Mittwoch, 1.
April 2015
Wir
werden wahrscheinlich einen neuen Weg beschreiten. Eigentlich ist es eher ein
Trampelpfad, halb im Verborgenen liegend, nicht weit einsehbar, uneben,
verwachsen, verschlungen. Man weiß häufig nicht, wo man raus kommt oder was
einen am anderen Ende erwartet - eine Sackgasse? Eine Lichtung? Dienstagmorgen hatten
wir ein ausführliches Gespräch mit Prof. S., um die Ergebnisse aus der
genetischen Analyse zu besprechen. Er hatte ja bereits in seiner Mail
angedeutet, dass ein Medikament in Frage kommen würde. Vianne hat eine für
Ependymome ungewöhnliche Mutation, die zu einem Proteinverlust und daraus
folgend zu einer Aktivierung des Sonic Hedgehog (shh) Signalwegs in ihrem Tumor
führt. Dieser Signalweg ist (glaube ich verstanden zu haben) vorrangig in der
Embryonalphase aktiv, später nur noch bei Bedarf. Bei Vianne ist dieser
Signalweg jedoch ständig aktiv - was zu einer verstärkten Produktion von
Tumorzellen führt. Es ist schwer zu begreifen, dass ein kleines, fehlendes
Protein solch verheerende Auswirkung hat. Viannes Zellen meinen es anscheinend
"zu gut". Es gibt ein Medikament, das diesen Signalweg hemmt und zu
einer Inaktivierung führen soll. Dieses Medikament wird bei Menschen mit
Basalzellkarzinom (Form von Hautkrebs) eingesetzt, die eine vergleichbare
molekulare Veränderung aufweisen. Dieses Medikament ist vorläufig zugelassen,
weil es noch nicht ausreichend getestet ist. Dieses Medikament hat Nebenwirkungen
(Grad 3 u höher - 5 ist der höchste Grad mit den schwerwiegendsten Nebenwirkungen).
Bei Kindern ist das Medikament nicht zugelassen. Die Leitung der
Hirntumor-Rezidivstudie empfiehlt dennoch dringend den Einsatz bei Vianne. Wir
machen uns nichts vor - wir bewegen uns auf einem Trampelpfad, nicht auf einer
mehrspurig ausgebauten Schnellstraße. Aber: wir bewegen uns, denn:
"...Erivedge (ist) einer Chemotherapie überlegen und kann zu einer
deutlichen Verlangsamung bis hin zu einer Regression der Tumoren führen",
so die übereinstimmende Einschätzung der Experten. Wir tappen nicht mehr so arg
im Dunklen wie zuvor. Wir haben nun einen Hinweis, wo wir ganz gezielt
angreifen/eingreifen können. Und noch ein Satz lässt uns mutig diesen
unbekannten Pfad gehen: "Im besten Fall ergibt sich vielleicht sogar eine
kleine kurative Chance." Eine Chance!
Das
Medikament wird als Tablette verabreicht, einmal täglich, das heißt, wir müssen
dafür mit Vianne nicht stationär ins Krankenhaus. Das ist gut. Es stehen jedoch
engmaschige Kontrollen an. Wie gesagt: niemand weiß letztendlich, wie sie als
Kind darauf reagieren wird. Die Dosis wird runtergerechnet. Nach drei
Therapiezyklen erfolgt eine MRT-Verlaufskontrolle. Schreitet die Erkrankung
fort, wird abgebrochen. Stagniert das Tumorwachstum, wird über eine
Nachoperation nachgedacht. Bildet sich die Tumormasse zurück, folgen drei
weitere Therapiezyklen. Derzeit wird wieder die Kostenübernahme bei unserer Krankenkasse
beantragt - die Dortmunder reagieren so zügig und engagiert. Eine Kopie des
Schreibens liegt uns bereits vor. Die Kosten für ein Vierteljahr belaufen sich
auf rund 30.000 Euro. Zudem haben unsere Ärzte sicherheitshalber einen
(anteiligen) Kostenvorschuss bei der Organisation "Ein Herz für
Kinder" gestellt, um die ersten drei Monate überbrücken zu können, falls
es zu Verzögerungen kommen sollte oder die Kasse ablehnt. Sie sind wirklich
wahnsinnig engagiert - Hut ab. Die Mail erreichte mich erst gerade eben und wir sollen
den Antrag schnellstmöglich unterschrieben zurückgeben, damit alles noch vor
den Feiertagen auf den Weg gebracht und zügig begonnen werden kann. Nach Ende
der Bestrahlung - in circa zwei Wochen – wollen sie mit der Therapie starten.
Ich mag Trampelpfade... wir werden uns vorwärts wagen - vorsichtig, behutsam, aufmerksam.
Und wir werden Angst haben. Angst davor, was uns, was Vianne hinter der nächsten
Wegbiegung und letztendlich am Wegende erwartet...
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen