voruntersuchung nach meinem Bauchgefühl gefragt. Ich konnte ihr nicht antworten. Ich war wieder so verunsichert, obwohl ich bis vor kurzem noch überzeugt war, dass alles gut ist. Aber dann ist Vianne wieder so schlecht gelaufen, gestolpert, sah auf dem letzten Foto so müde um die Augen aus, hatte Nasenbluten, hat nachts ins Bett gemacht, was eigentlich nie vorkommt. Ich traue mir momentan selbst nicht über den Weg. In wenigen Stunden werden wir mehr wissen. Für mich könnte jetzt einfach die Zeit stehenbleiben. Angst kriecht in mir hoch, langsam, schleichend, unaufhaltsam. Vianne sieht so friedlich aus im Schlaf. Zumindest verlief die Narkosevorbereitung gut. Wir mussten nicht allzu lange warten, und die Wartezeit wurde uns von Wolke und Knolle, den beiden Klinikclowns versüßt. Dann kam noch K., unsere Kunsttherapeutin (sie ist toll!), und baute mit Vianne ein Zwergenhäuschen aus Ton. Auf meinen Wunsch hin legte Dr. B Vianne bereits auf Station einen Venenkatheter, dadurch durften wir bei der Narkoseeinleitung dabei sein. Dr. B. hat sie ganz süß mit einbezogen und bereits beim ersten Versuch einen Zugang im Arm gefunden. Vianne hat nur ganz kurz geweint. Ich will nicht mehr, dass sie weinen muss. Ich bin immer wieder erstaunt, wie stark und tapfer die Maus ist. Heute Morgen hat sie mich wiederholt gefragt, warum sie (und nicht Ada) krank geworden ist. Letztendlich haben beide Mädchen geweint (die eine wollte nicht ins MRT, die andere nicht ohne die eine in den Kindergarten). Wir konnten sie gut ablenken und mit zwei Dschungelbuch- und Arielle-Heften bestechen. Noch geht das...

Es ist gleich schon 16 Uhr, Vianne schläft noch immer. Meine Eltern kümmern sich Zuhause um die übrigen Kinder, Micha fährt gerade zum Wakeboarden, um den Kopf frei zu kriegen, Andi will abends noch zum "Händchen halten" vorbeikommen. Ich bin so dankbar, dass sie alle da sind. Prof. S kommt in unser Zimmer. Vianne ist mittlerweile wach. Es ist nicht gut, dass er zu uns kommt. Ich will nichts hören. Aber er spricht. Er spricht die Worte, die ich nicht hören will. "Da ist etwas, weiter unter, an der Wirbelsäule..." Den Rest höre ich wie durch Watte, betäubt, bruchstückhaft - Aussaat über Liquor - Rückenmark - Druck - müssen etwas tun - Chemo - Operation - Bestrahlung - später sprechen - soll jemand kommen? - nicht selbst Auto fahren.... Vianne ist verstört. Ich kann mich nicht mehr vor ihr zusammenreißen, sie kann meine tiefe Verzweiflung, meine Hoffnungslosigkeit mit ihren kleinen Händchen förmlich greifen - die Schonzeit für ihre zarte Kinderseele ist in diesem Moment vorbei. Meine Tränen kommen zeitverzögert, unaufhaltsam. Ich versuche so sehr, mich unter Kontrolle zu bringen. Ich starte einen halbherzigen Versuch, ihr meine Tränen zu erklären, sage ihr, dass ich traurig bin, weil der "freche Wicht" wieder da ist. Es gelingt nicht. Ich klinge so unecht. Dann halte ich sie einfach in den Armen, Prof. S. steht vor unserem Bett, er ist ausgeblendet für die nächsten Sekunden, Minuten. Nur meine Tochter und ich existieren in dieser Welt: ihre Stirn an meiner Stirn, ihre Händchen in meinen Händen, ihre Seele untrennbar verwoben mit meiner Seele. Prof. S fragt, ob er uns allein lassen soll, er berührt behutsam meine Schulter. Die Tränen hören nicht auf, nicht während mich die Krankenschwester in den Arm nimmt, nicht auf dem Weg zum Auto, nicht auf der Autofahrt, nicht Zuhause. Alle sind da: Andi und Ralf, Oma und Opa, die Kinder. Wir sagen allen die Wahrheit. Die Chancen stehen schlecht. Aber da ist noch eine andere Wahrheit nach den Worten von Prof. S.: "Wir haben zwar kein Schwert mehr, mit dem wir uns wehren können, aber wir haben noch einen kleinen Dolch." WIR HABEN NOCH EINEN DOLCH! Und den werden wir einsetzen.


Lebenssaft



Rückblick: Januar 2013


Ein neues Jahr hatte begonnen - 2013 konnte einfach nur besser werden - irgendwie war ich mir da ganz sicher. Das letzte Therapieelement aus dem 2. Zyklus stand auf dem Plan: Etoposid und Carboplatin – ein Mittel, das dafür bekannt ist, die Blutwerte in den Keller fallen zu lassen! Vom 10. Januar - 13. Januar waren wir für die Infusionen mit Vianne in der Kinderklinik. Wieder Zuhause angekommen, ging es ihr drei Tage lang richtig gut. Meine Schwester und ich fuhren mit Ada und Vianne Schlitten, wir schlürften alle heißen Kakao, futterten Plätzchen, fingen mit dem Mund Schneeflocken auf und hinterließen "Schnee-Engel" auf der verschneiten Wiese. Welch ein unbeschwerter Tag!

Am vierten Tag kam das Fieber. Vianne hatte kaum noch Abwehrkräfte, dafür aber einen hohen Entzündungswert im Blut. Eine gefährliche Kombination. Wieder musste sie Antibiotika-Infusionen bekommen, wieder mussten wir stationär ins Krankenhaus. Aber auch die Erythrozyten (verantwortlich für den Sauerstofftransport im Blut) und die Thrombozyten (Blutgerinnung) hatten einen kritischen Wert erreicht. Die Gefahr, innerlich zu verbluten, war groß, ebenso die Gefahr, dass ihr Körper nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird. Sie war so blass! Am 19. Januar 2013 erhielt Vianne ihre erste Bluttransfusion. Ich saß heulend im Zimmer der Stations-Psychologin. Alle gaben sich die größte Mühe, mir zu vermitteln, dass eine Bluttransfusion nichts Schlimmes sei, sondern ein Segen. Es werde ihr damit schnell besser gehen. Ich hingegen war voller Angst: vor allergischen Reaktionen, vor der falschen Blutgruppe, vor Aids und Hepatitis, die übertragen werden konnten.... Für die Ärzte und Schwestern auf Station war es etwas ganz Alltägliches, etwas Gutes. In mir wehrte sich alles. "Was macht Ihnen denn wirklich so viel Angst?", fragte die Psychologin einfühlsam. Wenn man es logisch betrachtete, war die Gefahr einer Krankheitsübertragung überschaubar, allergischen Reaktionen konnte man sofort entgegenwirken. Was also machte mir so Angst? Tief im Inneren kannte ich die Antwort. Wenn jemand eine Bluttransfusion benötigte, war er definitiv und unwiderruflich krank - schwer krank. Bluttransfusionen waren für mich das Sinnbild eines schwerkranken Menschen. Während ihrer ersten Bluttransfusion ließ ich Vianne nicht aus den Augen, das Notfallset immer in Reichweite, die Schwestern-Ruftaste immer griffbereit. Vianne war wie immer. Sie freute sich darüber, dass die Flüssigkeit in ihrem Infusionsschlauch heute so schön rot war. Sie reagierte weder allergisch noch sonst irgendwie. Einen Tag später folgte die 2. Bluttransfusion, und danach durften wir endlich nach Hause und hatten zweieinhalb Wochen krankenhausfrei. Der zweite Therapiezyklus war geschafft. Wir verbrachten dieses Mal insgesamt 19 Tage stationär in der Klinik. Bis zum Ende der Chemotherapie sollten noch elf weitere Bluttransfusionen folgen. An dieser Stelle ein ganz großes Dankeschön an alle Blutspender! Mehr denn je wissen wir diesen "Lebenssaft" zu schätzen.

