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26. November 2016

Echtzeit! Schneeflocken -



 3. Dezember 2014

Heute sind die ersten Schneeflocken gefallen - sie glitten sacht vom Himmel, während ich in einer Redaktionsbesprechung saß. Wunderschön! Ich hätte stundenlang zusehen können. Ada und Vianne waren mit Andi zu Hause, da der Kindergarten heute geschlossen hatte. Nachdem sie die ersten Flocken erspähthatten, war kein Halten mehr: Schnell Schal, Mütze und Handschuhe hervorgekramt und ab ging es in die Kälte. Sie kratzten alles an Schnee zusammen, was sie kriegen konnten, und deponierten das Schneehäufchenstolz auf dem großen Findling im Garten. Andi schickte mir ein Foto, wie die Damen nach getaner Arbeit heißen Milchschaum schlürfen. Sie ist ein Engel.
Nachdem wir vorgestern unsere Onkologen schriftlich informiert haben, dass wir eine herkömmliche Bestrahlung ablehnen, stellen sie erneut den Kontakt zu den Protonenzentren (bzw. Ionenzentrum) nach Essen und Heidelberg und zum PSI in die Schweiz her. Unsicher ist, ob die Krankenkasse zahlen wird und ob dieZentren (zeitnah) behandeln. Ich habe noch die schwierige Aufgabe, den Düsseldorfern für die Photonenbestrahlung abzusagen. Mit dieser Absage setzen wir unsere Entscheidung endgültig in die Tat um. Ich habe Angst. Tun wir das Richtige? Ich muss mir immer wieder Goethe im Geiste vorsagen, um agieren zu können: "Es ist nicht genug zu wissen, man muss es auch anwenden. Es ist nicht genug zu wollen, man muss es auch tun." Wir müssen handeln. Die Sache ist nur: Was wissen wir? Wir wissen, dass wir nicht bereit sind, Viannes Geist, Viannes Persönlichkeit zu zerstören. Allerdings kann uns niemand mit Gewissheit sagen, wie ausgeprägt die geistigen Folgeschäden sein werden. Sie können uns nur sagen, dass sie schwerwiegend sein werden. Was heißt schwerwiegend? Ist schwerwiegend für mich das gleiche schwerwiegend wie für einen anderen?. Wir wissen, dass wir nichts wissen. Wir wissen, dass wir Viannes Leben riskieren. Wir wissen auch, dass Vianne ebenfalls ein Stück weit stirbt, wenn sie nicht mehr Vianne ist. Wir werden mit unserer Entscheidung leben müssen. Aber ist es das, was Vianne will? Das ist es, was mich unendlich quält. Ich kann meine fünfjährige Tochter schlecht fragen, ob sie bereit ist, wahrscheinlich minderwüchsig, geistig verlangsamt mit veränderter Persönlichkeit und einer lebenslangen Hormonsubstitution zu leben - oder aber
wahrscheinlich sterben wird. Aber wenn ich meine ehrgeizige kleine Tochter betrachte, fühle ich, dass wir ihr eine Alternative anbieten müssen. Die derzeit einzige halbwegs akzeptable Alternative ist für uns eine Protonenbestrahlung der inneren Liquorräume plus Spinalkanal. Sie ist stark. Sie hat Kampfgeist. Sie kann es schaffen - auch wenn alle Prognosen etwas anderes sagen. "Ich heiße Vianne!" - soll sie voller Kraft in die Welt schreien und die Krebszellen in ihre Schranken weisen.
Heute Abend haben Ada und Vianne wieder viel gekichert. Sie wollten natürlich nicht ins Bett - also krallten sie sich an unserem neuen Küchentisch fest. Wir kitzelten sie so lange, bis sie losließen - und noch länger. Dann blinzelte mich Vianne gespielt unschuldig an, das Kinn zur Brust hin, das Köpfchen leicht zurSeite geneigt, den Blick charmant nach oben gerichtet. Sie säuselte mit zuckersüßem Stimmchen: "Kriegen wir noch ein Ztück swarze Sokolade?" Sicher doch. Witzig ist, dass sie "Scheiße" klar und deutlich aussprechen kann, nicht aber andere Wörter mit Sch-Laut. Sie bekam ihr Stück. Im Bad ging das Gekicher weiter. Nachdem der Schlafanzug angezogen war, mussten mich die Damen noch unbedingt frisieren und schminken. Während ich hier sitze und schreibe, habe ich noch immer fett rotes Rouge auf den Wangen, der Lippenstift zieht sich bis knapp zum Kinn, meine Frisur ist - gelinde umschrieben - experimentell bis gewagt mit etlichen bunten Spangen und Zöpfchen. Stolz haben sie mich Micha präsentiert.
Ansonsten geht es drunter und drüber. In der Schule läuft es derzeit nicht so rund – ebenso wenig in meinem Job. Ich bin auf ziemlich vielen Ebenen gefordert, und manchmal hat mich kurzzeitig eine tiefe Verzweiflung fest im Würgegriff. Dann ist meine Zunge scharf wie ein Schwert. Erst gestern Abend habe ich mich unendlich dafür geschämt, dass ich solch verletzende Worte zu Luke gesprochen habe. Ich muss es besser machen. Aber Aufgeben ist nicht - noch lange nicht. Eine zarte Schneeschicht bedeckt unsere Terrasse. Ich hoffe auf mehr zauberhafte Kristalle. Sie lassen die Seele hüpfen... Wir wollen unbedingt mit den Kindern über Weihnachten in den Skiurlaub.

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