3. Dezember
2014
Heute
sind die ersten Schneeflocken gefallen - sie glitten sacht vom Himmel, während
ich in einer Redaktionsbesprechung saß. Wunderschön! Ich hätte stundenlang
zusehen können. Ada und Vianne waren mit Andi zu Hause, da der Kindergarten
heute geschlossen hatte. Nachdem sie die ersten Flocken erspähthatten,
war kein Halten mehr: Schnell Schal, Mütze und Handschuhe hervorgekramt und ab
ging es in die Kälte. Sie kratzten alles an Schnee zusammen, was sie kriegen
konnten, und deponierten das Schneehäufchenstolz
auf dem großen Findling im Garten. Andi schickte mir ein Foto, wie die Damen
nach getaner Arbeit heißen Milchschaum schlürfen. Sie ist ein Engel.
Nachdem
wir vorgestern unsere Onkologen schriftlich informiert haben, dass wir eine
herkömmliche Bestrahlung ablehnen, stellen sie erneut den Kontakt zu den
Protonenzentren (bzw. Ionenzentrum) nach Essen und Heidelberg und zum PSI in
die Schweiz her. Unsicher ist, ob die Krankenkasse zahlen wird und ob dieZentren
(zeitnah) behandeln. Ich habe noch die schwierige Aufgabe, den Düsseldorfern
für die Photonenbestrahlung abzusagen. Mit dieser Absage setzen wir unsere
Entscheidung endgültig in die Tat um. Ich habe Angst. Tun wir das Richtige? Ich
muss mir immer wieder Goethe im Geiste vorsagen, um agieren zu können: "Es
ist nicht genug zu wissen, man muss es auch anwenden. Es ist nicht genug zu
wollen, man muss es auch tun." Wir müssen handeln. Die Sache ist nur: Was
wissen wir? Wir wissen, dass wir nicht bereit sind, Viannes Geist, Viannes
Persönlichkeit zu zerstören. Allerdings kann uns niemand mit Gewissheit sagen,
wie ausgeprägt die geistigen Folgeschäden sein werden. Sie können uns nur
sagen, dass sie schwerwiegend sein werden. Was heißt schwerwiegend? Ist
schwerwiegend für mich das gleiche schwerwiegend wie für einen anderen?. Wir
wissen, dass wir nichts wissen. Wir wissen, dass wir Viannes Leben riskieren.
Wir wissen auch, dass Vianne ebenfalls ein Stück weit stirbt, wenn sie nicht
mehr Vianne ist. Wir werden mit unserer Entscheidung leben müssen. Aber ist es
das, was Vianne will? Das ist es, was mich unendlich quält. Ich kann meine
fünfjährige Tochter schlecht fragen, ob sie bereit ist, wahrscheinlich
minderwüchsig, geistig verlangsamt mit veränderter Persönlichkeit und einer
lebenslangen Hormonsubstitution zu leben - oder aber
wahrscheinlich
sterben wird. Aber wenn ich meine ehrgeizige kleine Tochter betrachte, fühle
ich, dass wir ihr eine Alternative anbieten müssen. Die derzeit einzige
halbwegs akzeptable Alternative ist für uns eine Protonenbestrahlung der
inneren Liquorräume plus Spinalkanal. Sie ist stark. Sie hat Kampfgeist. Sie
kann es schaffen - auch wenn alle Prognosen etwas anderes sagen. "Ich
heiße Vianne!" - soll sie voller Kraft in die Welt schreien und die
Krebszellen in ihre Schranken weisen.
Heute
Abend haben Ada und Vianne wieder viel gekichert. Sie wollten natürlich nicht
ins Bett - also krallten sie sich an unserem neuen Küchentisch fest. Wir
kitzelten sie so lange, bis sie losließen - und noch länger. Dann blinzelte
mich Vianne gespielt unschuldig an, das Kinn zur Brust hin, das Köpfchen leicht
zurSeite
geneigt, den Blick charmant nach oben gerichtet. Sie säuselte mit zuckersüßem
Stimmchen: "Kriegen wir noch ein Ztück swarze Sokolade?" Sicher doch.
Witzig ist, dass sie "Scheiße" klar und deutlich aussprechen kann,
nicht aber andere Wörter mit Sch-Laut. Sie bekam ihr Stück. Im Bad ging das
Gekicher weiter. Nachdem der Schlafanzug angezogen war, mussten mich die Damen
noch unbedingt frisieren und schminken. Während ich hier sitze und schreibe,
habe ich noch immer fett rotes Rouge auf den Wangen, der Lippenstift zieht sich
bis knapp zum Kinn, meine Frisur ist - gelinde umschrieben - experimentell bis
gewagt mit etlichen bunten Spangen und Zöpfchen. Stolz haben sie mich Micha
präsentiert.
Ansonsten
geht es drunter und drüber. In der Schule läuft es derzeit nicht so rund –
ebenso wenig in meinem Job. Ich bin auf ziemlich vielen Ebenen gefordert, und
manchmal hat mich kurzzeitig eine tiefe Verzweiflung fest im Würgegriff. Dann
ist meine Zunge scharf wie ein Schwert. Erst gestern Abend habe ich mich unendlich
dafür geschämt, dass ich solch verletzende Worte zu Luke gesprochen habe. Ich
muss es besser machen. Aber Aufgeben ist nicht - noch lange nicht. Eine zarte
Schneeschicht bedeckt unsere Terrasse. Ich hoffe auf mehr zauberhafte
Kristalle. Sie lassen die Seele hüpfen... Wir wollen unbedingt mit den Kindern
über Weihnachten in den Skiurlaub.
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