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22. Dezember 2016

Echtzeit! Legoland und Kopfschmerzen

Dienstag, 28. April 2015


Von Freitag bis heute ist schon wieder so viel geschehen, dass ich kaum mit Schreiben nachkomme.  Freitagmorgen machten wir uns ohne Hektik auf Richtung Ulm. Oma, Opa, Andi und Ralf wollten erst mittags losfahren. Nach der Hälfte der Strecke legten wir eine lange, lustige, sonnige und ausdauernde Pause bei lieben Freunden in Oftersheim ein. Ada und Vianne spielten ausgiebig und durften gemeinsam mit ihren Brüdern kleine Überraschungen auspacken, die M. und P. bereithielten. Wir hätten noch Ewigkeiten in der Sonne auf der Terrasse sitzen bleiben können, es war so schön, es war so normal. Aber wir wollten schließlich nicht zu spät in unserer Ferienunterkunft ankommen. 170 Kilometer vor Ulm holte uns unsere Realität mit aller Brutalität ein. Vianne saß blass in ihrem Autokindersitz. Plötzlich fing sie an zu weinen. "Mein Kopf tut weh." Besorgt drehte ich mich immer wieder zu ihr um. Wir hatten vorher vereinbart, sie solle uns anhand der Finger zeigen, wie doll der Kopf schmerzt. Fünf heißt viel, eins wenig. Sie hielt fünf Finger hoch. Micha und ich wurden hektisch. Auf zum nächsten Parkplatz, raus aus dem warmen Auto. Plötzlich fing Vianne an zu schreien: "Mein Kopf tut weeeeeeeh!" Sie streckte uns beide  Hände entgegen. Panik keimte auf. Was tun? Unzählige Gedanken schossen in sekundenschnelle durch meinen Kopf, während mich die Angst im Würgegriff hatte: Parkplatz? (Da, ein Schild, in vier Kilometern - endlich!) Schmerzmittel? (Parat!) Kühlen? (Ja). Notarzt? (Noch nicht). Vianne schrie weiter. Ada hielt sich die Ohren zu. Luke versteckte sich unter seinem Pulli. Endlich, der Parkplatz. Ich kramte das Schmerzmittel hervor. Micha nahm Vianne auf den Arm und stellte sich in den Schatten. Ich wies Jesse an, ein T-Shirt zu befeuchten. Er kippte die Wasserflasche darüber. Den kühlen Wickel legte ich Vianne auf die Stirn, in den Nacken. Wir gaben ihr den Schmerzsaft, den sie trotz der Schmerzen erst nicht nehmen wollte. Nach unzähligen Minuten hörte Vianne auf zu schreien. Ich nahm sie Micha ab, er holte das Auto näher heran und ich setzte mich mit ihr bei geöffneter Tür auf den Sitz. Sie wurde ruhiger und signalisierte, dass die Kopfschmerzen nachlassen. Wir entschieden, weiter zu fahren. Hier konnten wir nicht mehr viel ausrichten. In Ulm gab es eine gute Klinik. (hatte Dr. B. vorher erzählt). Ich nahm Vianne auf den Schoß. Nach wenigen Minuten schlief sie ruhig in meinen Armen ein. Verkrampft harrte ich mit ihr die restliche Fahrt aus. Luke schaute mich verstört an. Bitte keinen Stau, bitte keinen Stau hämmerte es durch meinen Kopf. Wir hatten Glück. Je näher wir unserem Ziel kamen, desto

ruhiger wurde ich. Erst als die Angst langsam verebbte, merkte ich, wie müde ich war. Wie sollten wir Geburtstag feiern, wenn das Sterben so nah rückt?

Wir hatten zwei nebeneinander liegende Ferienwohnung direkt am See in der Nähe des Legolandes gebucht. Die Unterkünfte gehörten zu einem kinderfreundlichen Bauernhof mit riesiger Spielscheune, Streichelzoo, "Caruso" (Hahn) und seinen Damen, Pferden und Ponys, auf denen die Kinder reiten durften. Als wir ankamen, wurde Vianne wach. Die Kopfschmerzen waren wie weggewischt. Fast zeitgleich kam der Rest der Familie an. Wir erzählten nichts. Dafür eroberten wir gemeinsam die Spielscheune, fielen von der Slagline, hüpften Trampolin, tranken ein gemeinsames Willkommensgetränk, holten Grillfleisch, teilten die Zimmer auf. Opa und ich lieferten uns ein heißes Kickerturnier gegen Ralf und Jesse - und verloren. Die Angst war fürs Erste vertrieben: Adas und Viannes Geburtstag konnte kommen.

Schon um Viertel nach sechs holte uns Vianne aus dem Bett und grinste uns an. Der Tag erwachte gerade. Wir bauten eine große Frühstückstafel auf, mampften Geburtstagskuchen, während die Damen etliche Geschenke auspackten. 
Sie wussten noch nichts vom Legoland-Besuch. Gegen halb 11 waren schließlich alle startbereit. Die Geburtstagsmäuse hatten noch immer keine Ahnung, wohin es ging. Erst als sie die riesigen Lego-Bausteine auf dem Hügel ausmachten, kam die Erkenntnis. Wir verbrachten einen tollen Tag zwischen Wasserbahn, riesigen Lego-Elefanten, im Land der Pharaonen und der Piraten. 

Zudem lief auf der Freilichtbühne noch ein Bibi-Blocksberg-Musical, zu dem die Mädels begeistert im Takt klatschten. Unsere nun Sechsjährigen trugen stolz einen großen Legoland-Geburtstags-Button auf ihren Jacken. An jeder Attraktion gratulierte ihnen freundlich ein Mitarbeiter. Sie waren so stolz. Ada und Vianne wollten mit uns in die Wasserbahn. Vom Picknickplatz hatten wir im Vorfeld beobachtet, wie die Boote unter lautem Gekreische der Mitfahrenden den Wasserfall hinunterplatschten und eine riesige Fontäne verursachten. Kurz vorm Einstieg wurden sie dann doch ein wenig nervös: "Ich habe ein kleines bisschen Angst", flüsterte mir Vianne zu. "Ich bin auch etwas aufgeregt, Süße. Sollen wir wieder umkehren?", fragte ich sie. "nee, nee“, meinte sie nur und schüttelte ihr Köpfchen. Die Fahrt war toll. Als wir am Ausstieg ankamen, rief Vianne voller Inbrunst: "Noch einmal!!! Der Parkmitarbeiter lachte, sah ihren Geburtstags-Button und meinte: "Ein Geburtstagskind! Ja dann bleib sitzen, dann darfst du gleich noch eine Runde." Vianne strahlte - und wir mit ihr. Müde, aber glücklich fielen unsere Geburtstagsmäuse am Abend in einen tiefen Schlaf.

Am nächsten Morgen wachte Vianne mit Kopfschmerzen auf, die wir aber in den Griff bekamen. Uns graute vor der Fahrt - aber alles ging dieses Mal gut. Wieder verbrachten wir eine entspannte Pause bei M. und P. - dieses Mal mit der gesamten Familie: DANKE, ihr Lieben!

Am Montagmorgen wollte Vianne unbedingt mit in den Kindergarten und dort Geburtstag feiern. Ich gönnte ihr schweren Herzens diese drei Stunden. In der  Nacht erbrach sie sich in ihr Bett, hatte Kopfschmerzen. Wir holten sie zu uns. Am Morgen wurde sie mit Kopfschmerzen wach. Sie spuckte erneut. Um halb 10 Uhr sollten wir zur Lumbalpunktion in der Klinik sein. "Vianne geht es nicht gut", informierte ich gleich die Schwestern bei der Ankunft. Ein Arzt untersuchte sie. Sie war unglaublich schläfrig. Wir beschlossen, die Lumbalpunktion (von der Studie gefordert) sein zu lassen. Was sollte sie bringen? Sobald sichtbare Tumormanifestationen als Metastasen vorhanden sind, muss man nicht mehr nach Mikropartikeln im Hirnwasser schauen. Somit kamen wir um eine Sedierung herum. Bis zur MRT am späten Nachmittag hatten sie schon ein Zimmer für uns bereitgehalten. Ich legte Vianne ins Bett. Sie schlief stundenlang. 

Irgendwann kamen unsere Ärzte ins Zimmer. Wir besprachen das weitere Vorgehen und sie empfahlen erst einmal eine kontinuierliche Schmerzmittelgabe - um Vianne diese schlimmen Kopfschmerzattacken zu ersparen, sie gar nicht erst aufkommen zu lassen. Der Brechreiz wird wahrscheinlich von dem Tumor im Hirnstamm ausgelöst. Vianne wird müder werden. K., die Kunsttherapeutin saß lange Zeit bei mir, während wir die schlafende Vianne betrachteten. Die Tränen kamen. Mittags kam Micha zu uns. Vianne wachte auf - es ging ihr gut. Wir gingen hinaus ins Freie, kauften etwas beim Bäcker. Gemeinsam mit anderen Kindern spielte Vianne das Hämmerspiel auf Station, später kam die Musiktherapeutin mit ihrer Gitarre und sorgte für lustige Momente. 