Auszug aus dem Krankenhausbericht:

"Am 22.01.2013 wurde bei Vianne ein MRT des Schädels zur Verlaufskontrolle durchgeführt. Das MRT zeigte erfreulicher Weise weiterhin keinen Hinweis auf ein Rezidiv der Grunderkrankung."





20. Juni 2016

Kollateralschäden



Rückblick:  Ende November bis Ende Dezember 2012 


Zwei Wochen verspätet konnten wir am 28. November 2012 mit dem nächsten Zyklus beginnen. Die Ärzte durften nicht eher starten, da Viannes Blutwerte nicht mitspielten. Alle zwei bis drei Tage ging es dann zum Bluttest. Erst wenn die Werte wieder ein gewisses Niveau erreicht haben, darf die nächste Portion Zellgift verabreicht werden - das sich wieder mit voller Wucht auf alle sich schnell teilenden Zellen stürzt und in der Hitze des Gefechts einfach auch mal ein paar "gute" Zellen wie die blutbildenden, die schleimhautbildenden oder die Haarzellen umnietet. Abgesehen von den Kollateralschäden eine gute Sache, schließlich wollten wir auch die letzte kleine versprengte Tumorzelle vernichten. Dass es die gab, führten uns zahlreiche Studienergebnisse vor Augen. Auch Kinder, deren Tumor komplett entfernt werden konnte und die auch keinen Hinweis auf Tumorzellen im Hirnwasser hatten, bekamen in ganz vielen Fällen ein Rezidiv (Wiedererkrankung). Mit einer lokalen Bestrahlung und evtl. auch mit einer Chemo konnte die Rückfallquote verringert werden. Das progressionsfreie Überleben (ohne das etwas Neues nachwächst) lag nach fünf Jahren bei immerhin 60-70 Prozent, nach zehn Jahren bei 50 Prozent. Also auf zur nächsten Runde - die Chemo an sich war nicht unser Feind, sondern eine Möglichkeit auf dem Weg zur Heilung.


Wir verbrachten wieder vier Tage mit Vianne in der Klinik. Sie ging gerne auf die Station, freute sich schon auf die vielen Bücher, auf ihre Schnullerzeit (im Krankenhaus durfte sie zum Schlafen und während der Untersuchungen immer ihren heißgeliebten Schnuller haben). Sie freute sich auf ihre Freundin Lilli (falls sie zeitgleich da war), auf unsere Besucher (die immer zahlreiche Geschenke für sie mitbrachten), auf die exklusive Spielzeit mit Micha oder mir, auf die Kunst- oder Musiktherapeutin, die abwechselnd vorbei schauten. Zuhause angekommen sackten ihre Blutwerte gleich wieder ziemlich tief in den Keller. Dieses Mal verordneten die Ärzte ihr Spritzen, die ihre Leukozyten künstlich in die Höhe puschten, damit wir im Zeitplan blieben. Anfangs gaben ihr die Schwestern im Krankenhaus die Spritzen, dafür mussten wir aber jeden Tag vorbei kommen. Eine Tortur in jeder Hinsicht. Die Spritze wurde direkt in den Muskel gegeben, für Vianne eine Qual, obwohl ein entsprechendes Pflaster die Stelle vorher betäubte. Später hatten wir einen ambulanten Pflegedienst. Doch eines Morgens musste der Pfleger kurzerhand absagen. Ich hatte die Wahl: entweder wieder in die Klinik oder die Spritze selber geben. Eigentlich ist das kein großer Akt, jeder Insulinkranke spritzt sich selbst. Theoretisch traute ich es mir zu, ich hatte oft genug zugeschaut. Aber konnte ich das bei meiner eigenen Tochter? Ich hatte noch nie auch nur irgendjemandem eine Spritze verabreicht.

Wir fragten Vianne einfach, ob es für sie okay wäre, wenn Papa sie auf den Schoß nimmt und Mama ihr die Spritze gibt. Sie stimmte zu. Ich atmete tief durch, bereitete die Spritze vor - und fing an zu zittern. "Jetzt reiß dich zusammen, du Weichei", wies ich mich selbst zureckt. "Vianne vertraut dir, also vertraue dir verdammt noch mal selbst!" Noch einmal atmete ich tief durch. Micha hielt Vianne mit Schnulli im Mund fest, Ada streichelte ihren Rücken, ich kniff ihre Haut am Oberschenkel mit Daumen und Zeigefinger zusammen, so dass eine Hautfalte entsteht und setzte die Spritze an. Meine Hand war auf einmal ganz ruhig. Ich war irgendwie erstaunt, wie leicht die Nadel in die Haut drang. Vianne weinte nur einen ganz kleinen Moment, kurz bevor die Nadel eindrang, dann war sie ruhig. Ich zog die Nadel wieder heraus. "Tat es doll weh?", fragte ich sie, während ich sie ganz fest in den Arm nahm. "eh eh", nuschelte sie zwischen ihrem Schnuller hervor. "Du sollst das immer machen." Völlig ausgelaugt ging ich erst einmal nach unten. Aber ich war auch unglaublich stolz. Ab diesem Tag gab ich Vianne regelmäßig die Spritzen und irgendwann musste sie niemand mehr festhalten. Tapferes Mädchen!

Die beiden MTX-Elemente in der Mitte des 2. Therapiezyklusses vertrug Vianne wieder ganz gut – abgesehen von dieser quälenden Verstopfung. Was aber viel wichtiger war: ihre Schleimhäute litten nicht, sie konnte weiterhin ohne Schmerzen essen und trinken. Und was noch viel wichtiger war: wir durften Weihnachten und Silvester gemeinsam zu Hause verbringen - ohne Therapie, ohne Fieber, einfach nur wir!



Überall dabei



Rückblick: November 2012

Wir versuchten, Vianne soviel Normalität wie möglich zu bewahren. Am Anfang fand sie es noch gut, dass sie nicht in den Kindergarten musste und mich exklusiv für sich hatte. Nach und nach jedoch vermisste sie das Kindergartenleben, schließlich durfte Ada jeden Tag gehen. Ada hingegen wollte oftmals gar nicht, dann behielt ich beide Mäuse Zuhause, sofern es möglich war. Dann kam der St.-Martins-Tag. Die Kindergartengruppe veranstaltete immer einen Laternenzug mit echtem Pony vorneweg, später wurde die Mantelteilung in der Turnhalle nachgespielt und Kinderpunsch und Martinsbrezeln serviert. Vianne wollte gerne dabei sein - und es passte auch. Kein  Krankenhausaufenthalt, kein Fieber. Allerdings sollten wir uns vor Menschenmengen fernhalten, weil ihre Abwehrkräfte so geschwächt waren. Wir teilten den Erzieherinnen mit, dass wir mit Ada und Vianne an dem Laternenzug teilnehmen, uns danach aber direkt verabschieden, da Vianne nicht mit zu vielen Leuten in einem Raum sein darf. Daraufhin verlegten die Erzieherinnen das St.-Martin-Spiel mit der Mantelteilung kurzerhand nach draußen. Anschließend durfte Vianne noch eine Runde auf dem Pony reiten. Was für ein toller Kindergarten! Wir waren unglaublich gerührt von so viel Feingefühl und Hilfsbereitschaft. Anschließend sind wir dann doch noch mit rein in den Kindergarten, weil Vianne (und auch Ada) so gerne noch einen Kakao schlürfen wollten. Wir haben einfach wieder auf unser Bauchgefühl vertraut und Vianne den Mundschutz übergezogen. Wir wollten ihr nicht noch mehr versagen, auch wenn die reale Gefahr einer Infektion bestand. Natürlich zuckten wir bei jedem Husten um uns herum zusammen. Dann schauten wir einfach in Viannes lachende Augen und verdrängten den Gedanken an Keime und Erreger. Schließlich hat ein trauriges Kind noch weniger Abwehrkräfte. Als wir später zurück zu unserem Auto gingen, schaute Vianne uns an und sagte: "Das war ein ganz toller Tag!" Was wollen wir mehr?! Wieder einmal musste ich mir die Tränen verdrücken.

Alles in allem fanden wir es unglaublich, wie gut Vianne die schweren Medikamente bisher vertrug, wie viel Energie sie aufbrachte. Sie wollte unbedingt zum Mutter-Kind-Turnen, welches wir vor ihrer Erkrankung regelmäßig besucht hatten. Sobald es ihre Abwehrkräfte gerade eben zuließen, nahmen wir auch jetzt teil, denn Vianne wollte turnen, springen, hangeln und schaukeln. Ich war dabei nie entspannt, ich hatte immer Angst, dass sie mit ihrem Katheter irgendwo hängen bleibt oder bei niedriger Thrombozytenzahl (wichtig für die Blutgerinnung) unglücklich stürzt. Aber ihr Lachen und ihre Freude haben mich jedes Mal bestätigt. Anfangs war es schwer, die Blicke der anderen auszuhalten, obwohl sie es gar nicht böse meinten. Vianne war mittlerweile merklich von der Chemo gezeichnet: sie bewegte sich anders als vor der Erkrankung, sie war blass, hatte nur noch wenige Haare und trug meistens einen Mundschutz.

Auf dem Hof einer Freundin fuhr Vianne im Elektroauto, auch das Ponyreiten ließ sie sich nicht nehmen. Das Leben hatte uns ein Stück weit zurück - auch wenn ich dabei andauernd Schweißausbrüche hatte. Gut, dass unsere Klinikärzte von all den Aktionen nichts mitbekamen…

16. Juni 2016

Auf dem Trockenen schwimmen



Rückblick: November 2013


Am schwersten fiel  Vianne, dass sie mit ihrem Broviak-Katheter nicht baden gehen durfte. Das Duschen ging lediglich mit etlichen wasserdichten Pflastern, ein Schwimmbad-Besuch kam gar nicht in Frage. Dabei liebte sie es so sehr, ausgiebig zu planschen. Die Infektionsgefahr war einfach zu groß. Aber Kinder sind schließlich kreativ. Ada und Vianne verlegten den Hallenbad-Besuch kurzerhand in unsere Küche. Sie zogen sich ihre Badehosen an, ich musste die Schwimmflügelchen hervorholen und dann sprangen sie in den unsichtbaren Pool, ruderten mit ihren Armen und Beinen und quietschten laut. Neben den Arztspielen wurde dieser "Schwimmbadbesuch" zu ihrem neuen Lieblingsspiel. Manchmal schoben sie sich bis zu einer halben Stunde lang in Bauchlage oder auch in Rückenlage über unseren Granitboden. Doch irgendwann sollte das Spiel ein jähes Ende haben. Nachdem sie wieder einmal einen "Badbesuch" mit ausgiebigen Brustschwimmen hinter sich hatten, kam Vianne zu mir und erzählte, der Brovi-Schlauch sei „rausgerutscht“. Wie? Beunruhigt schaute ich unter ihr Hemdchen. Das Pflaster, dass über der Eintrittsstelle klebte, war zum Glück nicht blutig. Auch sonst sah alles normal aus. Ich wollte das Pflaster ablösen und mir den Zugang genauer ansehen, aber Vianne fing an zu weinen. Den Pflasterwechsel - trotz Pflasterlöser - empfand sie immer noch als Tortur. Da sie mir versicherte, die Eintrittsstelle würde nicht wehtun, beließ ich es erst einmal dabei. Am nächsten Tag hatten wir sowieso einen ambulanten Termin in der Klinik zum Durchspülen des Katheters. Dann wollte ich die Ärzte nachschauen lassen. Nach viel Geschrei - ich war schon wieder nass geschwitzt - ließ sie sich am nächsten Tag das Broviak-Pflaster wechseln. Ich traute meinen Augen kaum: obwohl der Schlauch über zwei Plastikflügelchen mit der Haut mit zwei Stichen vernäht gewesen war, schaute nun die Muffe hervor (der Teil, der an der Eintrittsstelle eigentlich unter der Haut liegen und dort mit dem umliegenden Gewebe verwachsen sollte). „Oh nein!“ Sie hatte Recht gehabt. Das muss doch weh getan haben, schoss es mir durch Kopf. Ich streichelte sie. Tapfere kleine Maus. Wie hart im Nehmen sie doch war. Der Katheter funktionierte noch, es konnte noch Blut entnommen und die Kochsalzlösung zum Spülen hineingegeben werden. Unsere Onkologen schickten uns gleich zum Herz-Ultraschall, denn die Katheterspitze soll in der oberen Hohlvene, nahe dem Herzen, liegen. Das Ultraschallbild zeigte, dass sie nur ein klein wenig  verschoben war. Wieder auf Station angekommen, holten die Onkologen einen Chirurgen zur Beurteilung hinzu. Er riet zu einem neuen Katheter. Die Muffe, die eigentlich kurz vor der Austrittsstelle des Katheters in das Körpergewebe einwachsen soll, verhindert, dass Bakterien von außen eindringen können. Die Infektionsgefahr war bei Vianne jetzt einfach zu groß, da die Muffe nun außen lag. Schließlich hatte sie noch rund neun Monate Therapie vor sich, wenn alles nach Plan verlief. Wieder eine Operation, wieder eine Narkose. Mir war so elend zu Mute. Ich wollte nicht mehr, dass sie ihr wehtun. Bereits am nächsten Tag sollte der Eingriff erfolgen. Ich rief Micha an. Ich rief meine Eltern an, die im Wechsel mit Andi immer zu uns kamen und Zuhause die Stellung hielten, während wir im Krankenhaus waren. Ohne die Hilfe meiner Eltern oder meiner Schwester/meines Schwagers wären wir schlichtweg durchgedreht. So wussten wir zumindest die übrigen Kinder gut betreut.

Der Chirurg (er war mir von Anfang an unsympathisch) blieb gleich da, um die Aufklärung für den Eingriff (die immer Pflicht ist) vorzunehmen. Ich machte mir Sorgen, deshalb fragte ich genau nach. Nach meiner zweiten Frage schaute er mich genervt an und sagte ziemlich provokant: "Sie sind aber nervig!" Ich bekam urplötzlich Schnappatmung. Im ersten Moment guckte ich ihn nur völlig perplex und sprachlos an. Ich konnte gar nicht glauben, was er gerade von sich gegeben hatte. Dann kam die Wut. Aber ich war so getroffen, dass ich kaum die richtigen Worte fand. Ich war einfach nur noch geschafft, hatte vor Wut und Verzweiflung nur noch Tränen in den Augen, die ich mühsam zu unterdrücken versuchte. Diesem Affen wollte ich auf gar keinen Fall meine Tränen zeigen. Unsere Onkologin spürte, dass ich innerlich kurz davor war, auszurasten, und versuchte zu beschwichtigen. Mühsam presste ich nur noch hervor, dass ich mich keinen Moment länger mit ihm unterhalten werde. Ich fühlte mich so klein. Dann forderte er mich auf, "für Emma" (SIE HEIßT VIANNE!!!) die Patientenaufklärung zu unterschreiben. Am liebsten hätte ich ihm das Papier um die Ohren gepfeffert, aber wenn ich nicht meine Zustimmung gab, konnte Vianne am nächsten Tag nicht operiert werden. Und ohne neuen Broviak konnte die Therapie nicht weitergehen. Ich zog Vianne an, hob sie auf meinen Arm und verließ die Klinik. Ich war außer mir. Aber wer mich kennt, weiß, dass die Sache damit nicht erledigt war. Todmüde setze ich mich abends an meinen Rechner und setzte einen offiziellen Beschwerdebrief auf, den ich an die Klinik faxte. Ein Exemplar an den Leiter der Kinderchirurgie, einen an den Klinikleiter und einen zur Kenntnisnahme an die Onkologie.

