Donnerstag, 5. Februar 2015
Wie
schnell sich Situationen urplötzlich ändern können, mussten wir die letzten
Tage schmerzlich erfahren. Wir mussten die Protonentherapie in der Schweiz
abbrechen und sind derzeit mit Vianne in der Neurochirurgie der Uniklinik
Essen.
Am
Sonntagmorgen genossen wir bei einem ausgiebigen Frühstück den
bestrahlungsfreien Tag. Ich war etwas beunruhigt, weil Vianne sich wieder um
acht Uhr auf nüchternen Magen ein wenig erbrochen hatte. Doch danach verspeiste
sie genüsslich ihr Brötchen. Es hatte die Nacht wieder viel geschneit, und ganz
Waldshut lag unter einer friedlich anmutenden Schneedecke. Wir beschlossen, ins
Wildgehege zu fahren. Dick eingepackt in unsere Schneeanzüge und mit den
Schlitten im Gepäck machten wir uns auf den Weg zu Hirsch und Wildschwein.
Voller Eifer fütterten und streichelten die Mädels die Ziegen und bewunderten
die bernsteinfarbenen Augen des mächtigen Uhus, der uns in seinen Bann nahm.
Vianne hielt ihr Futterpaket für die Tiere ganz umständlich in der rechten Hand
und pickte mit links (der geschickteren Hand) die Körner aus der Papierbox.
Immer wieder entglitt ihr die Packung, als ob sie kaum Kraft in ihrer rechten
Hand hätte. Während der Umrundung des Wildschweingeheges fiel mir auf, dass ihr
andauernd Speichel aus dem rechtenMundwinkel
lief. Ich wurde unruhig. Als ich sie mit dem Schlitten den Berg hinauf zog,
baumelte ihr rechter Arm kraftlos an ihrer Seite. Wir entschieden, zum Auto
zurückzukehren. Auf der Rückfahrt hielten wir noch kurz in Waldshut, weil wir
uns den großen Faschingszug anschauen wollten. Die Straße zu unsererFerienwohnung
war sowieso wegen des Umzugs gesperrt. Vianne war ruhig - auffallend ruhig –
während Hexen, Trolle und andere seltsam gewandete Gestalten an uns vorbeitanzten. 'Während Ada
von einer Hexe zu einem Ritt auf ihrem Besen eingeladen wurde (die große Hexe
erkannte anscheindend die kleine Hexe in Ada), kuschelte Vianne sich an mich.
Sie sprach wenig. Ich fragte sie, ob wir in unsere Ferienwohnung zurück sollten.
Sie nickte. Dort angekommen, fing sie einen Satz an - und stockte. Schließlich
quälte sie ein kaum verständliches Wort hervor. "Was hast du
gesagt?", fragte ich sie erstaunt. Sie setzte erneut an, kam nicht weiter,
während ihr der Speichel aus dem Mundwinkel tropfte. Mir wurde eisig kalt. Sie
versuchte noch mit Ada zu spielen, setzte zum Sprechen an, gurgelte und
murmelte undeutlich, dass sie nicht mehr spielen wolle. Sie krabbelte aufs Bett
und rutschte ab. Sie weinte. Ich tröstete sie zitternd. "Vianne, alles gut
mit dir?", fragte ich ängstlich. Sie nickte. "Bitte sprich mit
mir", bat ich sie. Sie nickte. "Sag einmal Ada", forderte ich
sie auf. Angestrengt versuchte sie, dieses kurze Wort zu formulieren. Heraus
kam ein breiiger zäher Laut. Angst kroch hoch. Ich sagte Andi, dass ich sofort
im Kinderspital in Zürich anrufen werde. Zum Glück hatte ich die Nummer parat.
Andi führte als Alternative das Waldshuter Krankenhaus an, das nur wenige
Minuten entfernt lag. "Die kennen sich mit Viannes Fall nicht aus",
meinte ich. Ich rief in Zürich an, schilderte die Situation. Die Schwester am
anderen Ende der Leitung wirkte ruhig, routiniert, stellte wichtige Fragen, zum
Beispiel wo wir gerade wären und wie schnell wir hier sein könnten. Sie wolle
eben Rücksprache halten und mich sofort wieder anrufen. Kurz darauf meldete sie
sich schon wieder und erklärte uns, wo wir die Notaufnahme finden und dass wir
an allen anderen Leuten im Wartebereich vorbeigehen sollen bis zum
"Teddybär" und uns direkt an eine Schwester wenden sollen. Die Fahrt
dauerte zermürbende 50 Minuten. Nur mühsam konnte ich meine aufkeimende Panik
in Schach halten. Andis Anwesenheit tat gut. Sie beobachtete Vianne, während
ich fuhr. Ich war heilfroh, als wir endlich das Spital erreichten. Sofort
wurden wir in einen Untersuchungsraum gebracht. Vianne wirkte ganz ruhig. Sie
sprach kein einziges Wort mehr. "Hast du Angst, mein Schatz", fragte ich
sie. Sie schaute mich völlig in sich ruhend, völlig in die tiefsten Tiefen
ihres Selbst gekehrt mit großen Augen an und schüttelte ihr Köpfchen. Sie
konnte ihren Arm nur noch ganz schwach heben. Ich weinte endlich. Eine
Anästhesistin vom PSI (sie alle arbeiten normalerweise im Kinderspital in
Zürich) kam sofort besorgt zu uns: "Frau Stember, ich habe ihren Namen
gerade eben auf der Notfallliste gesehen..." sagte sie und umarmte mich
mitfühlend. Die Ärzte ordneten sofort ein CT an, um eine Hirnblutung
auszuschließen. Vianne hatte Angst vorm CT, machte aber mit. "Keine
Hirnblutung", lautete die erste Entwarnung. Ich schluchzte erleichtert
auf. Vianne erhielt hoch dosiert Kortison. Die Ärzte vermuteten ein Ödem,
welchesHirndruck
verursachte. Wir wurden stationär aufgenommen und engmaschig überwacht:
Blutdruck, Pupillenreaktion, Temperatur, neurologische Tests - die ganze Nacht
hindurch immer wieder. Ich rief Micha an. Er war außer sich vor Angst. Wir
überlegten hin und her, wie und wann er zu uns kommen kann. Obwohl er - ebenso
wie ich - wie betäubt war, schaffte er es, seine Abfahrt für den nächsten
Morgen zu organisieren. Andi bot an, mit Ada in der Nacht bei mir zu bleiben.
Ich schickte sie zurück in die Ferienwohnung. Ich fühlte mich an die erste
Nacht in Kiel erinnert, als wir erstmals die schreckliche Diagnose erhielten.
Mir war wieder kotzübel vor Verzweiflung. Am nächsten Morgen konnte Vianne
ihren rechten Arm gar nicht mehr bewegen. Sie kam ins MRT. Der runde Tumor in
der Primärregion war beinahe unverändert, das wolkige Areal daneben hingegen
förmlich explodiert und innerhalb von drei Wochen von wenigenMillimetern
auf über einen Zentimeter angewachsen. Die Ärzte berieten sich mit den
Strahlentherapeuten vom PSI, mit Neurologen und Onkologen. Fazit:
Wahrscheinlich Tumorwachstum, da die hohen Kortisongaben nicht die erwünschte
Wirkung, nämlich einen schnellen Rückgang der Ausfälle, erzielten. Dennoch
gaben sie weiterhin Kortison, da auch ein Tumor Flüssigkeitsanteile hat und
somit eine Druckminderung entstehen kann. Vianne war nach wie vor ruhig, sprach
vereinzelte, sehr undeutliche Wörter und wurde zunehmend genervter, wenn wir
sie nicht auf Anhieb verstanden. Es war so befremdlich. Sie wirkte dabei so
klein, so hilflos, so verletzlich. Sie bekam Fieber. Weitere Anästhesisten, die wir vom PSI kannten,
besuchten uns während ihres Dienstes im Zimmer und waren erschüttert von dieser
Entwicklung. Sie konnten sich eine so gravierende Strahlennebenwirkung nicht
erklären, da wir ja gerade einmal vier Tage behandelt hatten und zudem keine Bestrahlung
in dem betroffenen Hirnareal stattgefunden hat. Am nächsten Morgen brachten sie
uns einen farbenfrohen Blumenstrauß vorbei und eine Karte, auf der wunderbare
Zeilen vermerkt waren mit warmen Worten voller Anteilnahme. Von allen Seiten
wurden wir umsorgt. Wieder konferierten die Ärzte der verschiedenen
Fachgebiete. Fazit: schnelles Tumorwachstum. Sie entschieden, die
Protonentherapie abzubrechen. Es war uns schon klar gewesen. Sie nahmen Kontakt
zu unseren Dortmunder Onkologen und den Essener Neurochirurgen auf. Am
Nachmittag traf Micha in Zürich ein. Er war geschockt, Vianne so klein, blass
und eingeschränkt in ihrem Bett liegen zu sehen. Eng aneinandergekuschelt brach
sich die schiereVerzweiflung
Bahn. Aber wir waren wieder zusammen - das half uns für den Moment...