Um 16.30 Uhr startete die MRT-Untersuchung. Vianne war sehr zappelig, so dass einige Sequenzen erneut gefahren werden mussten. Wir brachen vorzeitig ab, weil Vianne "überhaupt keine Lust mehr" hatte. Dann fuhren wir nach Hause. Vianne kicherte viel, machte Quatsch und zog sich andauernd die Mütze über ihr Gesicht. "Du siehst ja aus wie ein rosa Punktemonster", scherzte ich. "Mama, ich bin eine rosa Punkteelfe", sagte sie kichernd. MRT-Ergebnisse gibt es erst morgen.














Echtzeit! Fortsetzung: Tiefer Fall



Donnerstag, 23. April - nachmittags:


Im schlimmsten Fall habe ich mir ausgemalt, dass der Resttumor im Kopf in der Zwischenzeit gewachsen ist, schließlich haben wir dort nicht therapeutisch behandelt, während der kleine Bereich am Rücken bestrahlt wurde. Aber ich erhoffte mir zumindest eine kleine Wirkung durch den energetischen Heiler. Dass aber nicht nur der Resttumor merklich größer geworden ist, sondern sich zudem in diesem kurzen Zeitraum drei weitere Tumore gebildet haben, hat mich förmlich umgehauen. Wie geht man mit so einer Nachricht um: gar nicht. Ich war dermaßen schockiert, dass ich kaum handlungsfähig war. Die Psychologin betreute Vianne, während ich mir die verheerenden MRT-Bilder am Monitor anschaute. Wie groß die grauen Flecken bereits aussahen, wie deutlich sie zu erkennen waren. Sie müssen seit Februar gewachsen sein. "Wir haben gerade einmal April", fuhr es mir durch den Kopf. So schnell! So viele! Wir wollten ins Legoland, wir wollten Geburtstag feiern und uns erst am Montag (also heute) der MRT-Wahrheit stellen. Und nun? "Wenn sie wollen, können sie ruhig fahren", sagte Dr. B. Aktuell sei Vianne nicht gefährdet. Ich konnte es kaum glauben und fragte deshalb noch mal nach. Ich hatte mich nicht verhört. Ja, wir wollten dorthin und ich war ehrlich gesagt erleichtert, dass von medizinischer Seite keine Einwände bestanden.

Dr. B. nahm sich unglaublich viel Zeit, Zeit, die ich dringend brauchte, um auch nur ansatzweise das Gehörte zu verdauen. Vianne spielte scheinbar unbekümmert mit der Psychologin im Spielzimmer. Ich saß da mit Tränen in den Augen, mit Tränen auf den Wangen, mit verrotzter Nase - in einem Zustand, in dem man nicht unbedingt gesehen werden will, in dem man sich am besten ganz tief unter der Bettdecke verkriechen möchte. Aber eigentlich war es so egal.... Irgendwie kann ich mich nur noch schleierhaft an diese paar Stunden am Nachmittag erinnern. Ich weiß noch, dass ich nach Zeit fragte. Wie viel Zeit wir hätten, wann es mit den richtig üblen Auswirkungen losgehen würde, was wir zu erwarten hätten? Irgendwas von sechs bis acht Wochen geistert mir durch den Kopf, Dinge wie "es kann sein, dass sie irgendwann ihre Spucke nicht mehr schlucken kann." "Ich weiß nicht, ob ich das aushalten kann", stöhnte ich auf - mehrmals. Die Tür ging auf, Vianne hüpfte in den Raum. "Mama, guck mal, ich habe mir einen bunten Saft gemixt", rief sie erfreut. "Möchtest du auch einen?" Sie schaute mich erwartungsfroh an. Das "Fruchtalarm-Team" war gerade auf Station. "Welche Sorten magst du?", wollte sie wissen. Ich dachte nach, welche Fruchtsorte ich eigentlich mochte. Mir fiel keine ein. Ich nannte ihr irgendeine. Mir war schlecht. Die Tür schloss sich wieder. Wir sollten noch am selben Tag mit dem neuen Medikament beginnen: Erivedge. Die Krankenkasse hatte sich noch nicht abschließend zur Kostenübernahme geäußert, der Verein "Ein Herz für Kinder" wollte im Falle einer Absage erst einmal übernehmen. Aber wir hatten ja noch keine Absage. Dr. B. leitete alles in die Wege, klärte, telefonierte - ich hätte nicht mehr die Kraft dazu gehabt. Am Abend konnten wir das Medikament aus unserer Apotheke abholen. Zudem spannte das Klinikum ein Hilfsnetzwerk um uns. Über den sozialen Dienst wird eine Kinderkrankenschwester organisiert, die zu einem nach Hause kommt und anleitet und unterstützt, später dann ein Palliativdienst. Das Sterben mit all seinen Begleitern rückt plötzlich so nahe. Zu nah. Mein erster Gedanke war, dieses Netzwerk abzuweisen. Nicht, weil wir es nicht brauchen, nicht, weil wir es nicht gut finden, sondern weil wir es einfach nicht ertragen, weil wir den Gedanken an das wohl Kommende nicht ertragen.

Irgendwann machte ich mich auf den Heimweg. Vianne wirkte so normal. Ich fand es an der Zeit, mit ihr zu sprechen. Sie wurde in wenigen Tagen sechs Jahre alt. Wenn jemand ein Anrecht auf die Wahrheit hat, dann sie. Sie hatte mich verzweifelt gesehen - was sollte ich ihr auch vormachen? Ich sagte, dass ich unglaublich traurig sei, weil nicht nur der Resttumor in ihrem Kopf gewachsen sei, sondern noch ein paar weitere. "Hat der freche Wicht Kinder gekriegt?", wollte sie wissen. "Ja, viele", antwortete ich. Ich fragte sie, ob sie noch einmal ein Medikament ausprobieren wolle, mit dem wir den frechen Wicht vielleicht noch etwas aufhalten und im besten Fall sogar besiegen können. Mir war es wichtig, sie in die Entscheidung einzubeziehen. Sie hatte schon beim Temodal geschrien, dass wir sie nicht dazu zwingen können, die Tablette zu schlucken. "Nein, ich will nicht", sagte sie bestimmt. Ich erklärte, dass es aber sehr wichtig sei, das  Medikament auszuprobieren. "Warum?", fragte sie. "Weil du sonst sehr  wahrscheinlich sterben wirst", sagte ich äußerlich betont ruhig, aber innerlich nach Fassung ringend. Sie hingegen wirkte vollkommen gefasst. "Gut, dann überlege ich es mir noch einmal." Während der restlichen Fahrt war sie sehr  ruhig, nicht wirklich beunruhigt, sie schien nur sehr nachdenklich. "Und?", hakte ich später nach mit dem Hinweis, dass wir wenn noch heute starten müssten. "Na gut", meinte sie leicht genervt. "Komm, wir schaffen das, wir geben nicht auf", keimte kurz der gewohnte Kampfgeist in mir auf, "ich will nicht, dass der freche Wicht gewinnt. "Mama, das wollte ich nur von dir hören", grinste mich die Maus an.

Micha hatte zu Hause die Stellung gehalten, als ich in der Klinik war. Er ahnte schon, was kommen würde. Ich erzählte ihm schweren Herzens von den neuen Ergebnissen. Wir sagten allen Kindern die ganze Wahrheit - dass Vianne wahrscheinlich sterben wird. Um sie zu schützen - vor dem, was noch auf sie, auf uns alle zukommen wird. Je eher sie sich an den Gedanken gewöhnen, desto besser. Wir wollen uns nicht mehr an die Hoffnung klammern. Wir haben nicht aufgegeben, wir sind es nur leid, immer wieder tief zu fallen. "Aber ich kann nicht ohne Vianne spielen", meinte Ada leise...

Micha und ich beschlossen, am nächsten Tag mit den Kindern Richtung Legoland zu fahren. Die Ferienwohnungen waren gebucht, die Tickets bestellt. Wir sagten der restlichen Familie erst einmal nichts von den MRT-Aufnahmen - das hatte Zeit bis nach der Geburtstagsfeier. Noch am Donnerstagabend packten wir ein paar Sachen zusammen, klärten die Katzenbetreuung und verschlossen unsere Ängste. Freitagmorgen ging es los...


