Echtzeit! 10. September
2014
Wir
laufen herum wie Zombis. Ich habe mich entschlossen, arbeiten zu gehen. Ich
brauche Normalität um mich herum. Ich reiße mich förmlich um den Pressetermin
am Vormittag, halte Smalltalk mit den Leuten vor Ort, mache Fotos von der neuen
Kanustrecke, überarbeite die Pressemitteilung. Es funktioniert.
Ada
und Vianne wollten in den Kindergarten, Luke ist in der Schule, Jesse beim
Schülerpraktikum. Micha übernimmt die schwere Aufgabe, die Kindergärtnerinnen zu informieren (ich kann
das heute nicht). Sie müssen gut auf Vianne achten. Das Scheißding ist in nur
acht Wochen gewachsen, auf den letzten Aufnahmen war noch nicht einmal ein
Schatten zu sehen. Wir müssen aufpassen, dass das Rückenmark nicht gequetscht wird,
wenn der Tumor in der Geschwindigkeit weiter wächst. Momentan ist der Druck
noch nicht so groß, aber
falls Vianne plötzlich Symptome zeigen sollte, muss sie unverzüglich operiert
werden. Am Nachmittag - Vianne war mit Andi und Ada beim Kinderturnen!?! -
haben wir einen Gesprächstermin mit den Dortmundern. Ich vertraue ihnen. Wir
legen es in ihre Hände, wir können nicht mehr. Sie sollen Empfehlungen
herausgeben. Sie machen ihre Arbeit sehr gut, haben bereits gestern am späten
Abend viele Dinge in die Wege geleitet, sich vernetzt mit den entsprechenden
Fachbereichen. Es besteht vielleicht die Möglichkeit, Vianne als Patientin in
einer bestimmten Studie aufzunehmen, die sich ganz vielversprechend
anhört. Sie haben die MRT-Bilder komplett ausgewertet. Das Köpfchen ist
tumorfrei. Die Empfehlung: schnellstmögliche Operation an der Wirbelsäule,
sofortige Temodal-Gabe (orale Chemotherapie) nach Rücksprache mit dem
Neurochirurgen, mit dem wir am Freitag einen Termin haben. Sie wollen grünes
Licht, dass sich Chemo und Operation nicht beeinflussen. Es geht mir langsam
etwas besser.
Micha
und ich schmusen abends lange mit den Kindern im Bett. Der Zombi in uns
schwindet langsam, das Gefühl kehrt zurück. Wir laufen zwar auf wackligen
Beinen, aber wir laufen. Jesse, Luke und Ada wanken. Vianne weiß, dass der
Tumor zurück ist. Sie ist schlau und wir machen ihr nichts vor. Sie ist stärker
als ich. Gestern hat sie zu mir gesagt, ich solle aufhören zu weinen, es sei
alles nicht so schlimm. "Doch, es ist schlimm", gab ich ihr zur
Antwort. "Wir müssen vielleicht wieder häufiger ins Krankenhaus und wir
müssen dich operieren lassen." Ihre Antwort: "Im Krankenhaus ist es
doch gar nicht so schlecht! Soll ich dich noch einmal küssen, dann geht es dir
besser." Sie ist fünf Jahre alt!
Die
nächsten Tage knüpfe ich wieder an 2013 an. Die Zeit fließt unaufhaltsam
weiter, ich würde sie gerne für eine kurze Verschnaufpause anhalten. Aber das
geht nicht. Also werde ich mich beeilen.