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26. November 2016

Echtzeit! Wohlfühl-Zuckerwatte-Wochenende



Sonntag, 8. März 2015


Was für ein wunderbares Wochenende. Wir wurde nicht nur vom Wetter, sondern auch von Familie und Freunden rundum verwöhnt. Am Samstag haben wir mit Ada, Luke und Vianne den Ostermarkt auf einem nahegelegenen Bauernhof besucht und uns die Ostereierfärbemaschine angeschaut. 


Zum Abschluss gab's für die Kinder Zuckerwatte (natürlich zuckerfrei ). Den  Zuckerkonsum nahmen wir in Kauf, denn wir haben lange nicht mehr gemeinsam so herzhaft gelacht. Erst einmal amüsierten wir uns köstlich, als die Zuckerfäden bei der Herstellung durch die Gegend flogen und unsere Kinder wie kleine gierige Geier versuchten, diese Fäden mit dem Mund aufzufangen. Dann war es ein Vergnügen, ihnen beim Verspeisen der klebrigen Masse zuzusehen.

Schließlich hing die Watte überall: in Adas Haaren, auf Lukes Jacke, in Viannes Kragen... Irgendwann fing Micha an, Unsinn zu machen. Er schmierte sich die klebrigen Fäden ans Kinn - und sah aus wie der Weihnachtsmann. Das inspirierte natürlich die übrigen Familienmitglieder. Es war zum Schreien. Wir lachten so laut, dass sich etliche Besucher nach uns umdrehten. Es tat so unglaublich gut, herzhaft zu lachen. Es war befreiend, reinigend, belebend. Am späten Nachmittag kamen Andi und Ralf vorbei, um auf die Kinder aufzupassen. Sie bescherten uns einen freien Abend im Saunadorf. Nach ausführlichen Aufgüssen, eiskalten Duschen, einigen Runden im Pool und einem leckeren Abendessen kehrten wir gestärkt zurück.

Bereits beim Aufwachen hatte ich heute gleich gute Laune: die Sonne lachte uns an, die Krokusse blühten im Garten. Jesse verspeiste genüsslich einen riesigen Berg selbstgebackene Pancakes, bevor er und Micha die Gelegenheit zum Wakeboardfahren ergriffen. Ich machte mich mit den übrigen Kids auf den Weg zu unseren "Bochumern", mit denen wir einen unbeschwerten, unkomplizierten und amüsanten Nachmittag auf der Terrasse, auf dem Spielplatz und in der Eisdiele verbrachten. Wir wurden nach Strich und Faden verwöhnt, umsorgt und mit liebenswerten Geschenken überschüttet, während wir uns andauernd über die "Ruhrpott-Kulisse" lustig machten. Ada und Vianne kuschelten sich ganz vertraut neben Ralf auf die Bank, Luke schnappte sich das Schnitzmesser und einen Holzblock, Hagen jagte ihn später über den Spielplatz, Sasse half Vianne beim Klettern, ich quatschte mit Gabi, alle drei Kinder saßen Probe auf Ralfs Motorrad, Sasse machte tolle Fotos, dann noch ein Abstecher zu Tom und Ane und Hugo (und noch mehr Geschenke) - jeder ist mit jedem vertraut. Ein wunderbarer Nachmittag. 


DANKE BOCHUM! Morgen passen wir die Maske für die Bestrahlung an. Aber heute ist noch heute.


Echtzeit! Ranzenglück


 Freitag, 6. März 2015


Seitdem der Infekt abgeklungen ist geht es Vianne merklich besser. Oder hat es doch etwas mit den Besuchen beim Heilpraktiker/geistigen Heiler zu tun? Wir wissen es nicht, aber es ist auch egal, solange es ihr gut geht. Am Mittwoch war Vianne das erste Mal seit langem wieder im Kindergarten - eine Stunde lang. Sie hat sich zwischen ihren kleinen Freundinnen so wohl gefühlt, und ich durfte ein glückliches kleines Mädchen abholen. Am Dienstag ist sie dann gemeinsam mit Ada bis zum Mittagessen geblieben. Es hat gut geklappt. Sie kann zwar nicht immer so mithalten, aber sie lässt sich auch nicht unterkriegen. Als die übrigen Kinder Katze spielten und auf allen Vieren davon krochen, humpelte sie auf drei "Pfoten" hinterher. Und dabei wirkte sie weder unglücklich noch betrübt. Ihre Hand hat die Stützkraft noch nicht wiedererlangt. Aber es wird besser. Die Handmotorik kommt zurück. Sie kann schon wieder greifen und loslassen. Heute habe ich sie beobachtet, wie sie in jeder Hand ein Tuch hielt, während sie tanzte. Das sind kleine Glücksmomente.

Gestern haben wir Schultornister gekauft. Was für eine Aufregung. Mit dem Ranzen auf dem Rücken konnte ich mir das erste Mal wirklich vorstellen, dass meine Mädels im August in die Schule kommen. Wie stolz beide waren, als sie im Laden mit den unterschiedlichsten Modellen auf und ab flanierten. 


Ada hat sich letztendlich einen rosafarbenen Tornister mit Reh, roten Punkten und Pilzen ausgesucht, Vianne einen apfelgrünen mit pinkfarbenem grazilem Muster und zwei niedlichen Koalabären obendrauf. Während des Einkaufs bekam ich einen Anruf aus dem Dortmunder Strahlenzentrum. Wir konnten bereits am nächsten Tag - am heutigen Freitag - zum Aufklärungsgespräch, zur Terminabsprache und "Probeliegen" vorbeikommen. Mit Ada im Schlepptau mischte Vianne "den Laden" innerhalb kürzester Zeit auf und galoppierte mit ihrem Playmobil-Pferdchen über die Handläufe an den Wänden. Besonderen Spaß fanden die Damen daran, den elektrischen Türöffner andauernd zu bedienen. Anschließend rannten sie etliche Male den kameraüberwachten Gang rauf und runter, um sich zeitverzögert auf dem Computer-Monitor betrachten zu können. War ich froh, dass Micha dabei war. Durch gemeinsamen Einsatz schafften wir es doch noch ganz gut, dem Arztgespräch zu folgen. Aber es wäre auch egal gewesen, wenn wir weniger mitbekommen hätten: die Gespräche sind uns einfach viel zu vertraut. Wir kennen das Procedere, Daten und Fakten, Nebenwirkungen und Langzeitfolgen. Traurig - aber wahr. Die Ärzte und Mitarbeiter gingen erfahren und gezielt auf Vianne ein, so dass sie schnell Vertrauen fasste und nach anfänglichem Gezicke (der Maltisch wackelte, was sie unglaublich nervte, Ada gab ihr nicht den Buntstift, ...) gut mitmachte. Sie ließ sich, nachdem Ada es tapfer vorgemacht hatte, einen "Strumpf" über den Kopf stülpen, der später unter der Maske sitzt. Irgendwann hatten Ada, Vianne und Micha solch eine Strumpf auf, spätestens da konnte ich mir ein Grinsen nicht mehr verkneifen. 
 
Da im Simulator gerade eine Testreihe gefahren wurde, legte sich Vianne zum ersten "Probeliegen" auf den Tisch vor den Computermonitoren. Später durfte sie noch auf der richtigen Behandlungsliege Platz nehmen und ließ sich, noch ein wenig skeptisch guckend, auf und ab fahren. Sie soll die Bestrahlungen des Rückenbereichs wach meistern - ohne Narkose. Ich traue es ihr zu. Der erste Versuch heute lässt hoffen. Die Dortmunder legen sich mächtig ins Zeug. Während Dr. B. mir am Donnerstagabend den Zwischenstand der Planungen per Mail mitteilte (total nett und über das herkömmliche Engagement hinausgehend - finde ich), hatten wir bereits den ersten Vorbereitungstermin im Strahlenzentrum vereinbart. Es läuft. Am Montag haben wir den nächsten Termin zur Anfertigung der Maske - zur Fixierung und korrekten Lagerung unter der Bestrahlung. 25 Mal sind geplant. Hoffentlich verschafft uns die Bestrahlung Zeit. Nüchtern und klar steht in dem Aufklärungsbogen: "Hochpalliative Indikation". Vor der Maskenanfertigung haben wir noch ein Treffen mit unserem Heilpraktiker/ geistigen Heiler. Ich glaube immer mehr daran, dass er Vianne gut tut. Aber vielleicht klammere ich mich auch nur an diese Hoffnung. Die Zeit wird es letztendlich zeigen.... Wie Astrid Lindgren es schon so treffend formulierte: "Lass dich nicht unterkriegen. Sei frech und wild und wunderbar! Liebe Vianne: Sei genau so!

Echtzeit! In guten Händen



Dienstag, 3. März 2015


Gleich am Montagmorgen rief Dr. B. an, um noch für denselben Tag einen Termin für die EMTA-Blutabnahme für Heidelberg und die Unterschrift für die Inform-Studie zu machen. Wie angenehm. Kein lästiges "sich-andauernd-kümmern-und-hinterher-sein-müssen", wie wir es zum Teil an der Uniklinik kennengelernt haben. Es läuft einfach. Es läuft zügig. Das tut gut. Das ist entspannend. Das ist das, was wir momentan brauchen. Jemand, der weitestgehend die "Zügel" in die Hand nimmt und uns führt. Natürlich werden wir weiterhin zurückscheuen, wenn uns etwas irritiert, aber ansonsten trotten wir eine Zeitlang gerne hinterher.