In
der Nacht, um halb 2, bekam Vianne einen schlimmen Krampfanfall, der nur schwer
zu durchbrechen war. Die erste Medikamentengabe schlug nicht an. Die Ärztin
hielt Rücksprache und verabreichte eine weitere Dosis. Wir dachten, wir verlieren
sie. Genau jetzt. Genau hier. Ihr rechtes Auge zuckte ununterbrochen, ihre rechte
Hand ebenso - etliche Minuten lang, während sie immer und immer wieder ein und
dasselbe unverständliche Wort wiederholte. Zuerst war ich wie gelähmt vor
Panik, stammelte nur, dann setzte ich mich hinter sie ins Bett, nahm sie in den
Arm, sang ihr etwas vor. "Die Sauerstoffsättigung ist gut", hörte ich
dieÄrztin
wie durch Watte sagen. Dann fing ich an, mit Vianne zu sprechen, sie in
Lillifees Reich, an den See mit den Lampignons zu locken. Diesen Treffpunkt
hatten wir damals während der langen Chemotherapie ausgemacht, falls sie mal
ganz doll Angst haben sollte. Es wirkte. Irgendwie. Noch bevor der Krampf
aufhörte,
spürte ich, wie Vianne sich innerlich etwas entspannte. Sie war bei mir, das
spürte ich deutlich. Vor lauter Adrenalin zitterte mein rechtes Bein die ganze
Zeit über - unkontrolliert. Vianne fiel anschließend in einen tiefen Schlaf.
Micha und ich wagten nicht, einzuschlafen. Sie kann sich zum Glück an nichts
erinnern.
Die
Ärzte versicherten uns noch in der Nacht, dass solch ein Krampfanfall nicht
lebensbedrohlich ist und keine Schäden hinterlassen hat, da ihre
Sauerstoffsättigung immer gut war. Am nächsten Morgen sprach die Neurologin mit
uns und empfahl, ein Antiepileptikum einzusetzen, da solch ein Krampfanfall
wiederkommen könne. Wir willigten ein. Nach einem weiteren Tag unter
Beobachtung und Kortisongabe gaben die Ärzte grünes Licht für einen
Rücktransport nach Deutschland, der nach zähen Hin und Her mit dem zuständigen Unternehmen
schließlich organisiert werden konnte. Micha fuhr im ärztlich begleiteten
Krankentransport nach Essen mit, ich im Auto nach Hause, wo meine Eltern, Andi
und Ralf (sie hatten sich um Ada, um die Rückführung der Autos und um das
Zusammenpacken in der Ferienwohnung gekümmert), Jesse und Luke auf mich
warteten. Es tat so gut, den Rücken frei zu haben. Ich wäre auch nicht
handlungsfähig gewesen, Micha ebenso wenig.
Das
Kinderspital in Zürich wird uns immer im Herzen bleiben. Wir wurden so warmherzig
umsorgt, etliche Ärzte aus fachübergreifenden Abteilungen kümmerten sich weit
über das übliche Maß hinaus um uns, wir wurden mit heißem Tee und warmen
Croissants vor dem innerlichen Erfrieren gerettet, sahen wahre menschliche
Anteilnahme und Betroffenheit in den Gesichtern, erfuhren kraftspendende Worte
und aufmunternde Geschenke von allen Seiten. Wir lernten den Autor des Buches
"Eugen und der freche Wicht" kennen - den leitenden Arzt der
Kinderonkologie - und wurden von ihm mit einer wunderschönen Zeichnung aus der Feder der
Illustratorin des Buches bedacht, nachdem wir lediglich erwähnt hatten, dass
wir sein Buch kennen und schätzen.
Bereits
während des Krankentransportes verbesserte sich Viannes Zustand erheblich. Seit
Mittwochabend kann sie ihren Arm wieder bewegen, sie spricht wieder fast so
deutlich wie vorher. Das Kortison zeigt also doch seine Wirkung. Wir alle haben
gedacht, dass die Beeinträchtigung irreversibel sei. Die Essener wollen morgen
ein neues MRT. Die Neurochirurgen denken nun doch eher an ein Ödem durch die
Bestrahlung. Die Dezember-Referenzbefunde und die Onkologen gehen jedoch von
Tumorwachstum aus. Wir wissen nun, dassVianne
wahrscheinlich keine kraniospinale Bestrahlung mehr verträgt und ihr somit die
kleine Chance auf Heilung genommen wurde. Für uns zählt aber jetzt gerade nur
der Moment, weil Vianne von Tag zu Tag wieder mehr zu Vianne wird.