Echtzeit! Tiefer Fall



Sonntag, 26. April 2015

Auf das Hoch vom vergangenen Mittwoch ("Leichtigkeit") folgte ein tiefer Fall - nur wenige Stunden nach dem letzten Eintrag. Es fällt schwer, all die  Geschehnisse der letzten Tage in Worte zu fassen. Es ist so viel so schnell passiert. Unser und Viannes Leben gleicht immer mehr einer Achterbahnfahrt - und nach zu vielen Runden wird es einem verdammt übel...es tut mir so leid, dieses Mal keine gute Nachricht geben zu können. "Es" beginnt, obwohl sie so sehr gekämpft hat, obwohl wir so sehr gekämpft haben, obwohl uns so viele
positive Gedanken begleitet haben...
Donnerstag, 23. April - morgens: Vianne wird wach. Sie ist blass, sie ist müde, sie hat Kopfweh - wie so oft in den vergangenen Tagen. Nur das ihr Kopf an diesem Morgen stärker schmerzt als sonst. "Mama, ich möchte mich wieder hinkuscheln, mit dir", bittet sie mich. Meine Warnlichter gehen an. Micha und die Jungs sind schon weg, Ada ist noch nicht im Kindergarten. "Mir ist irgendwie übel", sagt sie leise. Kurze Zeit später würgt sie - auf nüchternen Magen. Ich versuche meine Angst in den Griff zu kriegen, Bilder aus den Bestrahlungstagen in der Schweiz tauchen auf. Sie hatte sich vor den schlimmen Ausfällen ebenfalls in Kombination mit Kopfweh früh morgens übergeben müssen. Ich rufe in der Klinik an und schildere alles. Wir sollen vorbeikommen. Ich gebe Ada knappe Anweisung, sich zügig anzuziehen, damit ich sie schnell in den Kindergarten bringen kann. Sie murrt natürlich. Ich gebe Micha Bescheid. Er ist besorgt, er hatte schon morgens ein komisches Gefühl, nachdem Vianne aufgestanden war. Dann suche ich noch schnell Anziehsachen für Vianne raus, und kurze Zeit später setzen wir Ada schnell im Kindergarten ab. Ich erkläre den Erzieherinnen eilig die Situation. Auf dem Weg zur Klinik scheint es Vianne wieder besser zu gehen. Doch auf halber Strecke schläft sie im Auto ein - völlig untypisch. Ich bin froh, als wir endlich in der Klinik ankommen. Die Schwestern begrüßen uns so freundlich. Wenig später untersucht eine Ärztin Vianne, nimmt Blut ab. Vianne wirkt überreizt und weint schon beim Fingerpiks mehr als sonst. Aufgrund der Symptome wird eine Notfall-MRT veranlasst, da Verdacht auf Hirndruck besteht. Während der Wartezeit lese ich Vianne vor, unterhalte mich kurz mit der Erzieherin (aus der Kinderklinik) und der Stations-Psychologin. Vianne hat Appetit auf ein Croissant. Mist - damit fällt die Hoffnung auf eine schnöde "Magen-Darm-Grippe" wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Eine Stationsmutter vom Elterntreff übernimmt das Vorlesen und kümmert sich um Vianne, während ich zum Bäcker eile und das Essen hole. Micha kommt kurz vorbei, weil ich mein Portemonnaie in seinem Auto vergessen habe. Wieder auf Station angekommen kriegen wir die Info, dass wir schon zum MRT-Raum ins Hauptgebäude rüber gehen können. Vianne protestiert. Sie muss auch noch einen Zugang für das Kontrastmittel gelegt bekommen. Ich kann sie dabei kaum auf dem Schoß halten, sie wehrt sich mit Händen und Füßen und weint bitterlich. Zum Glück gelingt der Zugang auf Anhieb.
Im MRT-Wartebereich ist alles voller Handwerker. Überall wird gesägt, gehämmert, geklopft. Der neue Kinder-Magnet-Resonanz-Tomograph wird derzeit aufgebaut. Ursprünglich sollten an diesem Tag alle Aufnahmen ins Klinikum Nord verlagert werden, aber man hatte sich aufgrund einiger Notfälle umentschieden. Zu unserm Glück. "Vianne, schaffen wir das wieder gemeinsam", frage ich sie. "Wenn ich dabei wach bleiben darf... dann ja", antwortet sie. Sie liegt schmal und blass und müde in der "Röhre", ich stehe die ganze Zeit daneben, streichele ihren Fuß. Ich habe Angst davor, was wir später zu sehen kriegen werden. Bereits während den ersten Sequenzen läuft mir eine Träne über die Wange. Ich wische sie weg. Vianne ist in der "Röhre" wieder eingeschlafen.
Donnerstag, 23. April - nachmittags: Wir gehen anschließend zurück auf die Kinderstation. Irgendwann kommt Dr. B.: "Wir können kein Anzeichen für Hirndruck sehen." "Das ist gut", murmele ich dazwischen, bevor er weitersprechen kann. "Aber ich habe keine schöne Nachricht", setzt er wieder an. Nicht nur der Resttumor im Parietallappen ist gewachsen. Es zeigen sich drei weitere Tumore im Kopf: im Stirnbereich, im Seitenventrikel, am Hirnstamm. "Es" hat begonnen...
(Alles Weitere folgt später - für heute bin ich zu müde. Es geht Vianne soweit gut. Wir sind Zuhause, sie schläft gerade und ist schmerzfrei. Hoffen wir auf eine ruhige Nacht)

Echtzeit! Leichtigkeit



Mittwoch, 22. April 2015


Es geht uns gut. Wie lange ich diesen Satz nicht mehr geschrieben, wie lange ich diesen Gedanken nicht mehr gedacht habe. Es gibt keinen Grund dafür - es ist lediglich ein Gefühl der Leichtigkeit. Wir haben bisher eine entspannte Woche mit schönen, alltäglichen Terminen verlebt. Heute haben Ada und Vianne im Rahmen des Kindergarten-Vorschulprogramms mit dem Verkehrspolizist geübt - und sind jetzt stolze Besitzerinnen des "Fußgängerpasses". Das Training war einfach nur niedlich. Die Fünfjährigen haben das Überqueren der Fahrbahn versucht. Mal ging es über eine Verkehrsinsel, mal versperrte ein parkendes Auto oder eine Mülltonne die Sicht. Dann wurde geübt, worauf man bei Autos auf dem Parkplatz achten muss (auf das weiße Rücklicht - wenn das angeht, will der Fahrer rückwärts aus der Parklücke fahren). Unsere Mäuse sind noch so klein, dass sie vom Fahrer eines ausparkenden Autos schlichtweg übersehen werden. Ada und Vianne meisterten die Situationen äußerst souverän. Beide wirkten so selbstbewusst. Während manch anderes Kind zögernd am Straßenrand stand - die Kinder sollten selbst entscheiden, wann sie die Fahrbahn überqueren - schritten die Zwillinge nach einem ersten "Abchecken" zielsicher voran. Ich glaube, unsere Situation stärkt sie. Luke brachte heute eine zwei in der Deutscharbeit nach Hause - ohne groß geübt zu haben. Das war in den turbulenten letzten Wochen mal wieder untergegangen. Großartig! (Ganz klar meine Gene) Die Geschenke für Adas und Viannes Geburtstagsparty sind gepackt, die Legoland-Tickets gebucht. Ich liebe diese Leichtigkeit. Ich verbiete mir alle Gedanken an die anstehenden MRT und die Lumbalpunktion.

Schließlich feiern wir bald Zwillings-Geburtstag! Als ich letztens später am Abend nach Hause kam - Ada und Vianne lagen schon in ihren Betten - schlich ich mich für einen Gutenachtkuss zu den Mäusen hoch. Vianne schaute mich aus ihren großen blauen Augen an und sagte: Mama, wenn du nach Hause kommst, fängt mein Herz an zu hüpfen". Welch wunderbares Gefühl der Leichtigkeit...


5. Dezember 2016

Echtzeit! Bestrahlung geschafft!



Montag, 20. April 2015


Mit dem heutigen Tag hat Vianne 24! Bestrahlungen (plus die vier in der Schweiz) mit einer Gesamtdosis von etwas über 50 Gy hinter sich. Sie hat es geschafft. Die Strahlentherapeuten meinten zu uns, dass sie der unkomplizierteste Patient gewesen sei, den sie bisher gehabt hätten. Ich hoffe nur, dass die Behandlung auch einen kleinen Erfolg gezeigt hat. Nächsten Dienstag wissen wir mehr. Bisher hat Vianne alle Maßnahmen mit Bravour gemeistert, aber leider ohne das gewünschte Endergebnis: Heilung! - oder, wie es in der Fachsprache heißt, "progressionsfreies Überleben". 
Bei der Verabschiedung überreichte Vianne zum Dankeschön eine selbstgestaltete Karte. Auf der Vorderseite klebte ein kleines Portraitfoto von ihr, innen hatte sie ein Einhorn und eine Blume gemalt. Dazu verschenkte Vianne noch eine kleine "Leckerei", denn schließlich ist sie selbst von den Mitarbeitern nach nahezu jeder Behandlung gut verköstigt worden - angefangen von Erdbeeren und Keksen bis hin zu Schokohasen und Fruchtgummi. Unter der Bestrahlung wollten wir ihr diese "Zückerchen" nicht vorenthalten. Doch nun sollte diese interne "Schleckerschüssel" wieder aufgefüllt werden. Während des Abschlussgespräches war Vianne unglaublich zutraulich zu Dr. K. und gab ihm freiwillig zur Verabschiedung die Hand (nachdem sie in seinem Arztzimmer zuvor neugierig alle Schränke untersucht hatte - wer weiß, vielleicht war sie nach so viel Lob auf der Suche nach einem weiteren "Zückerchen"...?) Mit der Bestrahlungsmaske in der einen und "Hoppel" in der anderen Hand hüpfte sie vergnügt aus dem Gebäude. Ich selbst war noch immer viel zu berührt und ergriffen von den vielen innigen guten Wünschen, die uns alle mit auf den Weg gegeben haben, so dass ich noch nicht beschwingt "hüpfen" konnte - das kam später. Wieder ein kleiner Abschied...Wie viele Wegabschnitte wir nun schon gegangen sind. Wie viele Weggefährten uns nun schon begleitet haben. Wie vielen mitfühlenden, engagierten, daumendrückenden fremden Menschen wir nun schon begegnet sind. Das Klare, Unverfälschte, das, was uns letztendlich ausmacht, kommt in Extremsituationen wieder mehr an die Oberfläche. Als wir vom Parkplatz kamen, winkte uns ein Mann, den wir schon mehrmals vor der Strahlentherapieklinik getroffen hatten, stumm und lächelnd zum Abschied zu.

Direkt im Anschluss ging's in den Spielzeugladen - jeweils zu  Bestrahlungsbeginn und -ende hatte ich Vianne (und Ada) ein Geschenk versprochen. Vianne suchte für sich und Ada ein Elfenboot aus Lego aus, das wir gemeinsam am Nachmittag zusammenbauten. 



In fünf Tagen haben die Mädels Geburtstag. Als Überraschung haben wir einen Wochenendtrip ins Legoland nach Günzburg geplant - und alle kommen mit: Micha, Jesse und Luke, Oma und Opa, Andi und Ralf. Ich hoffe so sehr, dass nichts Unerwartetes dazwischen kommt... Alle Kinder haben sich diesen Ausflug mehr als verdient! Wir kommen momentan aus dem Feiern nicht mehr raus: erst vor wenigen Tagen hatte Luke Geburtstag. Nach einem ausführlichen Geburtstagsbrunch mit der Familie kamen am späten Nachmittag Lukes Freunde zur Übernachtungsparty. Wir starteten mit einer Longboard- und Rollertour an der Ruhr, gingen über zu Pizza und Heimkino, später zu Gruselgeschichten beim Lagerfeuer. Irgendwann gegen zwei Uhr in der Nacht kehrte Ruhe im Bettenlager ein - ein gelungener Tag und eine gelungene Partynacht. Ada und Vianne hatten zum Glück ihre eigene "Übernachtungsparty" bei Andi und Ralf .


Echtzeit! Lumbalpunktion



Donnerstag, 16. April


Mist! Habe heute erfahren, dass Vianne mit Beginn der Target-Therapie neben den MRT auch noch eine Lumbalpunktion braucht. Das heißt, sie muss dafür extra sediert werden. Ich glaube nicht, dass sie die Punktion nur mit örtlicher Betäubung über sich ergehen lassen würde. Muss aber auch ehrlich gesagt nicht sein. Es ist Wahnsinn, dass Vianne nach all den Therapien und Eingriffen mittlerweile nicht absolut panisch reagiert. Sie scheint überhaupt keine Angst vor der Bestrahlung oder vor der "Röhre" zu haben. Blut ist ihr so vertraut wie Tomatenketchup. Klar, sie ist zu Beginn neuer Maßnahmen skeptisch,  zurückhaltend, vorsichtig, zögerlich. Aber nicht panisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich so tapfer wäre - und sie war gerade drei Jahre alt, als alles begann. Was für eine mutige kleine große Kämpferin. Wenn sie sich ganz eng an uns kuschelt, unsere Nähe sucht, dann merke ich allerdings schon, wie viel Halt sie braucht, wie anstrengend das ständige Durchhalten und sich Einlassen ist. Und wir halten sie - ganz fest - wann immer sie unseren Halt braucht. Als ich mich heute mit ihr über die anstehenden Untersuchungen unterhalten habe, war ihr nur wichtig, dass sie wach ins MRT gehen kann. Dass sie während der Lumbalpunktion "schlafen" soll, hat sie mit einem Stirnrunzeln quittiert, aber letztendlich akzeptiert. Die Punktion soll am Dienstag vor dem MRT laufen. Um 9.30 Uhr sollen wir nüchtern auf der Station sein. Nachmittags findet dann irgendwann das MRT vom Rücken statt. Das wird ein langer Tag in der Klinik. Aber egal! Die Alternative wäre gewesen, noch einmal am Mittwoch extra für die Lumbalpunktion in die Klinik zu gehen. Dann lieber zwei blöde Dinge an einem Tag. Morgen ist die vorletzte Bestrahlung und ein weiterer Termin bei dem energetischen Heiler.





Echtzeit! Termine



 Mittwoch, 15. April 2015


Nur noch drei! Vianne hält stolz drei Finger in die Höhe. Nur noch drei Bestrahlungen liegen vor uns. Sie hat bisher keine akuten Nebenwirkungen bekommen: keine Hautrötung, keine Schluckbeschwerden. Das ist super und wir freuen uns, dass es ihr aktuell scheinbar gut geht. Heute Nachmittag ist sie wie ein Wirbelwind im Sonnenschein über die Wiese gerannt. Ich konnte es kaum glauben. Danach ging es noch auf's Trampolin, das wir am letzten Wochenende aus dem Lager geholt und gemeinsam aufgebaut haben. Dabei wurde ich gedanklich in den April letzten Jahres katapultiert. Die Kinder haben das Trampolin zu ihrem 5. Geburtstag geschenkt bekommen und es unter lautem Jubel in Beschlag genommen. Im April 2014 haben wir noch gedacht, Vianne hätte ihre Erkrankung gemeistert, hätte die Oberhand darüber. Was für eine grobe Fehleinschätzung. Es ist ein seltsames Gefühl, das Trampolin diesen April wieder aufzubauen. Wie viel sich in diesem einen Lebensjahr verändert hat... Wir haben neue MRT-Termine bekommen: Am 27.4. wird der Kopf angeschaut, am 28.4. die Wirbelsäule. Wir zittern schon jetzt. Am 29.4. soll die Therapie mit Erivedge (Vismodegib) starten. Die Krankenkasse hat sich zwar noch nicht zur Kostenübernahme geäußert, der Verein "Ein Herz für Kinder" hat aber schon eine positive Antwort gegeben, so dass die ersten drei Monate überbrückt sind. Wir hoffen nur, dass das MRT keine neuen schrecklichen Überraschungen bereithält, die den Einsatz des neuen Wirkstoffs gefährden oder sogar hintenan stellen.

Zur heutigen Bestrahlung wurden wir wieder unglaublich herzlich empfangen. Alle geben sich so viel Mühe,  Vianne bei Laune zu halten, ihr ein Lächeln zu entlocken. Die Strahlentherapeuten sprechen nicht nur ganz lieb mit Vianne, sondern auch mit Viannes "Hoppel" (ihrem Hasen). Sie kitzeln unsere kleine "Maus" und loben sie jedes Mal, wie tapfer sie mitmacht. Ada war heute mit dabei, weil der Kindergarten geschlossen hatte. Sie ist eine große Hilfe und immer sehr, sehr lieb, wenn Vianne behandelt wird. Im Anschluss an die Bestrahlung holten sich beide Kinder eine Belohnung ab: meistens steht eine große Süßigkeiten-Schale im Monitorraum bereit. Heute gab's dazu noch frische Erdbeeren. Während sich Ada eine Gummischlange angelte, griff Vianne beherzt in die Erdbeerschüssel und schnappte sich die saftigste Beere. Eine Assistentin fragte mich noch, ob das okay sei. Nicht dass Vianne noch Erdbeerflecken auf ihrem hübschen Sommerkleid bekäme. Ich meinte locker, das sei kein Thema, ich würde das nicht so eng sehen und wir hätten doch eine Waschmaschine. Kaum ausgesprochen, bemerkte ich drei dicke, leuchtende Erbeerflecken auf meinem weißen Rock, nachdem Vianne herzhaft in die Riesenbeere gebissen hatte. Viannes Kleid blieb natürlich sauber. Anschließend fuhren wir - ich mit den Monsterflecken auf den Rock – nach Hamm zu unserem Heilpraktiker. Vorab hatte ich noch versucht, die Flecken auszuwaschen, bis Ada staunend bemerkte, dass ja nun mein Rock durchsichtig sei. Na "super"! Beim Heilpraktiker mussten wir einen Moment warten, bis wir drankamen. Ada und Vianne kuschelten miteinander, drückten und herzten sich. Ich genieße solche innigen Momente. Die Behandlungen, die Vianne aktuell bekommt, fühlen sich gut und richtig an.  Dann ging es im Eiltempo nach Hause und ab in die Sonne. Eigentlich ein herrlicher Tag, zwar rasant, aber dafür auch ganz intensiv.