Vianne ist seit Montagabend endlich fieberfrei. Seit heute isst sie auch wieder mehr. Die vergangenen Tage hat sie sich größtenteils von reinem Naturyoghurt ernährt. Sie weiß am besten, was ihr gut tut, trotzdem haben wir uns gesorgt. Ihre tiefen Augenringe, die dünnen Beinchen und ihr blasses, noch von den letzten Kortisonresten leicht aufgedunsenes Gesicht machten es nicht besser. Erst wenn sich das typische "Vianne-Grinsen" von einem zum anderen  Mundwinkel ausbreitete, atmeten wir etwas auf. 

Die ständige Anspannung lässt uns fast durchdrehen. Hilfe bot sogleich die Psychologin von der Kinderonkologie an, als wir am Montagmittag dort waren. Aber was sollen wir ihr erzählen? Vielleicht nutzen wir das Angebot - irgendwann - demnächst - bald....

Die Blutabnahme über die Vene war wieder mit Tränchen verbunden, aber Vianne verzeiht Dr. B. mehr als anderen Ärzten, zum einen, weil er es einfach gut macht, zum anderen, weil er sie wahrnimmt - weil er (nicht nur bei der Vene) einen Zugang zu ihr gefunden hat. Das spürt sie. Sie mag ihn sehr, auch wenn sie in seiner Gegenwart immer etwas schüchtern tut. Wir beide fühlen uns wohl auf der Station. Wir wurden herzlich von den Schwestern begrüßt. Wir sind in guten Händen! Hinterher im Auto kicherte Vianne und meinte schelmisch: "Beim Blutabnehmen ist die Nadel einfach zu früh rausgehüpft - ich glaube, das sollte nicht so sein." Nein, sollte es nicht, aber es war egal, weil nämlich nicht neu gestochen wurde, sondern das Blut vom Handrücken direkt ins Röhrchen laufen durfte. "Das ist jetzt eine etwas unkonventionelle Art der Blutabnahme.... ", so der ärztliche Kommentar. Finde ich gut. Alles andere ist schmerzlich: Es schmerzt, nach vorne zu blicken, weil sich die nahe Zukunft so grau abzeichnet. Es schmerzt, in die Vergangenheit zu blicken, weil es uns daran erinnert, was wir hatten. Also bleiben wir im Hier und Jetzt. Was aber, wenn das Hier und Jetzt auch zum Schmerz wird...
 
Jesse findet Viannes unfreiwillige Frisur ziemlich cool... Ich auch...

Echtzeit! Wieder Fieber



Sonntag, 1. März 2015


Ich hätte den Mund nicht so voll nehmen sollen: Viannes Immunsystem hat den Infekt doch nicht in den Griff bekommen. Am Freitagabend kam das Fieber wieder, während nun Ada fieberfrei ist. Seitdem hält es sich konstant. Vianne sieht fertig aus und schläft viel. Eigentlich wollten wir am Wochenende zum Ponyreiten. Vianne meinte von sich aus, sie sei zu müde dafür und kuschelte sich aufs Sofa. Also bin ich nur mit Ada gefahren, denn die musste nach der Zwangspause Zuhause endlich raus, sich bewegen und etwas unternehmen. Es war schön, einmal nur Zeit mit Ada zu verbringen und mich voll und ganz auf sie konzentrieren zu können. Wir hatten ein zotteliges, flauschiges, gutmütiges kleines Pony namens Milla bekommen, dass sich scheinbar ebenso über den Ausritt zu freuen schien wie wir. Auch ich war zu lange nicht mehr draußen gewesen. Es tat gut, durch den Wald zu streifen, frische Luft zu tanken und den Wind im Gesicht zu spüren. Und es war befremdlich, mit nur einem Zwilling unterwegs zu sein. Sofort musste ich daran denken, ob das unsere Zukunft sein wird.

Ich will so viel in die nächste Zeit packen, dass ich gar nicht mehr weiß, wo ich anfangen soll. Es gibt noch kein Konzept. Am liebsten würde ich sofort mit der ganzen Familie für mehrere Monate in die Sonne, ans Meer, in die Berge fahren. Doch wir wissen nicht, wie sich die Ausbreitung des Tumors und seiner Metastasen in den nächsten Monaten verhält. Schweren Herzens habe ich heute unser Ferienhaus auf Mallorca für die Herbstferien abgesagt. Wir wollen für alle kommenden Ferien spontan entscheiden. Wir müssen spontan entscheiden. Morgen haben wir unseren dritten Termin bei unserem Heilpraktiker/ energetischen Heiler. Noch immer bin ich mir nicht sicher, was ich von ihm und seinem Einsatz halten soll. Wie gern würde ich daran glauben, dass er etwas schafft, was die aggressiven schulmedizinischen Maßnahmen nicht geschafft haben. Wie gern würde ich daran glauben, dass er Viannes Selbstheilungskräfte aktiviert. Kann ich aber nicht, zumindest nicht so, wie ich es mir wünschen würde. Ab morgen liegen auch wieder viele anstehende Aufgaben in den Händen der Dortmunder Ärzte: wir brauchen einen Termin zur Aufklärung, Einwilligung und Blutabnahme für die Inform-Studie, für die sich Vianne aus Expertensicht qualifiziert und die in Kürze starten soll. Inform steht für "INdividualized Therapy For Relapsed Malignancies in Childhood". Es muss schnell gehen. Wieder einmal sitzt uns die Zeit im Nacken. Zwei der unzähligen Aufnahmekriterien lauten sinngemäß: Das Kind muss noch länger als drei Monate leben und in einem stabilen gesundheitlichen Zustand sein. Es liest sich so kalt, so nüchtern, aber so sieht die Realität aus - uns es macht Sinn. Studien müssen vernünftig angelegt sein, damit man aus ihnen Erkenntnisse gewinnen kann. Die Studie ist für zukünftige Generationen gedacht. Wenn wir etwas daraus ziehen können, wenn die genetische Analyse von Viannes Tumormaterial uns einen Hinweis gibt, wie es noch gezielter individuell angreifbar ist und es schon ein entsprechendes Mittel auf dem Markt gibt, haben wir einfach Glück gehabt - und Zeit gewonnen. Ebenso zügig muss die Bestrahlung des befallenen Rückenmarkbereichs starten - wir hoffen, dass es in Dortmund möglich sein wird. Warten wir zu lange,  riskieren wir eine Lähmung bei Vianne. Allerdings brauchen die heimischen Radiologen wieder den Bestrahlungsplan der Schweizer, weil Vianne bereits viermal 1,8 Gy auf den Rücken bekommen hat.

Echtzeit! Wir funktionieren


Donnerstag, 26. Februar 2015


Eine Woche ist vergangen, seitdem wir das Krankenhaus verlassen haben. Erst eine Woche - und diese Woche erscheint nur noch so blass wie ein zweitklassiges Buch, das man eben erst gelesen hat, an dessen Handlung man sich aber kaum noch erinnern kann. Weil es einen nicht so richtig interessiert hat. Weil es einen nicht packen konnte. Uns kann das Leben gerade auch nicht so richtig packen. Wir funktionieren, mal besser, mal schlechter. Vianne funktioniert erstaunlich gut, trotz der Beeinträchtigungen -oder vielleicht den Beeinträchtigungen zum Trotz? Sie funktioniert, als ob sie noch nie ein anderes Leben gekannt hat. Mit unglaublicher Ausdauer versucht sie, der Barbie-Puppe mit nur einer funktionierenden Hand ein Kleid überzustreifen oder ein widerspenstiges Playmobil-Pferd aufzuzäumen. Sie kichert häufig. Sie ist an sich gut gelaunt.
Freitag war sie zu Besuch bei einer kleinen Freundin - eine gute Stunde hatte ich ihr zugesichert. Sie fand es so toll, dass sie gleich wieder hin möchte. Der Samstag war ein Desaster. Obwohl wir uns so anstrengten, einen schönen Tag zu verleben, passte alles nicht. Zudem hatte Luke nun doch ein grippaler Infekt eingeholt, der sich schon am Freitag angekündigt hatte. Wir waren einfach nur angespannt. Am Sonntag konnten wir uns schließlich aufraffen, raus zu gehen, zumal Luke wieder fieberfrei war. Wir besuchten den kleinen, überschaubaren Tierpark in Bochum. Die zahlreichen Besucher um mich herum stressten mich, unsere Kinder redeten alle voller Begeisterung gleichzeitig auf mich ein. Wie zäh alles plötzlich scheint, wenn man zutiefst unglücklich ist. Alles in allem hatte sich dieser Tag aber schon eine bessere Note verdient.
Am Montag warteten wir vergeblich auf einen Anruf aus der Essener Uniklinik. Eigentlich sollte das weitere Vorgehen mitgeteilt werden. Als wir schließlich anriefen, war kein Arzt mehr verfügbar. Am Montagabend fieberte und hustete Vianne plötzlich. Die Nacht verlief erstaunlich ruhig, so dass ich Hoffnung hatte, mit einem halbwegs infektfreien Kind den energetischen Heiler/ Heilpraktiker am nächsten Vormittag aufzusuchen, mit dem wir in der Vorwoche kurzfristig einen Termin vereinbaren konnten. Vianne fieberte jedoch weiter. Micha und ich fuhren trotzdem mit ihr. Nachmittags stieg die Temperatur schließlich auf über 40 Grad
Celsius und Vianne wirkte total fertig und schläfrig. Ich telefonierte mit den Ärzten, während ich abwechselnd fiebersenkende Mittel gab und Wadenwickel machte. Zum Glück waren meine Eltern da und konnten sich um die übrigen Kinder kümmern. Zur Sicherheit kam abends noch unser Kinderarzt vorbei und horchte Vianne (und Ada) ab, und auch unser Dortmunder Klinikteam konnte uns vorab telefonisch beruhigen, dass Vianne nicht höher gefährdet sei, auch nicht aufgrund der erst kürzlich gelaufenen Operation. Ich bin so froh, dass wir uns damals bewusst für die Dortmunder Kinderklinik entschieden haben. Unser Onkologe rief zügig zurück, nachdem ihn eine Schwester über meinen Anruf informiert hatte. Noch am selben Abend war der Fieberschub vorbei - während bei Ada das Fieber gerade aufflammte - bis heute. Es ist schon seltsam. Viannes Immunsystem hat den Infekt unglaublich schnell in den Griff bekommen, schneller als Lukes und Adas. Gegen ihren "Scheiß Wicht" scheint sie aber machtlos zu sein.
Am Dienstag meldete sich dann die Essener Neurochirurgie: "Weitere Operationen machen keinen Sinn." Heute hatten wir den Gesprächstermin mit der Expertin für Ependymom-Rezidive in Essen. Micha musste allein hinfahren, da Ada nach wie vor hoch fiebert. Aufgrund einer "Telefonkonferenz" konnte ich aber trotzdem an dem Gespräch mit der Onkologin teilnehmen. Eine neue Studie wird wahrscheinlich bald geöffnet, da könnte Vianne reinpassen. Dabei wird noch intensiver molekular-genetisch geforscht, um Vianne evtl. ein zielgerichtetes Medikament anbieten zu können. "Es tut sich gerade ganz viel in dieser  Richtung", informierte die Expertin. Bis dahin sollen wir die heikle Stelle im Rückenmark möglichst schnell bestrahlen lassen. Wir könnten Vianne auch noch ein Medikament (Vorinostat) geben, das einen Signalweg des Tumors blockiert. Diese Therapiemöglichkeit kennen wir bereits aus den Ergebnissen, die die molekular-biologische Untersuchung ergeben hat, die nach dem ersten Rezidiv veranlasst wurde. All die derzeit zur Verfügung stehenden Behandlungen sind in Viannes Fall rein palliativ.
Die Fäden sind seit heute raus - Vianne hat es wieder tapfer über sich ergehen lassen. Die Funktion ihres rechten Armes hat sich weiter verbessert. Sie scheint sich von den Strapazen der letzten zwei Wochen zu erholen.