Vianne wurde am nächsten Tag vom Chef persönlich operiert, es folgte eine Entschuldigung des besagten Arztes. Ich war so müde... Sie hatte die zweite "Operative Einpflanzung eines zentralvenösen Katheters" gut überstanden.








Kontroll-MRT



Rückblick: 30. Oktober 2012


Vor diesem Tag haben wir immer besonders Angst - die MRT-Kontrolle. Wieder eine Kurznarkose, wieder sechs Stunden kein Essen, wieder in die "Röhre", wie Vianne mittlerweile wie ein alter Profi zu sagen pflegt. Am Abend zuvor bekamen wir mitgeteilt, wann sie am nächsten Tag an der Reihe ist. Ja, wir verbrachten viel Zeit im Krankenhaus, wenn nicht stationär, dann ambulant zum "Fingerpiks", zur neurologischen Kontrolle, zum Spülen des Broviak-Katheters (damit er sich nicht zusetzt), zum EEG, zur augenärztlichen Untersuchung, zum Hörtest,... Wir mussten uns also endlich mit dem Krankenhaus arrangieren. Wir lernten immer mehr Eltern und Kinder auf Station kennen. Da war der kleine D. aus der Ukraine, der mit seiner Oma die Therapie über sich ergehen ließ, da war die sechsjährige D. mit ihrer Mutter, die schon das 2. Mal wegen einer Leukämie behandelt wurde. Der kleine B. war so aufgeschwemmt vom Cortison, dass kaum Gesichtszüge zu erkennen waren. Mit A. und seiner Mama konnten wir uns nur mit Händen und Füßen verständigen, denn sie kamen aus Armenien und sprachen leider weder deutsch noch englisch - und wir kein armenisch. Und dann gab es da noch Lilli und ihre Mama, über die wir uns immer besonders freuten. Gemeinsam klebten Lilli und Vianne Sticker auf, und ich trank mit Lillis Mama etliche Krankenhaus-Kaffee zusammen, vom ersten Moment an fand ich sie super sympathisch. Es entwickelte sich ein Paralleluniversum zu der Welt dort draußen, und auch hier kehrte Alltag ein. Dienstags kamen immer die Clowns, zwischen 10 und 12 war jeden Tag Visite, freitags war der Chefarzt mit dabei. Ich habe es mir nie vorstellen können - aber das war jetzt unser Leben, und das war auch okay so, denn für Vianne schien es in Ordnung zu sein. An den MRT-Terminen - an diesem Tag machten wir den Anfang - bekam sie immer ein Lillifee-Heft und anschließend wurden im Kiosk gegenüber unzählige Süßigkeiten gekauft - aus Sicht einer Dreijährigen kein schlechter Deal.

Vianne sollte wieder das Dormicum, den Beruhigungssaft, nehmen. Eine kleine Tortur, denn das Zeug schmeckt sehr bitter, sogar mit Saft verdünnt. Mit Engelszungen überredete ich sie schließlich zur Einnahme. Eine halbe Stunde dauert es ungefähr, bis der Saft seine Wirkung entfaltet. Dann konnten wir hinüber ins Hauptgebäude. Im Vorraum zum MRT stöpselten die Anästhesisten schließlich einen der beiden Broviakschenkel für das Narkosemittel an. Während die Ärzte auf Station äußerst penibel mit dem Zugang umgehen und alles immer steril verpacken, damit möglichst keine Keime eindringen, fassten die Anästhesisten die Verbindungsstelle mit bloßen Händen an. Na, super. Man habe einfach unterschiedliche Auffassungen, erklärte man uns. Mir war nicht wohl dabei, einen verunreinigten Katheter konnten wir nicht auch noch gebrauchen. Vianne schlief sanft in unserem Beisein ein. Ich erzählte ihr dabei von Lillifee und ihrem Einhorn Rosalie, wie sie am See wunderschöne leuchtende Lampions für das große Frühlingsfest aufhängen. Geschafft! Dann hieß es wieder warten, vor dem MRT-Raum, auf den Stühlen. Dort hielten wir es nicht lange aus. Micha war zum Glück bei mir. Er ging zwar morgens erst ins Büro, sobald aber der Beruhigungssaft verabreicht wurde, rief ich ihn an und er kam schnell vorbei. So musste er sich nicht immer einen Tag Urlaub nehmen, denn wir mussten gut mit diesen Tagen haushalten. Wir tigerten zum Kiosk und holten uns einen Latte Macchiato. Zurück in den Wartebereich. Ein Blick zur Uhr. Bereits 40 Minuten um, warum dauerte es - verdammt noch mal - so lange? Hatten sie was entdeckt? Schnell zum Wasserspender, etwas trinken, hatte keine Spucke mehr im Mund. Die Tür zum MRT-Raum ging auf. Wie guckten die Ärzte? Was sagte uns ihr Blick? Natürlich nichts - Ergebnisse gibt es erst morgen. Vianne schlief noch tief und fest. Durch den dunklen, engen Tunnel fuhren wir zurück auf die Kinderstation. Herz und Atmung wurden weiter überwacht. Vianne nennt das Messgerät an ihrem Finger immer den Leuchtfinger - sie mag ihn nicht. Micha und ich waren erst einmal froh, dass sie das MRT überstanden hatte. Wir ließen sie danach lange ausschlafen. Wird sie zu früh wach, ist sie sehr knatschig. Und dann aß sie.

Auszug aus dem Krankenhaus-Bericht: "Am 30.10.2012 erfolgte erstmals eine radiologische Verlaufskontrolle mittels MRT des Schädels. Dieses zeigte erfreulicher Weise keinen Anhalt für ein Rezidiv der Grunderkrankung, sodass wir nach einer ausreichenden hämatologischen Rekonstitution mit dem zweiten Therapiezyklus beginnen werden."

Kein neuer Tumor!

Überfahren



Rückblick: Ende Oktober 2012

Im Krankenhaus bekamen sie das Fieber schnell in den Griff. Bereits am zweiten Tag flitzte Vianne wieder über den Krankenhausflur. Es schien sie nicht zu stören, dass sie schon wieder hier sein musste. Vianne kriegte eine dreitägige Antibiose, denn ihr Immunsystem war geschwächt und sie hatte zudem einen Entzündungswert im Blut. Da wir in der Hektik kaum Spielzeug für das Krankenhaus eingepackt hatten, versorgten wir uns aus der "Spiele-Oase", den Krankenhaus eigenen Spielräumen. Das Lego-Duplo-Krankenhausset hatte es ihr besonders angetan. In unserem Zimmer (juchu, wieder ein Einzelzimmer) bauten wir alles auf. Seit ihrer Erkrankung spielte sie ganz oft Arzt, mal war sie der Patient, mal Ada. Einmal konnten wir beobachten, wie sie eine Playmobil-Krankenschwester in hohem Bogen aus ihrem Zimmer "pfefferte". Auch jetzt war sie ganz versunken in ihr Spiel. Ihr Püppchen (sie selbst) saß im Lego-Krankenwagen, unser Arzt, Dr. B, überquerte die Straße - und wurde von Viannes Krankenwagen äußerst rüde überfahren. Anschließend sprach sie mit verstellter Stimme: "keine Angst, sön (schön) ruhig liegen bleiben, ich mache dich wieder gesund, alles gut." Dann wurde Dr. B bzw. das entsprechende Püppchen in den Lego-Krankenwagen bugsiert und ins Lego-Krankenhaus gebracht. So, das interpretieren wir jetzt mal...