Wir zehren noch immer von unserem wunderbaren Wochenendbesuch. Uli war mit den Kindern da. Allein sie alle um uns zu haben ist Seelenbalsam, Lachen, Leichtigkeit. Vianne drückte ihre Freude in unzähligen kuscheligen Umarmungen aus. Am Samstag machten wir gemeinsam einen Ausflug in ein nahe gelegenes Erholungsgebiet. Während die Großen im Kletterwald unterwegs waren, probierten Ada und Vianne nacheinander Bumping-Boot, Kinderkarussell, E-Motorrad und Minigolf aus uns stärkten sich anschließend bei Kakao und Kuchen (mit Zucker). Ein toller Tag!






Rückblick: Osterferien



2. bis 6. April 2015


In der bestrahlungsfreien Zeit über die Osterfeiertage haben uns liebe Freunde in ihr Ferienhaus an der Mecklenburgischen Seenplatte eingeladen. Wir hatten Viannes Bestrahlungstermin ganz früh in den Donnerstagvormittag gelegt, um uns gleich im Anschluss auf den Weg machen zu können. Kein Stau, dafür aber Sturzregen und Hagelschauer - bis wir am Ziel ankamen: dort lachte uns die Sonne entgegen, obwohl es insgesamt ziemlich kalt war. Egal, Hauptsache Licht. Während der Fahrt mussten wir unzählige "Bibi und Tina"-CDs und noch viel mehr Kinder-Kurzgeschichten über uns ergehen lassen, bis Luke rebellierte und endlich die Känguru-Chroniken einforderte. Welch ein Glück! Wir lieben die Känguru-Hörspiele von Marc-Uwe Kling und mussten wieder einmal herzlich lachen, sogar die Mädels. Trotz allem wurde ich zunehmend unruhiger, je weiter wir uns von der Dortmunder Kinderklinik entfernten. Zwar lagen alle Notfallmedikamente für Vianne griffbereit, dennoch gaben sie uns nur eine relative Sicherheit. Im Geiste ging ich die Kliniken durch, an denen wir auf unserer Fahrt näher vorbeikommen würden (Uniklinik Hannover, Berliner Charité...). Es passierte natürlich nichts. Wir verbrachten ein paar schöne Tage, aber irgendwie waren Micha und ich (und dadurch auch die Kinder) insgesamt sehr angespannt, wir brauchten dieses Mal sehr lange, um letztendlich richtig anzukommen - und das hatte nichts mit dem Urlaubsziel zu tun. Die schon so lange währende mentale Belastung nagt an uns und an unseren Nerven. Aber das herrliche Licht im Norden, die Weite, das Wasser und wirklich liebenswerte Menschen um uns ließen unsere vibrierenden Nerven langsam zur Ruhe kommen. Wir erlebten fröhlich-turbulente Grillabende, spritzige Hallenbadbesuche, wärmende Saunabesuche, ein funkensprühendes Osterfeuer samt süßem Stockbrot, einen gemächlichen Ausritt, fetzige Go-Kart-Rennen und eine unterhaltsame Ostereiersuche. Vianne geriet von der Motorik oftmals an ihre Grenzen: sie kommt nicht mehr beim Rennen, Klettern und Rollerfahren hinterher. Manche Spielgeräte meidet sie mittlerweile. Sie hasst es, "immer die Letzte" zu sein oder irgendwo nicht hoch zu kommen. Das frustriert sie immer häufiger. Ich hingegen bin froh, dass sie überhaupt laufen, sich überhaupt bewegen kann. Also nahm ich sie mir beiseite und erklärte ihr, dass es nicht darauf ankommt, so schnell wie die anderen Rollerfahren zu können, solange ihr das Rollerfahren an sich Spaß macht. Sie soll ihr eigenes Tempo finden. Insgesamt taten uns allen die vier Tage im Norden gut. Auch wenn ich mittlerweile nervös bin, wenn wir uns zu weit mit Vianne von unserer Kinderklinik entfernen, möchte ich unsere Reisen und Ausflüge und Kurzurlaube nicht missen.







Echtzeit! Begegnungen



11. April 2015


Wir haben nur noch sechs Bestrahlungen vor uns. Auch hier hat sich eine angenehme Routine eingeschlichen. Im Wartezimmer sehen wir häufig dieselben Gesichter, keine Kinder, allesamt Erwachsene. Alle haben schwerwiegende Erkrankungen, sonst wären sie nicht hier, dennoch entwickelt sich ein lockerer Smalltalk. Vianne bezaubert durch ihre liebenswerte Art, durch ihren regen Verstand. Von Scheu keine Spur. Sie zeigt allen Anwesenden - Ärzten wie Patienten - ihre Begleiter. "Hoppel", ihr Lieblingshase, ist ständig dabei und hat noch keine Bestrahlung verpasst. "Tinkerbell", ihre neue Barbiepuppe, durfte hingegen das erste Mal mitkommen. Stolz hat sie vor einigen Tagen ihre neue Kopftaschenlampe präsentiert. Dermaßen ausgestattet stapfte sie selbstbewusst zur Bestrahlungsliege. Und auch ihre neue Playmobil-Fee samt Zauberpferd durfte sie schon begleiten. Alle haben immer einen großen Auftritt und müssen ausreichend vom medizinischen Personal beachtet werden, dafür sorgt Vianne schon. Unsere kleine Kämpferin bringt Licht in diese eher düstere Therapiewelt. Erst kürzlich betrat sie den Vorraum, sagte kein Wort, blickte forschend in die Runde, setzte in aller Ruhe ihre neueste Errungenschaft auf dem Fußboden ab und trat nach Aktivierung demonstrativ einen Schritt zurück. Ein singender Plüsch-Osterhase hopste und wackelte daraufhin durch den Raum, so dass die gesamte Belegschaft erst ungläubig dreinschaute, dann aber in schallendes Gelächter ausbrach. Mit einem triumphierenden Grinsen legte sich Vianne anschließend auf die Behandlungsliege. 



Obwohl sie todkrank ist, spüre ich so viel Leben in ihr, mehr als in so manchem vermeintlich Gesundem. Wie gern würde ich diese kindliche Lebendigkeit in mir spüren. Letztens fragte mich eine sympathische Frau im Wartezimmer, wie oft wir noch kommen müssen. "Nur noch sieben Mal", antwortete ich. Ach, dann sei ja alles wieder gut, bemerkte sie ohne böse Absicht. An meinem Blick muss sie gemerkt haben, dass dem nicht

so ist, so dass sie ein zögerliches "oder?" nachwarf. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf - und war heilfroh, in diesem Moment aufgerufen zu werden.


Echtzeit! Neue Wege



Mittwoch, 1. April 2015


Wir werden wahrscheinlich einen neuen Weg beschreiten. Eigentlich ist es eher ein Trampelpfad, halb im Verborgenen liegend, nicht weit einsehbar, uneben, verwachsen, verschlungen. Man weiß häufig nicht, wo man raus kommt oder was einen am anderen Ende erwartet - eine Sackgasse? Eine Lichtung? Dienstagmorgen hatten wir ein ausführliches Gespräch mit Prof. S., um die Ergebnisse aus der genetischen Analyse zu besprechen. Er hatte ja bereits in seiner Mail angedeutet, dass ein Medikament in Frage kommen würde. Vianne hat eine für Ependymome ungewöhnliche Mutation, die zu einem Proteinverlust und daraus folgend zu einer Aktivierung des Sonic Hedgehog (shh) Signalwegs in ihrem Tumor führt. Dieser Signalweg ist (glaube ich verstanden zu haben) vorrangig in der Embryonalphase aktiv, später nur noch bei Bedarf. Bei Vianne ist dieser Signalweg jedoch ständig aktiv - was zu einer verstärkten Produktion von Tumorzellen führt. Es ist schwer zu begreifen, dass ein kleines, fehlendes Protein solch verheerende Auswirkung hat. Viannes Zellen meinen es anscheinend "zu gut". Es gibt ein Medikament, das diesen Signalweg hemmt und zu einer Inaktivierung führen soll. Dieses Medikament wird bei Menschen mit Basalzellkarzinom (Form von Hautkrebs) eingesetzt, die eine vergleichbare molekulare Veränderung aufweisen. Dieses Medikament ist vorläufig zugelassen, weil es noch nicht ausreichend getestet ist. Dieses Medikament hat Nebenwirkungen (Grad 3 u höher - 5 ist der höchste Grad mit den schwerwiegendsten Nebenwirkungen). Bei Kindern ist das Medikament nicht zugelassen. Die Leitung der Hirntumor-Rezidivstudie empfiehlt dennoch dringend den Einsatz bei Vianne. Wir machen uns nichts vor - wir bewegen uns auf einem Trampelpfad, nicht auf einer mehrspurig ausgebauten Schnellstraße. Aber: wir bewegen uns, denn: "...Erivedge (ist) einer Chemotherapie überlegen und kann zu einer deutlichen Verlangsamung bis hin zu einer Regression der Tumoren führen", so die übereinstimmende Einschätzung der Experten. Wir tappen nicht mehr so arg im Dunklen wie zuvor. Wir haben nun einen Hinweis, wo wir ganz gezielt angreifen/eingreifen können. Und noch ein Satz lässt uns mutig diesen unbekannten Pfad gehen: "Im besten Fall ergibt sich vielleicht sogar eine kleine kurative Chance." Eine Chance!