Echtzeit! Unecht



Donnerstag, 19. Februar 2015


Es ist echt und fühlt sich doch so unecht an. Vianne hat zwei neue Tumore im Rückenmarkskanal. Wir sind zuhause. Sie hat sich so gefreut, wieder zuhause zu sein. Ada hat Luftschlangen und Ballons aufgehängt. Keine weiteren Operationen. Mein Versprechen gegenüber Vianne, Ada, Luke, Jesse und Micha gilt nach wie vor. Aber ich weiß ehrlich gesagt noch nicht, wie wir die nächsten Tage, Wochen, Monate überstehen sollen... Ich weiß es nicht...ich weiß es nicht...ich weiß es nicht... Ich gebe Vianne nicht auf. Ich kann sie nicht aufgeben. Noch nicht. Auch wenn Tränen, Verzweiflung und eine schleichende Hoffnungslosigkeit immer mehr Raum einnehmen. Ich werde es nicht zulassen, dass das Lachen vollends aus unserem Leben verschwindet. Ich möchte Vianne noch ganz oft Kichern hören... so wie heute, so wie gestern, so wie morgen.




Echtzeit! Bestätigt



Mittwoch, 18. Februar 2015

Es besteht kein Zweifel mehr: es ist definitiv noch Resttumor in Viannes  Köpfchen. Der Arzt bestätigte es während der Nachmittagsvisite. Vianne hörte zu und saß blass und gefasst auf ihrem Bett. Die Beinchen baumelten über den Bettrand. Nachdem der Arzt gegangen war, fragte ich sie, ob sie verstanden hätte, was er gesagt hat. "Ja Mama, da ist noch ein Stück in meinem Kopf." Keine Träne, nur diese wissenden, viel zu erfahrenen Augen, die mich ernst anblickten. Ich musste mit den Tränen kämpfen. "Maaama", meinte sie genervt, jetzt hör doch auf." Zum Glück kam Andi kurze Zeit später, so dass ich nach draußen laufen konnte. Danach ging es besser und ich hatte wieder Kraft, mit Vianne herum zu albern. Andi sucht händeringend nach einem Ausweg und hat viele gute Ansätze hervorgetan und zu den entsprechenden Stellen/ Personen ersten Kontakt aufgenommen - vom energetischen Heiler bis hin zu Studien mit dendritischen Zellen. Ich bin ihr sehr dankbar dafür, ich habe diese Kraft  momentan nicht. Aber wir werden die Ansätze in den kommenden Tagen aufgreifen. Morgen steht das Wirbelsäulen-MRT an. Danach dürfen wir nach Hause. Je nach Ergebnis werden die Ärzte weitere Vorgehensweisen anbieten. Sollten sie neue Metastasen an der Wirbelsäule finden, müssen wir gar nicht erst über eine Nach-Operation nachdenken.
Heute haben sich Ada und Vianne nach mehreren Tagen das erste Mal wiedergesehen. Sie tauschten ihre neuen Kuscheltiere für ein bis zwei Nächte aus. Sie nahmen sich gegenseitig ganz fest in den Arm - und dann wurde gespielt. Zuhause hatte mir Ada erst heute Morgen wieder erklärt, wie "laaaaangweiiiiliiiiig" es doch ohne Vianne ist. Sie wüsste gar nicht, was sie spielen sollte. Einträchtig schlürften sie im Krankenhaus-Spielzimmer eine Erdbeermilch aus ihren Strohhalmen. Später fuhren sie mit Viannes Krankenhausbett nach ganz oben. "Wow, wie hoch, wie ein Hochbett", quiekten sie vergnügt. "Was für ein Ausblick, Ada", meinte Vianne ehrfürchtig, während sie aus "unglaublichen" 1,40 Meter Höhe vergnügt durch die Gegend guckte. Ada interessierte sich mehr für die neue Pferde-Zeitung.
Andi hat es heute geschafft, mir wieder mehr Mut zu machen. Und mein Mut überträgt sich auf Vianne. Das ist wichtig - das ist gut. Sie wirkt zwar immer so gefasst und tapfer, aber zwischendurch bricht sie wegen Kleinigkeiten in Tränen aus - das zeigt mir, dass auch sie mental wackelt. Heute habe ich es geschafft, Vianne vorm Einschlafen noch wichtige Worte mit auf den Weg ins Traumland zu geben. "Hör mir gut zu, wir schaffen das. Schließlich willst du dir doch bald einen Tornister aussuchen und zur Schule gehen." Sie nickte lachend. Das ist unser Ziel! Ich sehe Vianne einträchtig neben Ada morgens im Halbdunkel zur Schule
laufen - mit wunderbar leuchtenden rosa-roten Ranzen.

Echtzeit! Schimmer und Schatten



Dienstag, 17. Februar 2015


Obwohl es draußen grau und trüb war, leuchtete Vianne von innen wieder etwas -  zwar entdeckte ich anfangs nur einen zarten Schimmer ihrer Selbst, aber es war zumindest ein Schimmer. Sie wirkte etwas gelöster, weniger wütend. Sie hatte zwar viel Angst, als heute Vormittag der letzte verbliebene Zugang, der zentralvenöse Katheter am Hals gezogen wurde, aber danach (und nach dem Pflasterwechsel am Kopf) entspannte sie merklich. Ich durfte ihr sogar die letzten verbliebenen zauseligen Haare auskämmen und sie frisch machen. Die Ärztin hatte ihr versichert, dass sie sie heute "nicht mehr belästigen" werde. Vianne begann endlich wieder zu spielen. Gemeinsam stylten wir ihre neue Frisierpuppe. Die bekam unglaublich viel Rouge verpasst, so dass sie aussah, als sei sie zu lange in der Sonne gewesen. Als Kosmetikerin hat Vianne keine Zukunft. Danach flochten wir der Puppe mehrere Zöpfe und probierten immer wieder neue Frisuren. Anschließend wollte Vianne sich im Spiegel betrachten. "Ich finde mich hübsch, Mama", sagte sie selbstbewusst, während sie sich prüfend im Badspiegel anschaute. Wie Recht sie hat. Sie ist hübsch, denn ihre Augen haben diesen besonderen Schimmer. Viannes rechter Arm macht nur langsam Fortschritte, aber er macht Fortschritte. Am schönsten aber war heute, dass wir zwei wieder gemeinsam lachen konnten. Zusammen mit Micha, der mich am frühen Nachmittag im Krankenhaus ablöste, spielten wir mehrere Runden Uno, wobei Vianne dreimal in Folge gewann. Sie freute sich und fing an, Quatsch zu machen, nannte uns "Streithammel", weil wir uns gegenseitig neckten und uns über den jeweiligen Verlierer lustig machten. Da war es wieder, das wunderbare verschmitzte Vianne-Kichern. Erleichtert fuhr ich nach Hause. Doch die Erleichterung sollte nicht lange anhalten. Micha rief an. Ich hörte gleich an seiner Stimme, dass etwas nicht stimmte: Die Ärzte haben das postoperative MRT ausgewertet. Sie sehen einen kleinen Schatten in der Tiefe des Operationsgebietes, etwas, das Kontrastmittel angenommen hat - wahrscheinlich Resttumor. Und nun? Die Ärzte wollen in den nächsten Tagen noch ein MRT von der Wirbelsäule. Das letzte ist auch schon wieder über 12 Wochen her. Dann wollen sie sich besprechen. Ich will gar nicht wissen, was wir vielleicht noch sehen werden, noch hören werden... Es hört einfach nicht auf...Ich glaube, jetzt ist ein guter Zeitpunkt, sich Vianne zu schnappen und ganz weit weg von diesen Krankenhäusern zu laufen...Ich will das letzte zarte Schimmern in ihren Augen nicht verlieren... Spätestens am Freitag wollen wir nach Hause.