Nach den drei Tagen durften wir endlich wieder nach Hause, die Werte normalisierten sich langsam. Mittlerweile kannten die Ärzte und Schwestern meine Ungeduld und mein beharrliches Nachfragen und entließen uns frühzeitig am Morgen. Ich wollte so wenig Zeit wie möglich mit der kleinen Maus hier verbringen. Ein paar Tage später kamen auch schon Micha und die Kinder zurück aus Mallorca. Endlich wieder alle zusammen! Aber nicht für lange Zeit: am 24.10. 2012 startete das letzte Therapieelement des ersten Zyklusses: Carboplatin und Etoposid. Zusammengefasst war Vianne bisher vom 12.-15.9., vom 26.-30.9., vom 9.10.-13.10 sowie vom 14.10.-16.10. und demnächst vom 24.10.-27.10. stationär in der Klinik. Dazu kamen die regelmäßigen ambulanten Blutkontrollen. Alles in allem haben wir im ersten Therapiezyklus 21 Tage im Krankenhaus verbracht. So viel Zeit! Und dabei war das erst der Anfang, ohne schlimmere Vorkommnisse...


Von einer Welt in die andere



Rückblick:  Oktober 2012


Danke Marco! Wir alle blühten sichtlich auf, die Kinder erlangten einen Teil ihrer Unbeschwertheit zurück. Jeden Tag schrieben wir Vianne eine Postkarte, täglich telefonierte ich mit Micha und der Maus. Ich vermisste beide schrecklich. Ich packte meine Laufschuhe, drehte die Musik auf, lief vor mir davon und wieder zu mir zurück. Dann ging es wieder besser. Nach langer Zeit genoss ich das erste Mal wieder ein Glas Wein, in den letzten Monaten hatte ich mich nicht getraut, aus Angst, im Notfall nicht richtig, nicht schnell genug reagieren zu können. Aber jetzt sorgten gerade Micha, meine Eltern und etliche Ärzte für Vianne. Ich konnte loslassen.

Zum Ende der Woche wurde meine innere Unruhe immer größer. Ich spürte: “Ich muss nach Hause, ich muss zu Vianne.“ Wieder hieß es Abschied nehmen, dieses Mal von den übrigen Kindern, Andi und Ralf. Am schlimmsten fand ich, dass ich nicht an Jesses Geburtstag dabei sein konnte. Ich ließ eine Karte für ihn zurück. Dann fuhr ich nach Palma zum Flughafen. Ich war so durch den Wind, dass ich fast meinen Koffer im Mietwagen vergessen hätte. Ich wollte gerade den Autoschlüssel abgeben, als ich meinen Fehler bemerkte. Der Flug verging so langsam, ich wollte nur noch zu meiner Tochter, die am Vormittag mit Micha aus dem Krankenhaus gekommen war. Ich flog vom Dortmunder Flughafen förmlich nach Hause. Da war sie, so blass, so unglaublich blass in krassem Gegensatz zu meiner Urlaubsbräune. Ich schloss sie in die Arme und ließ sie nicht mehr los. Ich sehe sie noch genau vor mir, wie sie ruhig am Küchentisch sitzt und Aufkleber auf ein Blatt Papier klebt. Sie hatte tiefe Augenringe und ihr Gesichtchen hob sich kaum von der weißen Wand ab, dafür um so mehr von ihrem knallgrünen Oberteil. So zerbrechlich, so zart, so verletzlich. Micha, Vianne und ich schliefen die Nacht zusammen in einem Bett. Ganz früh am nächsten Morgen holte das Taxi Micha ab und brachte ihn zum Flughafen. Auch ihm fiel es unglaublich schwer, uns zurückzulassen. Es war erst 6 Uhr, Vianne wirkte unruhig. Ich strich ihr über das Köpfchen. Oh nein, sie war so heiß, zu heiß. Und sie war so ruhig, zu ruhig. Panik krabbelte in mir hoch wie eine widerliche Spinne auf dem Weg zu ihrem Opfer. Ich rief in der Klinik an. Da Vianne nur wenige Abwehrkräfte durch die Chemotherapie hat, müssen wir uns bereits ab einer Temperatur von 38 Grad Celsius im Krankenhaus melden, ab 38,5 Grad müssen wir sofort kommen. Vianne hatte weit über 39 Grad, und das am frühen Morgen. Bisher war Fieber für uns immer eine gesunde und natürliche Körperreaktion, nun hatten wir Angst vor dem Fieber, Angst davor, welche Keime, Bakterien, Viren sich in Viannes kleinem Körper ausbreiten könnten, ohne auf Gegenwehr zu stoßen. Die Ärzte hatten uns eindringlich darauf hingewiesen, dass einige Kinder nicht an ihrer Krankheit, sondern aufgrund der zerstörten Immunabwehr gestorben seien. Ich rief ein Taxi, schmiss das nötigste in eine Tasche und fuhr mit meiner Tochter auf dem Arm zurück in die Klinik.






Mallorca



Rückblick: Oktober 2012

Lange haben wir uns schwer getan, eine Entscheidung zu treffen. Aber nachdem wir sie getroffen hatten, ging es uns besser. Wir sind ohne Vianne nach Mallorca geflogen, allerdings in wechselnden Kombinationen. Die erste Woche flog ich gemeinsam mit Andi und den Kindern, während Micha bei Vianne blieb. Der nächste Krankenhausaufenthalt, der Chemo-Block mit MTX - stand an. Eine Woche später flog ich samstags allein zurück, Andi hielt gemeinsam mit Ralf, der in der Wochenmitte nachgekommen war, die Stellung. Micha flog ganz früh am Sonntagmorgen nach Mallorca, so konnten wir uns zumindest den Samstag austauschen. Ralf flog in der Mitte der zweiten Woche wieder nach Hause, Andi, Micha und die Kinder folgten am darauffolgenden Wochenende. Na, alles verstanden? So turbulent wie unsere wechselnden Kombinationen waren auch diese zwei Wochen. Und trotzdem: es tat gut, unglaublich gut. Es fühlte sich so lebendig an – das Meer, das Licht, die Luft.

Wir hatten Vianne vorher erklärt, dass ein Teil der Familie wegfahren würde. Wir wollten sie nicht anlügen. Gleichzeitig gaben wir ihr das Versprechen, dass wir mit ihr ans Meer fliegen werden, sobald es möglich ist. Seltsamerweise beschwerte sie sich gar nicht und wirkte auch nicht traurig, dass sie nicht mitkommen konnte. Beim Abschied musste ich mich stark zusammenreißen. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen! Micha machte mir Mut, verwies auf mein Bauchgefühl, das mir die ganze Zeit sagte, dass es die richtige Entscheidung sei.