Das Medikament wird als Tablette verabreicht, einmal täglich, das heißt, wir müssen dafür mit Vianne nicht stationär ins Krankenhaus. Das ist gut. Es stehen jedoch engmaschige Kontrollen an. Wie gesagt: niemand weiß letztendlich, wie sie als Kind darauf reagieren wird. Die Dosis wird runtergerechnet. Nach drei Therapiezyklen erfolgt eine MRT-Verlaufskontrolle. Schreitet die Erkrankung fort, wird abgebrochen. Stagniert das Tumorwachstum, wird über eine Nachoperation nachgedacht. Bildet sich die Tumormasse zurück, folgen drei weitere Therapiezyklen. Derzeit wird wieder die Kostenübernahme bei unserer Krankenkasse beantragt - die Dortmunder reagieren so zügig und engagiert. Eine Kopie des Schreibens liegt uns bereits vor. Die Kosten für ein Vierteljahr belaufen sich auf rund 30.000 Euro. Zudem haben unsere Ärzte sicherheitshalber einen (anteiligen) Kostenvorschuss bei der Organisation "Ein Herz für Kinder" gestellt, um die ersten drei Monate überbrücken zu können, falls es zu Verzögerungen kommen sollte oder die Kasse ablehnt. Sie sind wirklich wahnsinnig engagiert - Hut ab. Die Mail erreichte mich erst gerade eben und wir sollen den Antrag schnellstmöglich unterschrieben zurückgeben, damit alles noch vor den Feiertagen auf den Weg gebracht und zügig begonnen werden kann. Nach Ende der Bestrahlung - in circa zwei Wochen – wollen sie mit der Therapie starten. Ich mag Trampelpfade... wir werden uns vorwärts wagen - vorsichtig, behutsam, aufmerksam. Und wir werden Angst haben. Angst davor, was uns, was Vianne hinter der nächsten Wegbiegung und letztendlich am Wegende erwartet...

Echtzeit! Hoffnungsschimmer?



Samstag, 28. März 2015


Gestern am frühen Abend erreichte mich die Mail von Prof. S., in der steht, dass er kurz zuvor mit den Heidelberger Kollegen telefoniert habe: es gebe Ergebnisse aus Viannes genetischer Tumoranalyse im Rahmen der INFORM-Studie - wir sollen uns zeitnah zum Gespräch treffen. Sie haben eine genetische Veränderung in den Tumorzellen gefunden, auf die es vielleicht eine therapeutische Antwort gibt. "Das Medikament ist – wie immer - für die Situation und für Kinder nicht zugelassen. Das wäre aber für uns kein Hindernis, nur ein organisatorisches Hemmnis. Das lösen wir", steht da. Ich stehe neben mir. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich habe schon erwartet, dass sie eine genetische Veränderung finden, nicht aber, dass ein mögliches Medikament zur Verfügung steht. Ein Hoffnungsschimmer? In der Mail heißt es am Ende: "Also gute Nachrichten." Ich bin noch zu zerstreut, um die Situation gänzlich erfassen zu können. Ich wage es nicht, mich zu freuen. Zu oft sind wir nach vermeintlich guten Nachrichten zu tief gefallen. Am Dienstag um 9 Uhr haben wir den Gesprächstermin. In drei Tagen. Die Dortmunder hoffen, bis dahin eine schriftliche Befundmitteilung/Empfehlung vorliegen zu haben. Wir sind so (an-)gespannt. Gibt es für Vianne doch noch einen Einzelheilversuch? Gibt es für Vianne zusätzliche Lebensjahre? Wenn ja, läuft uns dennoch gerade die Zeit davon? Seit gestern zieht sie ihr rechtes Bein stärker nach. Kommt es von der Bestrahlung? Kommt es von der Belastung für das Rückenmark? Oder wächst der Tumor trotz Bestrahlung weiter und drückt auf die sensiblen Nerven? Oder vielleicht der Resttumor im Kopf? Vielleicht gibt es aber auch gar keine schlimme Ursache und es ist lediglich ein Ausdruck von Erschöpfung? Wie wertvoll und wichtig Zeit plötzlich wird, wenn sie droht, zu schnell zu zerrinnen. Wie zäh Zeit wird, wenn sie denn einmal schnell verrinnen soll. Vielleicht sollen wir uns einfach nicht mehr von der Zeit beherrschen lassen und jeden guten geschenkten Augenblick auskosten.




Echtzeit! Hin und her



Mittwoch, 25. März 2015


Die Tage ziehen so schnell dahin und sind randvoll ausgefüllt mit Bestrahlungsterminen, Heilpraktikerbesuchen, Kindergartenbesuchen (Vianne: "Ich will uuunbedingt Yoga mitmachen"), Schwimmkurs, Hallenbad- und Eiscafébesuchen, Verabredungen mit kleinen Freundinnen,... Während ich mir Sorgen mache, ob es nicht zu viel ist, fragt Vianne bereits am frühen Morgen: "Und? Was machen wir heute?"

Sie hat nun neun Bestrahlungen hinter sich gebracht - bisher ohne ersichtliche Nebenwirkungen. Die Haut ist noch nicht gerötet, das Schlucken tut (noch) nicht weh. Das ist gut. Aber sie hat noch 15 weitere Bestrahlungen vor sich. Insgesamt sind es doch "nur" 24 Mal. Im Vorgespräch hatte ich verstanden, dass 26 Mal geplant sind (herausgerechnet die vier Einheiten aus der Schweiz), so dass wir alles in allem auf 30 Bestrahlungen mit insgesamt 54 Gy kämen. Jetzt sind es gesamt etwas über 50 Gy. Uns soll es Recht sein. Rund Vier Gy mehr oder weniger werden keinen Einfluss auf den weiteren Krankheitsverlauf nehmen.

Wir betrachten Vianne jeden Tag ganz genau - und das hat nicht nur mit der Bestrahlung und dem Resttumor zu tun. Wir haben angefangen, das Antiepileptikum zu reduzieren, entgegen dem ärztlichen Rat. Aber wir wollen sie nicht weiter prophylaktisch mit schweren Medikamenten behandeln. Niemand kann eindeutig sagen, ob sie nach Absetzen des Medikaments wieder einen Krampfanfall bekommen wird. Ich glaube es nicht. Zumindest derzeit. Wenn sich der Tumor im Kopf schnell ausbreitet, wird sie alle Wahrscheinlichkeit sowieso künftig Krampfanfälle erleiden. Dann haben wir keine Wahl, dann müssen wir entsprechende Mittel einsetzen. Aber bis dahin... Trotzdem macht mir unsere Entscheidung, unsere eigene Courage, manchmal Angst. Doch seit Reduzierung scheint mir Vianne wieder ausgeglichener, zufriedener, weniger wütend und wieder mehr sie selbst zu sein.

Das ständige Beobachten und Nachfragen, ob es ihr gut geht, nervt unsere pfiffige Tochter gewaltig. Originalton Vianne: "Warum fragst du immer?" Aber wir können es nicht abschalten. Läuft sie wieder schlechter? Hat ihr rechtes Bein weniger Kraft als gestern? Warum hat sie sich gerade am ganzen Körper geschüttelt? Langsam müssten doch die Haare wiederkommen - oder wachsen sie nie wieder nach? (und auch wenn, was soll's eigentlich?). Zieht sie den Mundwinkel heute weniger weit nach oben, wenn sie grinst? Wirkt sie insgesamt müder? Es ist schwer, diesen quälenden Fragen Einhalt zu gebieten. Andererseits haben wir momentan - abgesehen von den kurzen Bestrahlungen - wieder mehr "Alltag" und weniger Behandlungen und Kontrolltermine als noch vor einem halben Jahr: keine Operationen im Abstand von zwei bis drei Monaten, keine ständigen Blutabnahmen, keine regelmäßigen neurologischen Testungen, weniger eng getaktete MRT-Termine. Es ist irgendwie kurios: die Krankheit schreitet voran, die medizinischen Maßnahmen gehen zurück. Andererseits ist das das richtige Vorgehen eines jeden  verantwortungsbewussten Arztes: gerade in der Palliativbehandlung soll so lange wie möglich der Fokus auf der Lebensqualität liegen, nicht auf quälenden, zeitraubenden und zum Teil gefährlichen Therapien. Es ist immer wieder schwer, sich einzugestehen, dass die Ärzte nicht mehr mit Blick auf Heilung behandeln. Ich hingegen habe die Hoffnung auf Heilung noch nicht aufgegeben. Naiv? Wunschdenken? Schutzreflex? Ist das alles nur die Ruhe vor dem Sturm? Keine Ahnung. Hoffnung lässt sich nicht erklären. Ich weigere mich nach wie vor, in Vianne etwas anderes zu sehen als dieses kleine, fröhliche, selbstbewusste, wahnsinnig mutige Mädchen voll überschäumender Lebensenergie. Ich weigere mich!