Echtzeit! Gereizt und ausgebrannt



Montag, 16. Februar 2015


Vianne erholt sich körperlich ganz gut von den Strapazen der Operation. Sie läuft mittlerweile frei (wenn auch weiterhin schleppend), sie kann unter großer Anstrengung den Arm etwas anheben, und wenn sie lächelt, zieht sich ihr rechter Mundwinkel wieder mit nach oben. Leider lächelt sie momentan viel zu wenig.

Zornausbrüche, Gereiztheit, Tränen, Verzweiflung bestimmten den Tag. Da meine Nerven auch blank liegen, sind wir beide heute ganz oft aneinander geraten. Sie will einfach nicht mehr - nichts mehr: kein Pflasterwechsel, keine kitzeligen-verfilzten Haare entfernen, kein Händewaschen nach der Toilette, keine Medizin, keine frische Luft. Und auf dem Höhepunkt ihrer Wut fängt sie bitterlich an zu weinen und wirft sich in meine Arme, bis wir beide schluchzen. Ich würde ihr so gerne Zuversicht spenden - kann ich momentan aber nicht, da ich genauso verzweifelt bin wie sie. Wie gerne würde ich ihr versprechen, dass nach diesem Krankenhausaufenthalt alles gut ist. Kann ich aber nicht. Ich habe meinen Optimismus verloren. Wie soll ich sie aufmuntern, wenn ich es noch nicht einmal bei mir selbst schaffe. Ich hoffe einfach, dass der heutige Tag nur eine Momentaufnahme ist. Vianne scheint ihren Kampfgeist verloren zu haben - wer kann es ihr verübeln. In letzter Zeit sagt sie häufig, dass sie sich wünscht, dass alles wieder wie früher wäre, in der Zeit vor der Erkrankung. "Als ich noch ein Baby war..." (So sieht sie sich rückblickend als Zwei- bis Dreijährige). Ada sagt die gleichen Worte unabhängig von ihrer Schwester. Auch sie wünscht sich von Herzen die Zeit zurück, als Vianne noch gesund war. Ich bin immer häufiger wütend, dass Vianne ein großer Teil ihrer Kindheit geraubt wurde/wird, dass Operationen, Krankenhaushalte, schmerzhafte Eingriffe, Blutabnahmen, Medikamente ihren Alltag bestimmen. Es bricht mir das Herz, wenn ich sehe, wie sie mit ihrer linken Hand ihren rechten Arm hochhebt. Sie soll das Recht haben, herumzuspringen, zu lachen, sich Karneval zu verkleiden, mit beiden Händen Sachen zu greifen und frei spielen zu können. Ich weiß, dass es viele andere Kinder gibt, denen dieses Recht - aus was für Gründen auch immer - ebenfalls genommen wurde. Aber ich sehe momentan nur die vielen glücklichen Kinder. Es macht mich fertig. Ich bin wütend - unbeschreiblich wütend - und diese Wut überträgt sich auch auf meine Tochter. Nur dass ich hier die Erwachsene bin und sie auffangen müsste... Gestern zumindest konnte ich sie letztendlich doch noch zum Lachen bringen. Und Morgen muss das auch wieder klappen. Aber heute lebe ich noch etwas meine Wut aus und starre grimmig aus dem Krankenhausfenster...






Echtzeit! OP-Tag und danach…



Samstag, 14. Februar 2015


Ich komme erst jetzt dazu zu schreiben, es war zu viel die letzten zwei Tage. Die Operation verlief gut – ohne irgendwelche Komplikationen. Um viertel vor 12 wurden wir abgeholt. Da sie das Dormicum nicht als Zäpfchen hatten, wurde Vianne der blaue Saft angeboten, den sie natürlich verweigerte. Das hätte sie schließlich schon vorher gesagt. Micha trug sie auf seinem Arm sicher zum OP-Bereich. Sie schmiegte sich eng an ihn und wollte nicht im Bett gefahren werden.

Wir fragten sie, ob sie Angst hätte. "Nein." Der ältere, freundliche Anästhesist, der den Abend zuvor die Aufklärung übernommen hatte, erwartete uns. Er  begrüßte Vianne freundlich und versuchte, sie sogleich in ein Gespräch über den Hund (aus dem Kindergarten) zu verwickeln. Am Abend zuvor hatte er das Foto auf ihrem Nachttischchen gesehen. Ich hatte Vianne im Vorfeld gefragt, welchen Traum sie träumen wollte in der Narkose. "Peter Pan", antwortete sie prompt. Sie flüsterte mir im OP-Vorraum zu, ich solle das den Ärzten sagen. Ich gab es weiter. Ein anderer Arzt?/Assistent?/Pfleger? zog eine Spritze, gefüllt mit Flüssigkeit, hervor und meinte: "So, hier haben wir den Peter-Pan-Traum." Ich musste lächeln. Vianne nickte. Sie legten den Zugang am Fuß. Innerhalb einer halben Minute war sie in unseren Armen eingeschlafen. Wir mussten den Vorbereitungsraum verlassen. Ich hasse diese Abschiede. Micha und ich schlichen erschöpft aufs Zimmer zurück. Wir warteten, wir versuchten zu frühstücken, wir gingen wieder in den nahegelegenen Wald, entdeckten ein angrenzendes Wohngebiet mit ehemaligen Zechenhäuschen, die zum einen mit ihren geschwungenen verspielten Giebeln, den Holz-Sprossenfenstern und Rundbögen, den grün-weiß getünchten Türen malerisch und zugleich düster wirkten aufgrund der schmutzig-dunklen Fassade. Im Waldgebiet waren noch immer deutlich die Spuren des letzten Orkans zu sehen - ein Bild der Zerstörung, was in unsere Stimmung passte. Zurück auf dem Zimmer versuchten wir, uns mit einer Runde Kinder-Uno abzulenken (wir hatten nichts anderes dabei). Es klappte. Um Viertel nach vier kam der ersehnte Anruf von Prof. S. aus dem OP. Er sei mit der eigentlichen Opertation fertig, Vianne wäre allerdings noch im OP, da sie die Wunde noch verschließen müssen. Danach stünde noch ein CT an, um Nachblutungen, etc. auszuschließen. Anschließend käme sie auf die Kinderintensivstation. Der Tumor sei größer gewesen, als auf den Bildern von letzter Woche ersichtlich. Er meinte, alles entfernt und wenig gesundes Gewebe verletzt zu haben, da der Tumor zum Großteil an altem Narbengewebe gesessen habe. Letztendlich müsse man aber abwarten, bis Vianne wieder wach sei. Um halb sieben am Abend kam sie schließlich auf der Intensivstation an und wir durften zu ihr. Sie war noch intubiert.

Die Kinderintensivstation war sehr klein und voll belegt. Ein Kind lag neben dem anderen, nur getrennt durch Stellwände. Ein spezielles Beatmungsgerät surrte ständig im Hintergrund, kaltes Neonlicht erhellte den Raum. Das junge, engagierte Intensiv-Team brachte etwas Wärme in diese sterile, piepsende, hektische Welt. Vianne kam gut aus der Narkose und krächzte, nachdem sie von dem Tubus befreit war, nach Apfelsaft. "Das geht jetzt noch nicht", meinte der Mediziner freundlich. Daraufhin wurde Vianne unglaublich knurrig und wies entschieden das in Wasser getränkte Schwämmchen zurück, das ihr gegen den trockenen Mund angeboten wurde. Der Intensiv-Arzt schmunzelte: "Ich find´s gut, wenn die Kinder so sind, dann weiß ich, dass es ihnen ganz gut geht." Dieses Mal musste sich Vianne nicht nach dem Aufwachen übergeben - und bekam einige Stunden später auch ihren Apfelsaft. Ein Notfall jagte in dieser Nacht den nächsten, so dass wir schon um fünf Uhr am Morgen auf unser normales Zimmer zurück durften, weil sie dringend unseren Intensivplatz benötigten und Vianne die ganze Zeit über stabil gewesen war. Ich fand es gut. So bekamen wir unsere dringend benötigte Ruhe. Als ich auf der Intensivstation auf dem Stuhl vor Viannes Überwachungsplatz gesessen habe, bin ich zwischenzeitlich sogar mit dem Kopf auf dem Bett liegend eingeschlafen, so erschöpft war ich, obwohl Micha und ich uns im Drei-Stunden-Rhythmus abgewechselt haben. Vianne bekam noch in der Nacht Fieber, das wir jetzt aber wieder im Griff haben. Sie ist noch unglaublich müde. Sie weint viel und weiß nicht warum. Ihr rechter Arm schmerzt und sie benutzt ihn kaum. Das lässt sie verzweifeln. Ich schaffe es nicht, sie aufzumuntern. Es waren einfach zu viele Operationen, zu viele schmerzhafte, angstbehaftete Krankenhausaufenthalte, die sie schon ertragen musste. Ich habe sie noch nie mental so erschöpft gesehen.