Meine Eltern unterstützten die beiden zudem. Vianne war glücklich, dass sie Oma und Opa exklusiv für sich hatte. Aber wie sollte ich Urlaub machen, während meine kleine Tochter im Krankenhaus lag? Ich hielt mir vor Augen, dass ich im Notfall innerhalb weniger Stunden bei ihr sein konnte, falls nötig. Das beruhigte. Und den ersten MTX-Block hatte sie ja auch gut vertragen. Also ab ins Flugzeug. Trotz der Umstände packte mich das Reisefieber, dieses Kribbeln, das ich immer beim Aufbruch verspüre. In der Nacht ging es los, da wir ganz früh morgens ab Hannover flogen. Bereits gegen 7 Uhr landeten wir auf der Insel, holten unsere beiden Mietwagen und machten uns auf den Weg zu unserem Ferienhaus in Cala Llombards. Wir waren etwas geschafft, aber voller Vorfreude. Die Sonne lachte vom Himmel. Uns verging kurze Zeit später das Lachen, als wir unser Häuschen genauer unter die Lupe nahmen. Bei der Übergabe durch den Verwalter, Marco, einem netten Mann von den niederländischen Antillen, sah alles noch ganz passabel aus. Allerdings waren die Fensterläden noch zu. Bei genauerem Hingucken bemerkten wir, in welchem Dreckloch wir gelandet waren.

Die Betten waren nicht frisch bezogen, lange schwarze Haare auf dem Klodeckel, verschimmelte Kopfkissen, fettige Töpfe. Irgendwie roch das gesamte Haus nach Schimmel. Wir hatten fast Angst, dass uns die Wollmäuse auffraßen. Tapfer schlug meine Schwester vor, schnell ein paar Putzutensilien zu kaufen und die Bude auf Vordermann zu bringen. Aber wer mich kennt, weiß meine Antwort: „Auf gar keinen Fall!“ Ich rief umgehend Marco an, der sich wiederum mit dem belgischen Vermieter in Verbindung setzte. Danach gab’s ein ewiges Hin- und Her-Telefoniere. Scheiße, was heißt verschimmeltes Kopfkissen auf Englisch? Wenn’s mal wirklich darauf ankommt, fehlt einem das Alltagsvokabular, da hilft es auch nicht weiter, wenn man Shakespeare interpretieren kann. Der Vermieter nahm sich keiner Sache an, wurde pampig, ich bekam mein Geld wieder und wir verließen das Haus - und standen auf der Straße. Und nun? Zum Glück hatten wir Marco auf unserer Seite, der sehr hilfsbereit war, einer von vielen Menschen, die mich beeindruckt haben. Er war so uneigennützig liebenswert und strahlte dabei eine Lebensweisheit aus, die ich wohl nie erreichen werde. Den Kindern war mittlerweile heiß, sie hatten Hunger, quengelten. Marco schickte uns erst mal in ein nettes Restaurant - es war schon Mittag - nahm Kontakt zu einer weiteren Kundin auf und vermittelte uns zwei Ferienwohnungen in einer privaten Anlage in der Nähe. Eigentlich lagen die Wohnungen preislich über unserem Budget, Marco sorgte aber dafür, dass wir sie zum gleichen Preis wie unser Ferienhaus bekamen. Die Anlage war spitze!







Mein Geburtstag



Rückblick: 28. September 2012

Während des zweiten Krankenhaus-Aufenthaltes hatte ich Geburtstag. An solchen Tagen wird dir noch bewusster, wie sehr deine Welt aus den Angeln gehoben wurde. Micha löste mich am frühen Nachmittag im Krankenhaus ab, so dass ich meinen Tag Zuhause verbringen konnte. Ich machte mich auf den Heimweg, trennte mich nach einem Glas Sekt schweren Herzens von Micha und Vianne und setzte mich ins Auto. Ich fuhr und die Tränen liefen mir über das Gesicht. Es war mir so egal. Ich stand vor der Ampel, alles stand still und ich dachte, der Schmerz frisst mich innerlich auf, wenn ich mich nicht sofort vorwärts bewege. Ich fing an zu schreien, laut, bestialisch, außer Kontrolle, aus der Tiefe meiner Seele. Der Autofahrer auf der anderen Fahrbahnseite schaute irritiert. Danach ging es besser. Auf den Autofahrten, wenn ich für mich war, und während des Laufens vergoss ich häufiger Tränen und sammelte Kraft.

Ich hatte einen schönen Geburtstag, ruhig, anders, besinnlich. Andi und die Kinder hatten den Schokoküssen lustige Gesichter aus weißem Zuckerguss verpasst, eine gelb-grün-orangefarbene Girlande gebastelt und einen Napfkuchen für mich gebacken. Micha hatte einen wunderschönen Gartentisch mit dazugehörigen Bänken gezimmert, weiß der Geier, woher er dafür die Zeit genommen hatte. Ich glaube, er erwähnte später einmal ein paar Nachtschichten. Auf dem neuen Tisch lagen nun alle Präsente und viele liebe Briefe. Ich war gerührt. Zwei Tage später kamen dann auch Micha und Vianne aus dem Krankenhaus nach Hause.

Frühjahr 2014: „Meine liebe Vianne. Ich muss mich beeilen, mein Schatz, meine Erinnerungen verschwimmen langsam, verschwinden unaufhaltsam in der Tiefe, obwohl seit deiner Erkrankung noch nicht einmal zwei Jahre vergangen sind. Ich will nicht vergessen, ich darf diese Zeit nicht verlieren, bis ich sie für dich, für Ada, Luke und Jesse aufgeschrieben habe - für euer Leben. Ich liebe das Leben mehr denn je – unglaublich, aber wahr,  und ich hoffe, du wirst es ebenso empfinden, mein kleiner Engel, trotz aller Widrigkeiten. Ich habe so oft das Gefühl, versagt zu haben, auch jetzt noch. Was hätten wir mehr aus deiner Erkrankung ziehen können? Oftmals werde ich gefragt, was sich nach solch einer Erfahrung geändert hat. Was hat sich geändert in unserem Leben? Anfangs wusste ich keine Antwort darauf, oder meine Antwort hörte sich hölzern, blechern, konstruiert an. Aber es hat sich etwas geändert, ganz tief in mir. Ich spüre das Leben mit all seinen Schattierungen intensiver. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem du unsere Entscheidungen anzweifeln wirst. Vielleicht wirst du aufgrund der schweren Chemotherapie nie Kinder bekommen können. Wir werden dir unsere Entscheidung erklären. Nimm dein Leben und lebe, mein tapferer Schatz!“

Die Chemotherapien wurden zu unserem Alltag, wir lebten in einer zweigeteilten Welt: in der realen Welt und in der Krankenhaus-Blase. Diese Blase wurde zu unserem zweiten Zuhause  - und irgendwann real. Wir diskutierten mit den Schwestern, weil mal ein Medikament vergessen wurde, obwohl es gegeben werden musste, oder mal gegeben wurde, obwohl es nicht gegeben werden durfte. Einmal war das Zimmer nicht richtig desinfiziert, obwohl Vianne kaum Abwehrkräfte hatte. Besonders stark nahm sie das Carboplatin mit. Es zerstörte ihr Blut: ihre Blutgerinnung, ihre Abwehrkräfte, ihren Sauerstofftransport. Einen Tag hatte Vianne nur noch einen Hämoglobin-Wert von 4,8 (normal ist 12-15), in vielen Kliniken gibt es bereits bei einem Wert unter 6 eine Bluttransfusion. Aber unser Energiebolzen sprang zwar blass, aber munter den Krankenhausflur rauf und runter. Ein Arzt kam an uns vorbei. „Dann schauen wir uns gleich ´mal deine Blutwerte an, aber ich glaube, der HB ist noch ganz gut“, meinte er. Kurze Zeit später fiel er aus allen Wolken, als er die Zahlen sah. Unsereins wäre bei diesem niedrigen Wert glatt aus den Socken gekippt.