Echtzeit! Süße Küken, süße Smoothies



Samstag, 21. März 2015


Andi hat einen Standmixer besorgt, damit wir uns mit Smoothies "volltanken" können. Sie schmecken nicht nur unglaublich lecker, sondern sind auch noch wahre Nährstoffbomben. Gerade den "grünen" Smoothies wird nachgesagt, den Körper bei der Krebsabwehr zu unterstützen. Perfekt! Wir haben schon etliche Kreationen ausprobiert. Ich gebe zu, die letzte Zusammensetzung war etwas gewagt (Avocado, grüner Blattsalat, Öl, Banane, Apfel, Akazienhonig, Naturjoghurt, Apfelsaft). Aber vitaminreich! Und Ada, Vianne und ich haben ihn getrunken. Männer sind halt Memmen. Trotz der giftgrünen Farbe (und der zugegeben etwas mehligen Substanz) schmeckte das Gemisch besser, als der ein oder andere vielleicht vermutet – unser aller Favorit ist es aber nicht. Den Tag zuvor hatte ich Blattsalat unter Apfel, Banane, Apfelsaft, Wasser und einen Hauch Rapsöl geschmuggelt, streng nach Rezept - und diesen grünen Drink fanden alle erstklassig. Heute Nachmittag gab's eine Variante mit frischen Erdbeeren, frischer Vanille und ganz viel Naturjoghurt. Wir schlürften ihn in unter einer Minute weg. Morgens hatten wir schon die die Blaubeeren im Mixer "vernichtet". Die Zubereitung macht Spaß, und wir haben das Gefühl, etwas tun zu können, auch wenn es nur ein "Tropfen auf dem heißen Stein" ist. 


Am Donnerstag haben wir bei einer lieben Freundin kleine Küken angeschaut und gestreichelt. Ada und Vianne fanden die kleinen "Flauschkugeln" entzückend - aber noch besser fanden sie den Hofhund, der sich geduldig abgreifen und an die Leine nehmen ließ. Freitag hatte Vianne wieder volles Programm: erst Heilpraktiker, dann "Radio Robby", anschließend mit Ada in den Kindergarten (sie wollte es so) und dann mit den anderen Vorschulkindern zum Seepferdchen-Kurs. Als ich sie in der Schwimmhalle abholte (ich bin extra eher gekommen, um ihnen noch zusehen zu können), winkte mir Vianne freudestrahlend aus dem Wasser heraus zu. Sie sah so glücklich aus. Mit den Armen hing sie entspannt über einer Schwimmnudel, hinter ihr ein ganzer Schwimmnudel-Zug mit ihren Freundinnen. Die Erzieherin gab mir ein Zeichen, an den Beckenrand zu kommen. Vianne wolle mir etwas zeigen. Voller Stolz vollführte Vianne den Beinschlag beim Brustschwimmen - völlig synchron. Ich war baff. Das hatte ich nicht erwartet. Im Vorfeld hatte ich mir eher Gedanken gemacht, ob Vianne nicht zu enttäuscht ist, dass sie die Schwimmbewegungen nicht so gut wie die anderen Kinder kann, zudem einige schon frei schwimmen können. Aber keine Spur davon: sie wirkte einfach nur glücklich und entspannt. Einige Minuten später nahm ich zwei aufgeregte, schlotternde, in dicke Handtücher  gemuckelte Schwimmmäuse entgegen. Am Nachmittag transformierten sich diese

Schwimmmäuse in kleine Gartenfeen. Wir gruben gemeinsam unseren Vorgarten um und hängten Ostereier (für den Osterhasen) auf.

Ende der Woche flatterte uns die Zusage für die Familienreha auf Sylt ins Haus. Wir haben einen Platz für Mitte September bekommen, der Aufenthalt reicht bis zum Ende unserer Herbstferien. Perfekt. Ich hatte gar nicht mehr mit einer Zusage gerechnet, da die Klinik auf Sylt äußerst begehrt ist. Bei der telefonischen Voranfrage vor wenigen Wochen hatte mir die Sekretärin erklärt, dass wir uns nicht allzu große Hoffnungen machen sollten, da sie fast bis Ende des Jahres ausgebucht wären. Tja, unverhofft kommt oft, im Guten wie im Schlechten. Ich hoffe nur, dass Vianne im September noch kurfähig sein wird. Im ersten Moment habe ich mich sehr über die Zusage gefreut. Doch dann wurde ich urplötzlich stinkesauer auf mich: "Was freust du dich eigentlich? Besser wäre es gewesen, nie wieder eine Reha wegen dieses Scheiß-Hirntumors machen zu müssen." Kurz flammte eine Bilderfolge auf, wie wir leben würden, wenn Vianne kein Rezidiv bekommen hätte. Ich wischte die Bilder trotzig fort. Fakt ist: der Tumor ist da. Also das Beste daraus machen.

Heute hat es fast den ganzen Tag geregnet. Bis zum späten Nachmittag lümmelten Ada und Vianne im Schlafanzug herum und genossen es, ungekämmt und ungewaschen durchs Haus zu laufen, ausgiebig zu spielen, Smoothies zu schlürfen und nach kolumbianischen Salsaklängen mit dem Popo zu wackeln. Später, als die Sonne kurzfristig hervorlugte, konnte ich sie doch noch überreden, mit mir nach draußen zu kommen. Sie wollten Fahrradfahren. Voller Ungeduld zappelten sie neben den Rädern, während ich die Reifen aufpumpte. Ada schmiss sich förmlich auf ihr Rad, zwei Kuscheltiere im Fahrradkorb, und düste los. Vianne schlich auf einmal mit hängendem Köpfchen davon. "Was ist los, mein Schatz?", fragte ich besorgt nach. "Sie weiß nicht, ob es mit ihrer Hand mit dem Festhalten klappt", erklärte Micha. Ich schnappte sie mir. "Klar klappt das", meinte ich aufmunternd. Ich hob sie schnell auf´s Rad. Ihre rechte Hand schloss sich auf Anhieb um den Lenker. Ich atmete erleichtert auf. "Ich halte dich solange fest, bis du dich wieder sicher fühlst", sprach ich behutsam auf sie ein. Wir fuhren los - und irgendwann fuhr sie wieder ganz allein, ohne Hilfe. Ihr rechter Fuß rutschte zwar ab und zu von der Pedale und sie war insgesamt etwas unsicher, aber sie fuhr allein. Ich bin so dankbar, dass sie momentan noch an so vielen Dingen aktiv teilhaben kann.


Echtzeit! Seltsam



Dienstag, 17. März 2015


Mit heute hat Vianne drei Bestrahlungen hinter sich. Sie macht gut mit, und bisher waren wir immer nach maximal 15 Min. (plus An- und Ausziehen) fertig. Die Maske passt gut, Anlegen und Fixieren dauern weniger als eine Minute, die Bestrahlung vielleicht fünf Minuten. Alles in allem sind wir anderthalb Stunden am Vormittag unterwegs. Das ist fair. Ein großer Vorteil ist, dass sie keine Narkose benötigt. Ich wage es weiterhin kaum auszusprechen, aber es geht Vianne augenscheinlich gut. Sie kann wieder richtig rennen, sie ist lebhaft und aktiv, ihr rechter Arm und ihre rechte Hand machen hinsichtlich der Funktionalität weiterhin kleine Fortschritte. Wir genießen die Sonne, die Ausflüge und das gemeinsame Spiel. Am Wochenende haben wir mit allen Kindern das Gasometer in Oberhausen besucht und uns die Ausstellung "Der schöne Schein" angeschaut. Ausgestellt sind Drucke und Skulpturen (als Nachbildungen) verschiedenster Epochen und Stilrichtungen. Da hängt ein Caspar David Friedrich unweit der Mona Lisa, ein Stück weiter "der Denker" von Rodin - vor einer Kulisse aus Stahlträgern und Eisentreppen. Diese Vielfalt in diesem ungewöhnlichen Rahmen hat die Kinder begeistert. Luke konnte es gar nicht glauben, dass ihn die Mona Lisa immer anschaute, egal ob er links oder rechts von ihr stand. Ada hingegen war eher an den verwundeten Barbaren und Kämpfern interessiert. Höhepunkt der Ausstellung war eine gigantische Lichtinstallation, die größte Innenraumprojektion weltweit. Bis zur Decke des Gasometers vermischten sich die Lichtpunkte zu immer neuen Formationen und trügten das Auge. Wir lagen zu sechst entspannt auf gemütlichen Sitzsäcken und ließen uns von der rund zwanzigminütigen Darbietung in den Bann ziehen. Mal entstanden Wellenbewegungen aus Licht an den Hallenwänden, mal glitt das Licht von oben nach unten, Lichtstreifen stießen sich sanft an und setzten ihre Bahn fort. Wände aus Licht formierten einen dreidimensionalen, sich ständig verändernden Raum. Das Ganze wurde untermalt von beruhigenden Klängen. Luke war so entspannt, dass er auf dem Sitzkissen einschlief. Vianne war restlos fasziniert und säuselte andächtig: "Wie sssöööön, wie wunderbar, wundersssööön". Adas Kommentar: "Total cooool". Sogar Jesse hat es gefallen. Und Micha und mir sowieso.