Mit Hilfe der Krankenschwester und mir hat sie es heute das erste Mal geschafft, auf ihren noch kraftlosen Beinchen zur Toilette zu wanken. Das rechte Bein gehorcht ihr noch nicht so richtig. Die Narbe auf ihrem Kopf ist riesig und sieht erschreckend aus, obwohl sie aus ärztlicher Sicht ganz reizlos erscheint. KeineRötung, keine Schwellung. Der dicke Turban-Verband ist ab, jetzt bedecken nur noch Wundkompressen ihren Kopf, die mehr schlecht als recht von einer Art Netzstrumpf an Ort und Stelle gehalten werden.

Echtzeit! Wieder



Mittwoch, 11. Februar 2015

Es hört nicht auf - August 2012, Juli 2014, September 2014, Februar 2015. Es ist ihre vierte Tumor-Operation. Wie viele verkraftet sie noch? Es soll andererseits nicht aufhören - noch können sie operieren. Ich wünschte einfach nur, es würde aufhören, weil sie gesund ist. Es hört auch nicht auf wehzutun. Lediglich die Aufklärungsgespräche zur Anästhesie und zu dem geplanten Eingriff verlaufen kürzer – wir haben sie schon viel zu oft führen müssen, das wissen auch die Experten. "Das war jetzt die Kurzform, aber Sie kennen das ja alles schon. Oder war das jetzt zu schnell oder sollen wir noch mal ausführlicher darüber reden? Fühlen Sie sich trotzdem gut aufgeklärt?" "Ja, danke der Nachfrage, fühle ich mich", antworte ich freundlich-mechanisch. Die Schrecken der Dinge, die so unglaublich schief laufen können, sind noch immer die gleichen. Wieder ist Vianne diejenige, die so tapfer ist. Beim Blutabnehmen hat sie noch nicht einmal geweint. Sie sagt den Anästhesisten ganz abgeklärt, dass sie nicht "über die Maske" einschlafen will, sondern über den Zugang. Und der soll gelegt werden, wenn sie noch wach ist. Und sie will das Dormicum nicht als Saft, sondern als Zäpfchen. Sie ist fünf Jahre alt. Verdammt! Sie muss nicht tapfer sein! Sie darf ruhig laut hinausschreien: "Ich heiße Vianne und ich habe Angst." Sie ist viel zu beherrscht.
Mein schwarzes Oberteil ist voll von ihren Haaren. Sie verliert sie so schnell. Es trifft mich stärker, als ich mir eingestehen will. Sie tut so, als ob es nicht so schlimm wäre. "Ich weiß gar nicht, Mama, warum ich jetzt Tränchen in meinen Augen habe", sagt sie zu mir und guckt mich aus diesen alten, weisen, viel zu erfahrenen Augen an. Ich muss ihr versprechen, nicht vor anderen über ihren Haarausfall zu sprechen. "Letztendlich wird man es aber sehen", werfe ich ein. Das sei dann in Ordnung, ich solle nur vorher nicht darüber sprechen. Es ist ihr unangenehm. Dieses Gespräch führen wir zu zweit - im Badezimmer. Ich verspreche es ihr. Ich werde in ihrer Gegenwart nicht weiter darüber sprechen. Großes Indianerehrenwort. Dann sagt sie noch einen Satz, der mich völlig umhaut: "Mama, ER (der Tumor) soll nicht wiederkommen, das mit den Haaren ist dann egal." Wie Recht sie doch hat. Das ist auch mein größter Wunsch.
Uns bleiben noch ein paar Stunden bis zum Eingriff. Wir sind erst gegen 11 Uhr morgen früh dran. Wir haben heute ganz viel zusammen gespielt und gelesen, sie durfte naschen und "Dschungelbuch" auf meinem Laptop gucken. Sie kicherte immer wieder dabei. Ich brachte es nicht über mich, sie früh hinzulegen. Später haben wir uns gemeinsam in ihr Bett gekuschelt und eine ganz lange Gute-Nacht-Geschichte gelesen. Jetzt schläft sie, während ich sie betrachte.
Morgen früh kommt Micha zu uns.

Echtzeit! Ja zur OP



Dienstag, 10. Februar 2015

"Ja oder Nein?" - diese eine Frage stand heute beim Gespräch mit dem Neurochirurgen im Mittelpunkt. Wir haben uns alle für ein "Ja" ausgesprochen: am Donnerstag operiert er Vianne, bereits morgen müssen wir für die ganzen Aufklärungsgespräche und Voruntersuchungen in der Klinik sein. "Aber erst möchte ich noch den Hund sehen", stellt Vianne vor den anwesenden Ärzten klar. Morgen kommt ein Hund zu Besuch in den Kindergarten - im Rahmen des Vorschulprogramms. Am Montag hatten die Kindergartenkinder schon die theoretische Einführung. Seitdem wird der Vierbeiner sehnsüchtig erwartet. Die Sache mit dem Hund geht klar von Seiten der Ärzte - wir reisen erst am frühen Nachmittag in Essen an. Vianne wirkte bei dem heutigen Gespräch mit Prof. S. und dem Onkologen ziemlich unbeteiligt und futterte einen Keks, wobei sie eine deutliche Kekskrümelspur in Prof. S. Räumen hinterließ. Dass wiederum eine Operation ansteht, schien sie (noch) nicht zu belasten. Ich weiß nicht, was in ihrer Kinderseele vor sich geht. Sie wirkt nicht ängstlich, sie wirkt nicht gestresst. Ada hat geweint, als sie hörte, dass wir wieder mit Vianne in die Klinik müssen. Ich habe Angst vor der Operation, aber ich sehe sie auch als Chance auf eine symptomfreie Zeit. Nichts tun ist keine Option. Ich bin froh, dass dieser Schwebezustand beendet wird, dass er bald beendet wird. Ähnlich wie Prof. S. habe ich das Gefühl, dass wir nicht mehr allzu lange mit der Operation warten dürfen. Es ist gut, dass er parat steht, trotz des Risikos, mit dem dieser schwere Eingriff wieder verbunden ist.
Heute haben wir Cakepops gebacken - ohne Zucker (aber mit ein paar bunten Zuckerstreuseln oben drauf - diesen Kompromiss musste ich schweren Herzens eingehen). Dann überraschte uns noch Adas und Viannes kleine Freundin mit einem Kurzbesuch. Sie brachte eine CD, die Ada und Vianne so sehr lieben: Vor dem Fernseher wird nach vorgegebenen Bewegungen getanzt - es war so niedlich. Heute Abend mussten die beiden ihrem Papa noch eine Vorstellung geben. "Du Mama, das ist auch gut - mit dem Tanzen und der 'Gömnastik', dann kann ich meinen Arm trainieren", überlegte Vianne. Micha half den Mädels später beim "Bettfertigmachen". Er kam die Treppe runter. In seinen Händen hielt er etliche Haarbüschel: Viannes Haare gehen aus. Von der Bestrahlung? Von dem Antiepileptikum? Von dem magenschonenden Mittel gegen das Kortison? Von allem zusammen? Sie weinte. Sie wolle ohne Haare nicht in den Kindergarten - auf gar keinen Fall. Erst wenn sie wieder nachkommen. Es tut mir in der Seele weh. Ich versicherte ihr, dass sie wunderschön sei, ob mit oder ohne Haare. Ich erklärte ihr, dass ihre Haare (wahrscheinlich) wiederkommen. Wir müssen  abwarten. Vielleicht verliert sie auch nicht alle Haare. Es ist so nebensächlich und doch so wichtig.

Echtzeit! Energie



Montag, 9. Februar 2015


Ganz früh am Morgen rief Vianne aus ihrem Zimmer nach mir - ich fiel förmlich aus dem Bett und rannte panisch zu ihr hoch. Sie hatte "nur" einen bösen Traum gehabt - nichts weiter. Ich trug sie zu uns runter und wir schlummerten noch eine Weile. Sie bedachte Micha und mich mit ganz vielen süßen Küssen. Sie wirkte fit heute Morgen. Sie hat ihren Wortwitz wieder, den wir alle so lieben. Gestern bekamen wir ganz viel und ganz lieben Besuch, und die Kinder wurden mit tollen Geschenken bedacht: seit der Fahrt in die Schweiz lieben die Mädels "Bibi und Tina" als Hörspiel, jetzt haben sie gleich zwei neue Folgen und dazu noch wunderbare selbstgemalte "Sternenbilder". Ganz hoch im Kurs sind zudem die Puppen "Elsa" und "Anna" (aus der Eiskönigin). Sie können ihre Farbe ändern, wenn man sie nass macht. Ada und Vianne setzten daraufhin unseren Wohnzimmerteppich unter Wasser. Zum Abschluss sind wir noch Eis essen gegangen. Ich fragte Vianne gefühlte 10.000 Mal, ob es ihr gut ginge und ob es ihr nicht zu viel sei. "Was denn, Mama, war doch super", meinte sie entspannt. "Was machen wir jetzt? Können wir uns noch verabreden? Mit Lucie? Mit Antonia?", fragte sie voller Elan. Es war bereits 17.30 Uhr. Unglaublich. Ich weiß nicht, wo sie diese Energie hernimmt.