Wieder mussten wir eine schwere Entscheidung treffen. Bereits vor Viannes Erkrankung hatten wir für die Herbstferien Flüge nach Mallorca gebucht - für uns sechs. Aber Vianne konnte mitten in der Chemotherapie nicht mitkommen. sollten wir stornieren? Brauchten die übrigen Kinder nicht dringend eine Auszeit, Abstand? Auch unser Akku war bereits ziemlich leer, und uns stand noch ein langer zäher Winter, bepackt mit Chemotherapie, Krankenhausaufenthalten, Erkältungskrankheiten, Fieberattacken bevor. Also spielten wir mehrere Szenarien durch.







15. Juni 2016

Haarausfall



Rückblick: Ende September 2012

Ein paar Tage später zuhause. Meine Eltern kamen zu Besuch und gingen eine Runde mit den Kindern spazieren. Vianne saß in ihrem neuen Buggy, den wir auf der Rückfahrt von Kiel noch schnell besorgt hatten. Ada fand’s doof, dass sie laufen musste. Verständlich. Vianne konnte zwar wieder gehen, aber noch nicht so weit und nicht so schnell. Ziemlich betroffen kamen meine Eltern eine Stunde später wieder zurück, obwohl sie versucht hatten, sich nichts anmerken zu lassen. Im Kinderwagen-Verdeck klebten massenweise Haare. Es ging los. Die Chemo zeigte das erste Mal ihr wahres Gesicht. Obwohl ich wusste, dass sie ihre Haare verlieren würde, war ich innerlich geschockt. Vor Vianne vertuschte ich es. Es juckte sie überall, da die Haare im Nacken kitzelten oder im Gesicht klebten. Ich schluckte kurz: „Was hältst du davon, wenn wir Frisör spielen“, fragte ich meine kleine Maus. Vianne fand den Vorschlag gut. Also holte ich schnell Kamm und Schere, legte ihr ein Handtuch über die Schultern, setzte sie auf einen Drehstuhl und kürzte die verbliebenen blonden Löckchen. Es stand ihr gut. Sie verlor anfangs nicht alle Haare, auch wenn sie deutlich lichter wurden. Aber sie war meiner Vianne noch immer sehr ähnlich. Wir erklärten ihr, dass die Chemo-Ritter in der Hitze des Gefechts nicht nur die doofen Zellen  kaputtmachen, sondern manchmal auch ein paar gute erwischen, so auch die Haarwurzeln. Meine Schwester hatte uns kindgerechte Märchenbücher über die Chemotherapie von der Deutschen Kinderkrebsstiftung mitgebracht. „Prinzessin Luzie und die Chemo-Ritter“ und das Geschwisterbuch „Prinz Daniel und seine kranke Schwester Luzie“ wurden zur bevorzugten Lektüre von Ada und Vianne. Toll, dass es auch ein Buch aus Sicht des Geschwisterkindes gab, da hatten sich die Autoren wirklich Gedanken gemacht. Nach außen hin wirkten Luke, Jesse und Ada stabil. Aber ab und zu blitzte ihre wirkliche Gefühlslage durch. Jesse weigerte sich beharrlich, Vianne im Krankenhaus zu besuchen. Er verdrängte. Luke schien in der Schule noch abwesender als sonst zu sein. Ada wollte Vianne nicht mehr allein lassen, wollte immer dabei sein, konnte sich nicht gut von uns trennen. Neben der Chemotherapie hatten wir noch weitere Untersuchungen im Krankenhaus: es wurde ein Ultraschall und ein EKG vom Herzen gemacht, regelmäßige Augenuntersuchungen und Hörtests standen an, die Hirnströme wurden gemessen. Mit Mundschutz machten wir uns auf den Weg in die einzelnen Abteilungen. Dort war es immer rappelvoll. Viele Erwachsene betrachteten Vianne traurig. Vianne hatte zwar oftmals Angst, machte aber immer gut mit und verzauberte durch ihre Art. Wir mussten zum Glück meistens nicht lange warten, bevor es hieß: „Emma, kommst du mit?“ „Sie heißt Vianne“, hörte ich mich immer öfter sagen. Es war Zeit, dass alle ihren wahren Namen im Gedächtnis behielten.

Chemo: 2. Runde



Rückblick:  Mitte September 2012


Am nächsten Tag setzte ich unsere beiden Mäuse in den Fahrradanhänger und wir drehten eine kleine Runde an der Ruhr entlang, machten am Wasser Pause und ließen uns von der Herbstsonne verwöhnen. Wir nutzten Stöcke als Angeln und versuchten, winzig kleine Fische aus der Ruhr zu fischen. 

Alltägliche Dinge wurden plötzlich zu etwas Besonderem. Schon in Kiel hatten wir gemeinsam mit Vianne eine Liste von Dingen erstellt, die sie gerne unternehmen und erleben will: durch Pfützen hüpfen, Schiff fahren, ein Plüschreh kaufen, reiten gehen, im Schwimmbad planschen, wieder den Kindergarten besuchen - was für kleine kindliche Wünsche. Wir versuchten so viel wie möglich in die Tat umzusetzen. Die nächsten Tage waren erst einmal mit Krankengymnastik und Kontrollterminen in der Kinderklinik ausgefüllt. Aber diese Termine gaben mir Sicherheit. Ich konnte etwas tun. Ich konnte dieses Scheißding in ihrem Kopf bekämpfen. Jeden Abend vor dem Einschlafen legte ich meine Hand auf ihren Kopf und stellte mir vor, wie all meine Kraft in sie floss.
Mit dem Zauberwirbel, ein Strudel aus allen Farben des Regenbogens, wollte ich jede kleinste entartete Zelle hinwegfegen. Wir hatten anderthalb Wochen, bevor wir mit Vianne wieder stationär ins Krankenhaus mussten. Welch kostbare Zeit. Dieses Mal sollten wir voraussichtlich fünf Tage bleiben, da beim MTX vorgewässert wird, um die Nieren möglichst zu schützen. Also erschienen wir nicht erst Mittwochmorgen in der Klinik, sondern bereits am Dienstagmittag. Zuvor machten Vianne und ich einen „Mädelsausflug“ in die Dortmunder City. Wir trieben uns Ewigkeiten im Spielzeugladen herum, tranken bei Star Bucks Karamell-Kaffee und heiße Schokolade und alberten und kicherten so laut, dass uns die Leute anschauten. „Hey, sie darf das, sie lebt," wollte ich ihnen am liebsten entgegenschleudern.

Danach schauten wir uns Kleidchen an, kauften süße Ski-Handschuhe, die noch zwei Nummern zu groß waren und dinierten mittags in einem schicken Restaurant. Auf das Krankenhausessen hatten wir beide keine Lust. Zum Glück konnten wir wieder auf meine Familie zurückgreifen. Micha und ich teilten uns die Krankenhausbetreuung auf. Am Freitag-Nachmittag wollte er mich ablösen, damit Vianne ihn zu Gesicht bekommt (und die übrigen Kinder mich). Zwischendurch kam Micha nach der Arbeit immer kurz zu Besuch und brachte jedes Mal eine kleine Überraschung mit. Unsere Zeit der Lillefee-Hefte begann. Auf der Station deckten wir uns mit Spielzeug aus der „Spiele-Oase“  des Krankenhauses ein. Vianne fand es gut. Es schien sie nicht groß zu stören, wieder mit mir ins Krankenhaus zu fahren. Was für ein Segen, dass sie noch so klein war und ihr das Verständnis für diese lebensbedrohliche Erkrankung fehlte. Sie machte sich keine Sorgen um die Zukunft, denn den Begriff Zukunft gab es in ihrem kindlichen Denken noch nicht. Nur das Hier und Jetzt zählte - bewundernswert. Das Krankenhaus hatte auch etwas Abwechslung zu bieten. Am Dienstag kamen immer die Clowns auf Station, an anderen Tagen waren die Kunst- oder die Musiktherapeutin da und vormittags sorgte die Erzieherin für Unterhaltung. Ab und zu unterhielt ich mich in der Stationsküche mit anderen Eltern, aber es war niemand dabei, auf den ich mich näher einlassen mochte. Irgendwie gingen die Tage wieder schnell rum. Denn Vianne hielt uns gut auf Trab mit Vorlesen, spielen, kitzeln. Es ging ihr weiterhin gut. Das Methotrexat (MTX) ist dafür bekannt, dass es die Schleimhäute angreift. Die Ärzte hatten uns darauf vorbereitet. Aber Viannes Mundschleimhaut scheint äußerst zäh zu sein - sie hatte keine größeren Probleme und aß ohne Schmerzen, zwar nicht so gut wie zuhause, aber sie aß. Sie brauchte alle Kräfte für die langwierige Therapie.