Es ist irgendwie seltsam. Wir wissen, wie es um Vianne steht, aber sie spiegelt das nicht wider – zum Glück. Abgesehen von den fehlenden Haaren und der rechtsseitigen Beeinträchtigung wirkt sie fast "normal". Anstrengend sind ihre gehäuften Wut- und Schreianfälle. Es ist schwer einzuordnen, ob sie vom

Antiepileptikum kommen, ob es ein Ausdruck von Stressbewältigung oder ein ganz normales Rumgezicke einer Fünfjährigen ist. Fakt ist: es ist anstrengend. Aber wir sind nicht bereit, ihr alles durchgehen zu lassen, nur weil sie schwer krank ist und schon viel mitmachen musste. Das würden unsere Nerven auch nicht aushalten. Eigentlich steht bald das nächste postoperative MRT des Schädels an, sechs Wochen sind seit der Operation fast um. In Absprache mit Dr. B. werden wir es erst nach insgesamt zwölf Wochen durchführen. Denn was bringt uns die Erkenntnis aus den aktuellen Aufnahmen? Operiert werden - außer im absoluten Notfall - soll sowieso nicht mehr. Wir würden lediglich sehen, ob und wo es weiteres Tumorwachstum gibt. Und dann? Die Ergebnisse aus der molekulargenetischen Analyse stehen noch aus. Insofern hätten wir als Medikament nur etwas aus der molekular-biologischen Untersuchung. Wenn Vianne irgendwelche Ausfälle oder Auffälligkeiten zeigen sollte, wird sowieso schnellstmöglich ein MRT gefahren. Bis dahin wollen wir einfach alles Blöde so weit wie möglich von ihr fernhalten - und dazu gehört auch, stocksteif 40 Minuten im MRT zu liegen.

Gestern Nachmittag sind Ada, Vianne und ich spontan zu einem schön angelegten Spielplatz in der Nähe gefahren und haben die Sonnenstrahlen, das Klettern und Toben von ganzem Herzen genossen. In solchen Momenten steht Viannes Erkrankung hinten an. Herrlich. Ich hoffe so sehr, dass wir diesen Zustand noch lange haben werden, dass Viannes Krankheit noch lange im Hintergrund bleibt, dass andere schönere Dinge den wichtigen Raum im Vordergrund in Beschlag nehmen. 


Aber es ist schwer, ihr jeden Tag etwas Schönes bieten zu wollen. Manchmal stehen wir uns mit unseren überzogenen Ansprüchen selbst im Weg. Dabei müssen es nicht immer die großen, außergewöhnlichen Dinge sein, die Freude bringen - wie der gestrige Spielplatzbesuch zeigt. Das wissen wir. Aber irgendwie fühle ich mich doch getrieben, so oft wie möglich Ausflüge/ Unternehmungen/ Überraschungen zu planen. Natürlich haben wir auch schon einen ausgiebigen Besuch in einem großen Spielzeugladen hinter uns. Wir hatten Vianne versprochen, dass sie sich zu Bestrahlungsbeginn und zum Bestrahlungsende ein Spielzeug aussuchen darf. Na ja, Luke und Ada können wir es dann auch nicht verwehren, sonst wäre die allgemeine Stimmung ziemlich getrübt (Jesse sieht's schon gelassener, wird aber auch bedacht - wenn auch nicht mit Spielzeug). Fazit nach so einem Spielzeugladenbesuch: Geldbörse leer, Kinderseelen glücklich .




Echtzeit! Lichtteilchen



13. März 2015


Die erste Bestrahlung mit Photonen, mit diesen kleinen unsichtbaren, geruchlosen, geräuschlosen Lichtteilchen, die auf einer Welle reiten, ist geschafft. Anders als bei der Protonentherapie kann Vianne auf dem Rücken liegen, obwohl dieser bestrahlt wird, denn die Teilchen gehen durch die Behandlungsliege durch. Die Rückenlage ist im Wachzustand sicherlich angenehmer. Um viertel vor eins ging es heute los. Erst wurde eine Simulation gefahren, die Vianne fast schon fachmännisch mitmachte. Als ein Tätowierpunkt (zur Orientierung) auf die Haut gesetzt werden sollte, bekam sie allerdings Angst, weinte und strampelte. Der Arzt entschied sich zum Glück um - und malte ihr lediglich einen schwarzen wasserfesten Punkt in Brusthöhe auf. Danach gingen wir hinüber zum eigentlichen Bestrahlungsgerät, mussten allerdings noch eine kleinen Moment im Wartezimmer ausharren. Vianne hatte "Hoppel", ihren Kuschelhasen, ein Geschenk von Oma und Opa, dabei. Micha und ich machten die ganze Zeit Quatsch mit "Hoppel", der so gerne ein richtiger Osterhase sein wollte wie seine großen Hasenfreunde. Allerdings war er noch zu ungeschickt, und die Eier platschten ihm immer wieder auf den Boden. Wir hatten zufällig ein echtes, leuchtend-orange-rotes Ei dabei, welches Vianne zuvor beim Bäcker bekommen hatte. Irgendwann verschlang "Hoppel" das ganze Ei (sein zweites Manko war, dass er unglaublich gefräßig war), aber es kam zum Glück immer wieder unten raus. Ja, wir machten uns förmlich "zum Affen" (natürlich waren wir nicht allein im Wartebereich), aber wir würden es immer wieder tun, nur um Viannes süßes Gekicher zu hören. Und sie kicherte...und kicherte...und kicherte. Ganz angenehm im Gedächtnis geblieben ist uns ein älterer Herr, der vor uns behandelt worden war. Beim Hinausgehen lächelte er uns äußerst liebenswert an. So viel Wissen und Erfahrung lag in seinem Blick. Freundlich erkundigte er sich, ob es "ihre" erste Bestrahlung sei. Er strahlte dabei eine angenehme, fast schüchtern wirkende Zurückhaltung aus, wirkte andererseits aber komplett in sich ruhend und weltoffen. Zum Abschied wünschte er uns alles Gute. Er sprach nicht viel, aber das, was er sagte, kam an. Ich glaube, er ist ein ganz besonderer Mensch. Solche Begegnungen, die einem das Leben plötzlich auf die Bühne zaubert, tun der Seele gut.

Das Einspannen in die Maske zur eigentlichen Bestrahlung fand Vianne unangenehm. Die Maske sitzt sehr stramm. Wir mussten kurz unterbrechen, sie setzte sich auf und war erst für den zweiten Versuch bereit, als "Bibi und Tina" als Hörspiel eingeschaltet wurde. Zuvor lief das verkehrte Hörspiel - da ist sie eigen. Nach wenigen Minuten war der Spuk vorbei. Wir durften die Bestrahlung vom Kontrollraum aus verfolgen. Vier Ärzte/ Radiologen/Fachkräfte waren anwesend. Zwei bedienten die Technik über die Computer, zwei kontrollieren die eingegebenen Befehle - ein reiner Sicherheitsaspekt, um menschliches Fehlverhalten zu minimieren.

Noch im Hinausgehen futterte Vianne das gekochte Ei genüsslich auf. Das ist gut, denn sie isst momentan wenig. Wir müssen damit rechnen, dass nach mehreren Bestrahlungen ihre Speiseröhre gereizt sein wird (wie gesagt, die Photonen gehen komplett durch), vergleichbar mit einem inneren Sonnenbrand. Dann wird sie sicher noch zaghafter Essen, deshalb päppeln wir sie derzeit etwas auf. Zum Glück klingt diese Reizung der Speiseröhre auch wieder ab.

Vor der Bestrahlung hatten wir wieder einen Termin bei unserem  Heilpraktiker/Heiler. Unter der Behandlung bewegte Vianne wieder minutenlang entspannt die Finger ihrer rechten Hand. Das war mir bereits beim vorherigen Termin aufgefallen. Ich traue es kaum auszusprechen: irgendetwas tut sich. Ich weiß nicht was, ich weiß nicht so richtig warum, aber es tut sich etwas. Es tut sich etwas, was ihr anscheinend gut tut. 
Zurück zuhause reichte uns die Nachbarin ein dickes Paket entgegen, das sie freundlicherweise angenommen hatte: Viannes Tornister! Adas hatten wir bereits seit Dienstag Zuhause, ich hatte ihn aber erst einmal zur Seite gestellt, bis Viannes eintraf. Den restlichen Nachmittag spielten beide Mädels "Schule", räumten ihre Taschen 1.000.000 Mal ein und wieder aus, machten "Hausaufgaben" und führten jedem Familienmitglied stolz ihre Ranzen vor. 


Dass Andi bei uns war, machte den Nachmittag noch schöner. Am Montag geht's mit der Bestrahlung weiter - und mit dem Heilpraktiker.