Heute Morgen wollte sie dann unbedingt in den Kindergarten. Zwei Stunden habe ich ihr mit Ada gegeben. Gegen Abend wirkte sie jedoch müder und ihre Sprache wurde etwas verwaschener, der Arm wieder kraftloser. Gleich kommt wieder die Angst hoch, dass sich ihr Zustand verschlechtern könnte. Von der ganzen Anspannung der letzten Wochen war ich heute übel gelaunt und bin zwischenzeitlich erschöpft auf dem Sofa eingeschlafen. Das tat gut - danach war wieder Kraft für gemeinsame Spiele und Raufereien vorhanden. Mein Unmut ist aber noch immer da und ich bin nach wie vor gereizt und überreizt. Morgen Mittag haben wir einen Gesprächstermin mit dem Essener Neurochirurgen. Mal schauen, zu was er rät.

Echtzeit! Anstehende Entscheidung



Samstag, 7. Februar 2015

Seit gestern Abend sind wir wieder zuhause. Hätten wir nicht so einen Druck gemacht, würden wir noch immer in der Uniklinik tatenlos herumliegen und uns die wertvollen gemeinsamen begrenzten Tage als Familie stehlen lassen. Leider hatten wir dieses Mal das Pech, dass der Klinikleiter außer Haus war und ein Oberar(sch)zt das Sagen hatte. Weiter werde ich meine Energien aber nicht auf dieses emotional degenerierte Exemplar verschwenden. Vielleicht fiel uns der Unterschied noch extremer nach unserem hochwertigen Klinikaufenthalt in Zürich auf. Jedenfalls durften wir - ausgestattet mit den wichtigsten (Notfall-)Medikamenten - die Essener Uniklinik verlassen. Das ist auch gut so, ansonsten hätte ich voller Wut schon vor die Wand getreten. Zum Glück ist am Montag Prof. S. wieder im Haus, und dann soll das neu gefahrene MRT-Ergebnis fachübergreifend zwischen den Onkologen, Radiologen und Neurochirurgen besprochen werden. Anfang nächster Woche steht dann die Entscheidung an, wie es weitergehen soll. Wir müssen etwas gegen die beiden Tumore im Primärgebiet unternehmen, vor allen Dingen gegen dieses wolkige Areal. Das ist anscheinend dafür verantwortlich, dass Vianne zwischenzeitlich diese Ausfälle und den Krampfanfall hatte. Es stehen wieder mehrere Optionen zur Auswahl: OP, Bestrahlung, Chemo. Alle drei bergen hohe Risiken, können nicht heilen, aber uns Zeit verschaffen. Wir müssen uns für die Maßnahme entscheiden, die Vianne eine größtmögliche Lebensqualität erhält. Das Temodal, das bisherige Chemotherapeutikum, können wir absetzen. Es hat nicht gewirkt. Das haben wir schon vorher im Gefühl gehabt, von daher erstaunt es uns nicht.
Es ist schön, wieder gemeinsam zuhause zu sein. Es ist schwer, wieder gemeinsam zuhause zu sein. Jesse fragte uns am Abend skeptisch, warum wir denn schon entlassen worden seien. Wir haben ihm die Wahrheit gesagt. Er hat es sowieso gespürt. Er war so beherrscht - zu beherrscht. Ich mache mir Sorgen um ihn. Er leidet so sehr, auch wenn er es hinter einer Fassade versteckt. Vianne blüht Zuhause auf. Sie blühte schon auf, als Ada gestern zu ihr ins Krankenhaus kam. Es ist schön, die beiden zusammen zu sehen. Es tut weh, die beiden zusammen zu sehen. Die Anspannung hier Zuhause ist riesengroß. Zum einen ist da die Angst, dass Vianne einen erneuten Krampfanfall bekommt (die Gefahr ist da). Wir lassen sie kaum aus den Augen. Zum anderen ist da die Angst vor dem Kommenden. Eine liebe Freundin hat Luke heute mit ins Schwimmbad genommen - er war glücklich und schon mal außerhalb der Schusslinie. Das ist auch gut so, denn zwischenzeitlich lagen/ liegen unsere Nerven blank. Wir sind so heillos überfordert und müssen uns erst einmal sortieren. Wir müssen aufpassen, dass wir uns vor lauter Anspannung nicht wegen irgendwelcher Nichtigkeiten streiten. Hinzu kommt, dass Ada sich vernachlässigt fühlt und es lauthals hinausschreit: "Ihr kümmert euch nur noch um Vianne!" Vianne hingegen ist leicht reizbar - wir schreiben es den Strapazen der letzten Woche und dem Kortison und dem Antiepileptikum zu.
Heute Nachmittag waren wir kurz mit den Mädels vor der Haustür und haben fast die gesamte Straße mit Kreide verschönert. Thema: Unterwasserwelt. Wir haben ein tiefblaues Meer gemalt. Micha hat einen wirklich stattlichen "Triton" (Arielles Vater) hinbekommen, wo hingegen seine Arielle eher wie die Meerhexe Ursula aussieht. Wir mussten lachen. Vianne hat eifrig Gras gezupft und es in Adas Meer gelegt. "Das ist Meergras, Mama", kicherte sie. Ich sauge diese Momente in mir auf. Glitzerfische, Tintenfische, Muscheln und Seeschlangen vervollständigen unser Familienkunstwerk. Der Regen hat unsere bunten Bilder, diesen kleinen freudigen Moment, wieder fortgewaschen - die Angst ist wieder unser ständiger Begleiter. Wir müssen einen Weg finden, uns nicht von ihr beherrschen zu lassen. Aber es wird immer schwerer, im Jetzt zu bleiben und nicht verängstigt in die Zukunft zu schauen. Die Kälte ist mittlerweile ein Teil von mir.