Runde 1 geschafft!



Rückblick: 13./14. September 2012

Vianne machte jeden Tag - dank des wieder eingeführten Schnullers, ein ausgiebiges Mittagsschläfchen, und auch abends schlief sie spätestens um 20 Uhr. Ich hatte viel Zeit für mich. Ich las, organisierte, schlief, telefonierte. Trotzdem war alles so befremdlich. Während ich mit Vianne im Krankenhaus war, wechselten sich meine Eltern und meine Schwester mit der Kinderbetreuung zu Hause ab, so dass ich den Rücken frei hatte. Zudem hatte Micha für einen Tag die Woche ein Home-Office genehmigt und eingerichtet bekommen - was für ein verständnisvoller Arbeitgeber.

Die Eintrittswunde des Broviak-Katheters war zwar gerötet, verheilte ansonsten jedoch gut. Nur der Pflasterwechsel war eine Tortur. Mit dem Pflasterlöser ging es dann aber doch ganz gut. Unser Arzt war klasse. Wir nennen ihn insgeheim den Vianne-Flüsterer (in Anlehnung an den Pferde-Flüsterer). Er setzte sich mit Vianne auf die Behandlungsliege - hinlegen wollte sie sich seit den Operationen nicht mehr - und ging ganz behutsam auf sie ein. Irgendwann  flüsterte sie, und er flüsterte zurück. Es sah so behutsam und vertraut aus, dass mir vor Dankbarkeit die Tränen kamen. Dann ließ sie sich den Pflasterlöser aufsprühen. Das alte Pflaster löste sich problemlos, nach der Säuberung kam ein neues auf die Wunde. Vianne wollte nie hinschauen. Samstagmorgen durften wir nach Hause! Endlich! Nummer eins von 16 Durchgängen war geschafft. Es tat so gut, alle Kinder und Micha wieder um mich zu haben. Vianne und Ada fielen sich in die Arme. „Argh! Achtung, der Broviak!“, rief ich.  Etwas Angst hatten wir davor, wie es mit dem Broviak klappen würde. Ada war schließlich auch erst drei Jahre alt. Wir erklärten ihr eindringlich, dass sie auf gar keinen Fall an dem Schlauch ziehen durfte, auch nicht im Streit. Vianne war schon immer ein sehr bewegungsfreudiges Kind gewesen. Auch jetzt ließ sie sich nicht beirren. Aus Angst, dass sie sich den Schlauch aus Versehen selbst herausreißt, bremsten wir sie andauernd und gerieten damit ständig unter Druck. „Vorsicht, geh langsam die Treppe runter“, oder „Nicht auf den Bauch legen, Schatz“, oder „Achtung, nicht so nah an Vianne, wenn ihr rangelt“. Ich konnte mich schon nach einer Woche nicht mehr hören, denn das war nicht ich. So wollte ich auch nie werden, so eine übervorsichtige, bemutternde Glucke, die immer gefüllte Tupperdosen parat hält und ständig um ihr Kind herum turtelt.


                                                              

Zellgift



Rückblick: Mittwoch, 12. September 2012 - später


Jetzt also war der Moment gekommen: das erste Mal floss das Zellgift in ihren kleine Körper. Ich sah wieder die kahlköpfigen, blassen, würgenden Kinder vor meinem inneren Auge. Kamillentee, wo bist du? Aber jetzt gehörten wir zu einem Kreis, zu dem wir nie gehören wollten. Wir hatten ein krebskrankes Kind. Hier der Behandlungsplan in der Übersicht: Insgesamt hat Vianne fünf verschiedene Chemotherapeutika bekommen, aufgeteilt in 5 Zyklen à 4 Blöcken. Im 1. Block wurden Cyclophosphamid (an drei aufeinanderfolgenden Tagen, jeweils für 1 Stunde) und Vincristin (Tag 1, als Spritze) verabreicht, nach 2 Wochen folgten im 2. Block Methotrexat (24-Std. Infusion, das Gegenmittel musste nach Stunde 42

verabreicht werden) und Vincristin (Tag 1), nochmals zwei Wochen später im 3. Block wieder Methotrexat und Vincristin und zwei Wochen später im 4. Block schließlich Carboplatin (Tag 1-3, ca. einstündige Infusion) und Etoposid (Tag 1-3, ca. halbstündige Infusion). Drei Wochen nach der letzten Gabe aus dem ersten Zyklus folgt der zweite und wiederum drei Wochen später der dritte Zyklus. Zyklus 4 und 5 sind anders aufgebaut. Dort fallen die beiden Methotrexat- und Vincristin-Gaben in der Mitte weg, so dass zwischen der

Cyclophosphamid/ Vincristin-Gabe und der Carboplatin/Etoposid-Gabe drei Wochen Pause liegen. So die Theorie. Laut Plan dauert die gesamte Chemotherapie 39 Wochen. Laut Plan… 

Das Cyclophosphamid wurde nun zum ersten Mal verabreicht, eine Stunde lief die Infusion über den Broviak-Katheter. Dazu gab es am ersten Tag Vincristin, welches zeitverzögert gespritzt wurde, damit man im Notfall sehen kann, auf welches Medikament das Kind reagiert. Gruselig. Ich behielt Vianne die ganze Zeit über im Auge. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber nicht das: es tat sich nach außen hin gar nichts. Kein Weinen, keine Schweißausbrüche, keine Müdigkeit, keine Übelkeit! Vianne wirkte wie immer, abgesehen von der Broviak-Wunde. Mir war zwar klar, dass die Wirkung zeitverzögert eintreten würde, doch ich traute „dem Braten“ trotzdem nicht. Aber auch nach den nächsten Infusionen am nächsten und übernächsten Tag zeigte Vianne keinerlei Symptome. Durch die ständige Wässerung, an der sie angeschlossen war, musste sie nur häufiger auf’s Töpfchen. Es war leichter das Töpfchen zu benutzen, als mit dem sperrigen und schlecht rollenden Infusionswägelchen die Toilette aufzusuchen. Und wenn Dreijährige müssen, dann müssen sie sofort. Na ja, wir haben es nicht immer rechtzeitig geschafft. Aber wir wurden immer besser. Auch in der Nacht stand ständiges Windelwechseln an, ansonsten gab’s eine Überschwemmung. Seltsam: Irgendwann boten die Nachtschwestern an, das Windelwechseln zu übernehmen.

In unserem Einzelzimmer fühlten wir uns einigermaßen wohl. Zuvor hatte ich Schwester B. gefragt, ob wir ein Einzelzimmer haben. „Ja, sie sind mit Vianne allein, aber das können wir nicht immer garantieren.“ „Ich kann nicht in ein Mehrbettzimmer“, brachte ich mit kehliger Stimme zustande, während ich merkte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. In der Hinsicht bin ich echt eine Mimose, ich brauchte die Zeit für meine Tochter und mich allein.