Echtzeit! Noch immer unter Schock



Donnerstag, 5. Februar 2015

Wie schnell sich Situationen urplötzlich ändern können, mussten wir die letzten Tage schmerzlich erfahren. Wir mussten die Protonentherapie in der Schweiz abbrechen und sind derzeit mit Vianne in der Neurochirurgie der Uniklinik Essen.
Am Sonntagmorgen genossen wir bei einem ausgiebigen Frühstück den bestrahlungsfreien Tag. Ich war etwas beunruhigt, weil Vianne sich wieder um acht Uhr auf nüchternen Magen ein wenig erbrochen hatte. Doch danach verspeiste sie genüsslich ihr Brötchen. Es hatte die Nacht wieder viel geschneit, und ganz Waldshut lag unter einer friedlich anmutenden Schneedecke. Wir beschlossen, ins Wildgehege zu fahren. Dick eingepackt in unsere Schneeanzüge und mit den Schlitten im Gepäck machten wir uns auf den Weg zu Hirsch und Wildschwein. Voller Eifer fütterten und streichelten die Mädels die Ziegen und bewunderten die bernsteinfarbenen Augen des mächtigen Uhus, der uns in seinen Bann nahm. Vianne hielt ihr Futterpaket für die Tiere ganz umständlich in der rechten Hand und pickte mit links (der geschickteren Hand) die Körner aus der Papierbox. Immer wieder entglitt ihr die Packung, als ob sie kaum Kraft in ihrer rechten Hand hätte. Während der Umrundung des Wildschweingeheges fiel mir auf, dass ihr andauernd Speichel aus dem rechtenMundwinkel lief. Ich wurde unruhig. Als ich sie mit dem Schlitten den Berg hinauf zog, baumelte ihr rechter Arm kraftlos an ihrer Seite. Wir entschieden, zum Auto zurückzukehren. Auf der Rückfahrt hielten wir noch kurz in Waldshut, weil wir uns den großen Faschingszug anschauen wollten. Die Straße zu unsererFerienwohnung war sowieso wegen des Umzugs gesperrt. Vianne war ruhig - auffallend ruhig – während Hexen, Trolle und andere seltsam gewandete  Gestalten an uns vorbeitanzten. 'Während Ada von einer Hexe zu einem Ritt auf ihrem Besen eingeladen wurde (die große Hexe erkannte anscheindend die kleine Hexe in Ada), kuschelte Vianne sich an mich. Sie sprach wenig. Ich fragte sie, ob wir in unsere Ferienwohnung zurück sollten. Sie nickte. Dort angekommen, fing sie einen Satz an - und stockte. Schließlich quälte sie ein kaum verständliches Wort hervor. "Was hast du gesagt?", fragte ich sie erstaunt. Sie setzte erneut an, kam nicht weiter, während ihr der Speichel aus dem Mundwinkel tropfte. Mir wurde eisig kalt. Sie versuchte noch mit Ada zu spielen, setzte zum Sprechen an, gurgelte und murmelte undeutlich, dass sie nicht mehr spielen wolle. Sie krabbelte aufs Bett und rutschte ab. Sie weinte. Ich tröstete sie zitternd. "Vianne, alles gut mit dir?", fragte ich ängstlich. Sie nickte. "Bitte sprich mit mir", bat ich sie. Sie nickte. "Sag einmal Ada", forderte ich sie auf. Angestrengt versuchte sie, dieses kurze Wort zu formulieren. Heraus kam ein breiiger zäher Laut. Angst kroch hoch. Ich sagte Andi, dass ich sofort im Kinderspital in Zürich anrufen werde. Zum Glück hatte ich die Nummer parat. Andi führte als Alternative das Waldshuter Krankenhaus an, das nur wenige Minuten entfernt lag. "Die kennen sich mit Viannes Fall nicht aus", meinte ich. Ich rief in Zürich an, schilderte die Situation. Die Schwester am anderen Ende der Leitung wirkte ruhig, routiniert, stellte wichtige Fragen, zum Beispiel wo wir gerade wären und wie schnell wir hier sein könnten. Sie wolle eben Rücksprache halten und mich sofort wieder anrufen. Kurz darauf meldete sie sich schon wieder und erklärte uns, wo wir die Notaufnahme finden und dass wir an allen anderen Leuten im Wartebereich vorbeigehen sollen bis zum "Teddybär" und uns direkt an eine Schwester wenden sollen. Die Fahrt dauerte zermürbende 50 Minuten. Nur mühsam konnte ich meine aufkeimende Panik in Schach halten. Andis Anwesenheit tat gut. Sie beobachtete Vianne, während ich fuhr. Ich war heilfroh, als wir endlich das Spital erreichten. Sofort wurden wir in einen Untersuchungsraum gebracht. Vianne wirkte ganz ruhig. Sie sprach kein einziges Wort mehr. "Hast du Angst, mein Schatz", fragte ich sie. Sie schaute mich völlig in sich ruhend, völlig in die tiefsten Tiefen ihres Selbst gekehrt mit großen Augen an und schüttelte ihr Köpfchen. Sie konnte ihren Arm nur noch ganz schwach heben. Ich weinte endlich. Eine Anästhesistin vom PSI (sie alle arbeiten normalerweise im Kinderspital in Zürich) kam sofort besorgt zu uns: "Frau Stember, ich habe ihren Namen gerade eben auf der Notfallliste gesehen..." sagte sie und umarmte mich mitfühlend. Die Ärzte ordneten sofort ein CT an, um eine Hirnblutung auszuschließen. Vianne hatte Angst vorm CT, machte aber mit. "Keine Hirnblutung", lautete die erste Entwarnung. Ich schluchzte erleichtert auf. Vianne erhielt hoch dosiert Kortison. Die Ärzte vermuteten ein Ödem, welchesHirndruck verursachte. Wir wurden stationär aufgenommen und engmaschig überwacht: Blutdruck, Pupillenreaktion, Temperatur, neurologische Tests - die ganze Nacht hindurch immer wieder. Ich rief Micha an. Er war außer sich vor Angst. Wir überlegten hin und her, wie und wann er zu uns kommen kann. Obwohl er - ebenso wie ich - wie betäubt war, schaffte er es, seine Abfahrt für den nächsten Morgen zu organisieren. Andi bot an, mit Ada in der Nacht bei mir zu bleiben. Ich schickte sie zurück in die Ferienwohnung. Ich fühlte mich an die erste Nacht in Kiel erinnert, als wir erstmals die schreckliche Diagnose erhielten. Mir war wieder kotzübel vor Verzweiflung. Am nächsten Morgen konnte Vianne ihren rechten Arm gar nicht mehr bewegen. Sie kam ins MRT. Der runde Tumor in der Primärregion war beinahe unverändert, das wolkige Areal daneben hingegen förmlich explodiert und innerhalb von drei Wochen von wenigenMillimetern auf über einen Zentimeter angewachsen. Die Ärzte berieten sich mit den Strahlentherapeuten vom PSI, mit Neurologen und Onkologen. Fazit: Wahrscheinlich Tumorwachstum, da die hohen Kortisongaben nicht die erwünschte Wirkung, nämlich einen schnellen Rückgang der Ausfälle, erzielten. Dennoch gaben sie weiterhin Kortison, da auch ein Tumor Flüssigkeitsanteile hat und somit eine Druckminderung entstehen kann. Vianne war nach wie vor ruhig, sprach vereinzelte, sehr undeutliche Wörter und wurde zunehmend genervter, wenn wir sie nicht auf Anhieb verstanden. Es war so befremdlich. Sie wirkte dabei so klein, so hilflos, so verletzlich. Sie bekam Fieber. Weitere  Anästhesisten, die wir vom PSI kannten, besuchten uns während ihres Dienstes im Zimmer und waren erschüttert von dieser Entwicklung. Sie konnten sich eine so gravierende Strahlennebenwirkung nicht erklären, da wir ja gerade einmal vier Tage behandelt hatten und zudem keine Bestrahlung in dem betroffenen Hirnareal stattgefunden hat. Am nächsten Morgen brachten sie uns einen farbenfrohen Blumenstrauß vorbei und eine Karte, auf der wunderbare Zeilen vermerkt waren mit warmen Worten voller Anteilnahme. Von allen Seiten wurden wir umsorgt. Wieder konferierten die Ärzte der verschiedenen Fachgebiete. Fazit: schnelles Tumorwachstum. Sie entschieden, die Protonentherapie abzubrechen. Es war uns schon klar gewesen. Sie nahmen Kontakt zu unseren Dortmunder Onkologen und den Essener Neurochirurgen auf. Am Nachmittag traf Micha in Zürich ein. Er war geschockt, Vianne so klein, blass und eingeschränkt in ihrem Bett liegen zu sehen. Eng aneinandergekuschelt brach sich die schiereVerzweiflung Bahn. Aber wir waren wieder zusammen - das half uns für den Moment...
In der Nacht, um halb 2, bekam Vianne einen schlimmen Krampfanfall, der nur schwer zu durchbrechen war. Die erste Medikamentengabe schlug nicht an. Die Ärztin hielt Rücksprache und verabreichte eine weitere Dosis. Wir dachten, wir verlieren sie. Genau jetzt. Genau hier. Ihr rechtes Auge zuckte ununterbrochen, ihre rechte Hand ebenso - etliche Minuten lang, während sie immer und immer wieder ein und dasselbe unverständliche Wort wiederholte. Zuerst war ich wie gelähmt vor Panik, stammelte nur, dann setzte ich mich hinter sie ins Bett, nahm sie in den Arm, sang ihr etwas vor. "Die Sauerstoffsättigung ist gut", hörte ich dieÄrztin wie durch Watte sagen. Dann fing ich an, mit Vianne zu sprechen, sie in Lillifees Reich, an den See mit den Lampignons zu locken. Diesen Treffpunkt hatten wir damals während der langen Chemotherapie ausgemacht, falls sie mal ganz doll Angst haben sollte. Es wirkte. Irgendwie. Noch bevor der Krampf
aufhörte, spürte ich, wie Vianne sich innerlich etwas entspannte. Sie war bei mir, das spürte ich deutlich. Vor lauter Adrenalin zitterte mein rechtes Bein die ganze Zeit über - unkontrolliert. Vianne fiel anschließend in einen tiefen Schlaf. Micha und ich wagten nicht, einzuschlafen. Sie kann sich zum Glück an nichts erinnern.
Die Ärzte versicherten uns noch in der Nacht, dass solch ein Krampfanfall nicht lebensbedrohlich ist und keine Schäden hinterlassen hat, da ihre Sauerstoffsättigung immer gut war. Am nächsten Morgen sprach die Neurologin mit uns und empfahl, ein Antiepileptikum einzusetzen, da solch ein Krampfanfall wiederkommen könne. Wir willigten ein. Nach einem weiteren Tag unter Beobachtung und Kortisongabe gaben die Ärzte grünes Licht für einen Rücktransport nach Deutschland, der nach zähen Hin und Her mit dem zuständigen Unternehmen schließlich organisiert werden konnte. Micha fuhr im ärztlich begleiteten Krankentransport nach Essen mit, ich im Auto nach Hause, wo meine Eltern, Andi und Ralf (sie hatten sich um Ada, um die Rückführung der Autos und um das Zusammenpacken in der Ferienwohnung gekümmert), Jesse und Luke auf mich warteten. Es tat so gut, den Rücken frei zu haben. Ich wäre auch nicht handlungsfähig gewesen, Micha ebenso wenig.
Das Kinderspital in Zürich wird uns immer im Herzen bleiben. Wir wurden so warmherzig umsorgt, etliche Ärzte aus fachübergreifenden Abteilungen kümmerten sich weit über das übliche Maß hinaus um uns, wir wurden mit heißem Tee und warmen Croissants vor dem innerlichen Erfrieren gerettet, sahen wahre menschliche Anteilnahme und Betroffenheit in den Gesichtern, erfuhren kraftspendende Worte und aufmunternde Geschenke von allen Seiten. Wir lernten den Autor des Buches "Eugen und der freche Wicht" kennen - den leitenden Arzt der Kinderonkologie - und wurden von ihm mit einer  wunderschönen Zeichnung aus der Feder der Illustratorin des Buches bedacht, nachdem wir lediglich erwähnt hatten, dass wir sein Buch kennen und schätzen.
Bereits während des Krankentransportes verbesserte sich Viannes Zustand erheblich. Seit Mittwochabend kann sie ihren Arm wieder bewegen, sie spricht wieder fast so deutlich wie vorher. Das Kortison zeigt also doch seine Wirkung. Wir alle haben gedacht, dass die Beeinträchtigung irreversibel sei. Die Essener wollen morgen ein neues MRT. Die Neurochirurgen denken nun doch eher an ein Ödem durch die Bestrahlung. Die Dezember-Referenzbefunde und die Onkologen gehen jedoch von Tumorwachstum aus. Wir wissen nun, dassVianne wahrscheinlich keine kraniospinale Bestrahlung mehr verträgt und ihr somit die kleine Chance auf Heilung genommen wurde. Für uns zählt aber jetzt gerade nur der Moment, weil Vianne von Tag zu Tag wieder mehr zu Vianne wird.

Echtzeit! Protonentherapie Tag 4



Samstag, 31. Januar 2015

Da am letzten Montag ein Servicetag am PSI angesetzt war und keine Bestrahlungen stattgefunden haben, hängten sie den heutigen Samstag dran. Deshalb haben wir ausnahmsweise am Wochenende einen weiteren Bestrahlungstag: den vierten. Gegen sechs Uhr heute Morgen wurde ich wach, weil Vianne wiederholt hustete und würgte. Kurz darauf musste sie sich übergeben, beziehungsweise spuckte etwas Schleim - das war's zum Glück. Ich eilte zu ihr. Entweder zeigt die Bestrahlung ihr hässliches Gesicht oder es liegt an dem zähen Husten - oder auch an beiden. Danach ging es ihr wieder gut und sie schlief ruhig in meinem Bett weiter.
Heute begleiteten uns Andi und Ada zum PSI. Ada wollte wieder dabei sein, wenn Vianne "einschläft" – das ist zum Glück kein Problem am PSI. Wieder hörten wir die "Eiskönigin", während die Narkose eingeleitet wurde. Am meisten freute sich Vianne darüber, dass nach der Bestrahlung der Zugang auf ihrem Handrücken (bis Montag) entfernt wurde. Jetzt kann sie wieder beide Hände einsetzen und wir kommen viel leichter in die Handschuhe und in die Jacken hinein. Nachmittags spielten Ada und Vianne ganz fröhlich in ihrem Zimmer mit Playmobil. Erst als es dunkel wurde wollten die beiden noch mal mit ihren Taschenlampen raus und die Pferde füttern. Die standen zwar nicht mehr auf der Weide, aber wir fanden sie dafür im Stall und streckten ihnen unsere Möhren entgegen, streichelten sie ausgiebig und versorgten sie mit frischem Heu. Danach sammelten wir noch etliche Eiszapfen, die wie Trophäen hoch gehalten wurden. Aber irgendwann stritten sich die "Damen" lautstark, weil Ada mit ihrem Eiszapfen Viannes Zapfen "einen Kopf kürzer" gemacht hatte. Nachdem der Streit geschlichtet war, erklommen wir noch zahllose Eisberge, von denen die Mädels tollkühn runterrutschten und steckten zum Schluss noch "Rosalea" ihre Steinaugen wieder an, die über Nacht rausgekullert waren. Ich war hundemüde und fragte mich insgeheim, woher Ada und Vianne diese Energie nehmen. Jetzt schlafen die beiden endlich und ich genieße gerade die Ruhe um mich herum. Leider kommen in solch ruhigen Momenten auch oftmals die quälenden Gedanken. Heute fragte ich die Anästhesistin, wann Viannes Haare ausgehen werden. "Meistens nach drei Wochen", meinte sie ernst, während sie Vianne zärtlich durch ihre Löckchen strich, während sie noch schlief. Noch ist es nicht so weit... Morgen haben wir erst einmal unseren freien Tag, bevor es am Montag mit den Bestrahlungen weitergeht. Am Dienstag sollen wir schon um 8 Uhr im Kinderspital in Zürich zur Untersuchung und zum Bluttest sein. Anschließend folgt um 10 Uhr die Bestrahlung. Es ist gut durchdacht. Sie wollen uns nicht nach der Protonentherapie die Fahrt nach Zürich zumuten, damit es für Vianne nicht zu anstrengend wird. Dafür, und für den liebevollen Umgang mit Vianne und unserer Familie, bin ich den Ärzten und Mitarbeitern am PSI sehr dankbar. Überall um uns herum sehen wir freundliche, ehrliche Gesichter, trotz der schweren Situation – das tut gut. Das tut sehr gut.

Echtzeit! Protonentherapie Tag 2+3



Freitag, 30. Januar 2015

Die Kraft ist zurück – zum Glück. Irgendwie scheine ich meine Reserven in der Nacht nach dem ersten Bestrahlungstag wieder aufgefüllt zu haben. Ich habe tief und fest geschlafen. Als ich am nächsten Morgen erwachte und in die weiße Winterlandschaft hinausschaute, fühlte ich mich leichter, unbelasteter, vom Schrecken des ersten Therapietages befreit. Vianne ging es zum Glück gut, Kopfschmerzen und Übelkeit waren vergangen. Gegen viertel vor zehn machten wir uns auf den Weg Richtung PSI – aber wir kamen nicht weit. In Waldshut staute sich der Verkehr, teilweise standen wir mehrere Minuten, in denen sich gar nichts tat. Es war mittlerweile zehn Uhr, und wir hatten noch nicht einmal die Grenze erreicht. Eine Tagesbaustelle auf der Hauptstraße war verantwortlich für dieses Verkehrschaos. So kamen wir "Experten" gleich am zweiten Behandlungstag zu spät (aber nur 20 Minuten). Na ja, wer mich kennt, den wird es nicht wundern. Kurz bevor wir das Forschungsgelände erreichten, rief mich die Anästhesistin an und fragte, wo wir blieben. Arghhh! Es war aber nicht weiter schlimm. Sie hatten blöderweise sowieso eine Leerlaufzeit gehabt, weil sie am Tage zuvor vergessen hatten zu sagen, dass wir 15 Minuten eher kommen können.
Vianne schlief gestern von dem Narkosemittel ruhig ein. Es war leichter, weil kein neuer Zugang gelegt werden musste, der alte vom Vortag auf ihrem rechten Handrücken funktionierte noch gut. Ada und ich vertrieben uns die Wartezeit mit mehreren Runden Memory, dem Bau eines architektonischen "Meisterwerkes" aus Legobausteinen, einem zweiten Frühstück, Vorlesegeschichten und einem Film auf meinem Laptop. Vianne kam gut aus der Narkose. Die Behandlung hat nicht so lange gedauert wie am ersten Tag, da sie zu Beginn immer noch ein Lagerungs-CT machen. Das fiel am 2. Tag weg. Es regnete in Strömen, als wir das Gelände schließlich verließen. Unsere Unterkunft liegt auf 600 Meter, und je höher wir kamen, desto mehr verwandelte sich der Regen in Schnee, bis schließlich große Flocken fielen. "Mama, sieh mal, ein Schneesturm", riefen Ada und Vianne begeistert. Ganz Gaiß lag unter einer dicken weißen Schneedecke. Wunderschön! Ich war so froh, nicht im verregneten Tal zu wohnen. Gerade angekommen, zogen mich die Mädels erst einmal zum Stall. Sie wollten den Pferden "Hallo" sagen. Leider kamen wir nur von hinten an sie heran und  konnten uns ihre dicken Pferdepopos ansehen. Vorne war die Stalltür leider verschlossen. Aber wir wurden mit einem lauten Wiehern begrüßt. In der Wohnung gönnte ich mir erst einmal einen heißen Kaffee, und wir machten uns eine leckere Obstschüssel zurecht. Dann schlüpften wir in unsere Schneeanzüge und bauten eine riesige Schneefrau ("Mama, wir wollen ein Mädchen") im Garten: Rosalea. Leider hat der Schneesturm Rosalea in der Nacht umgeworfen. Wir bauen sie heute einfach wieder auf! Abends – gerade rechtzeitig zum warmen Essen – traf Andi ein, aus dem tiefsten Winterwald. Leider steckte sie rund 25 Km vor Gaiß auf der tief verschneiten Landstraße in einem Stau fest. Absoluter Stillstand, anscheinend kam ein LKW nicht weiter und stand quer. Sie hängte sich schließlich an einen Ortskundigen und fuhr über verschlungene einsame (Um-)Wege zu uns. Was für eine Wiedersehensfreude! Ada und Vianne wussten gar nicht, was sie Andi zuerst zeigen und erzählen sollten. Wir verbrachten einen kurzweiligen Abend bei einem guten Glas Rotwein.
Heute Morgen ist Andi mit Ada in der Ferienwohnung geblieben, während ich mit Vianne am PSI war (heute waren wir sogar pünktlich). Wieder schlief sie ruhig zur Musik der Eiskönigin ein. Ihr Unterbewusstsein muss es gut abgespeichert haben, denn als ich sie nach dem Aufwachen fragte, wovon sie geträumt habe, erzählte sie von dem Eispalast und Elsa. Tag 3 von 30 ist geschafft! 20 Mal wird die komplette Neuroachse bestrahlt (ganzer Kopf und Wirbelsäule), die letzten 10 Mal "nur" noch der Kopf. Jeden Tag rechne ich damit, die ersten Auswirkungen/ Nebenwirkungen zu sehen. Ich hoffe, wir bleiben noch etwas länger davon verschont. Wann genau die Spätfolgen auftreten, kann keiner so genau vorhersagen – nur dass sie sich im Laufe der Jahre verstärken. Heute Morgen fragte mich Vianne, ob sie heute das letzte Mal zu "Radio-Robby" müsse. "Nein, Schatz, wir müssen noch ganz oft zu ihm, mit heute noch 28 Mal", antwortete ich ehrlich und ernst. "Ok", sagte sie unbekümmert und hüpfte davon… Was für eine Freude: heute waren die beiden "Schwarzwälder", deren Hinterteil wir gestern im Stall besucht haben, auf der Koppel. Ada und Vianne haben die robusten Zossen mit unseren Möhren gefüttert (deswegen musste sich Rosalea auch nur mit einer Holznase zufrieden geben). Die Pferde haben es sich jedenfalls schmecken lassen. "Wir haben uns jetzt richtig angefreundet", meinte Vianne daraufhin enthusiastisch. Gegen Abend sind Viannes Kopfschmerzen leider wieder gekommen, so dass ich ihr den Schmerzsaft geben musste. Sie sieht müde und etwas mitgenommen aus. Appetit hat sie auch keinen. Jetzt schlafen beide Mädels.