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26. November 2016

Echtzeit! Noch immer unter Schock



Donnerstag, 5. Februar 2015

Wie schnell sich Situationen urplötzlich ändern können, mussten wir die letzten Tage schmerzlich erfahren. Wir mussten die Protonentherapie in der Schweiz abbrechen und sind derzeit mit Vianne in der Neurochirurgie der Uniklinik Essen.
Am Sonntagmorgen genossen wir bei einem ausgiebigen Frühstück den bestrahlungsfreien Tag. Ich war etwas beunruhigt, weil Vianne sich wieder um acht Uhr auf nüchternen Magen ein wenig erbrochen hatte. Doch danach verspeiste sie genüsslich ihr Brötchen. Es hatte die Nacht wieder viel geschneit, und ganz Waldshut lag unter einer friedlich anmutenden Schneedecke. Wir beschlossen, ins Wildgehege zu fahren. Dick eingepackt in unsere Schneeanzüge und mit den Schlitten im Gepäck machten wir uns auf den Weg zu Hirsch und Wildschwein. Voller Eifer fütterten und streichelten die Mädels die Ziegen und bewunderten die bernsteinfarbenen Augen des mächtigen Uhus, der uns in seinen Bann nahm. Vianne hielt ihr Futterpaket für die Tiere ganz umständlich in der rechten Hand und pickte mit links (der geschickteren Hand) die Körner aus der Papierbox. Immer wieder entglitt ihr die Packung, als ob sie kaum Kraft in ihrer rechten Hand hätte. Während der Umrundung des Wildschweingeheges fiel mir auf, dass ihr andauernd Speichel aus dem rechtenMundwinkel lief. Ich wurde unruhig. Als ich sie mit dem Schlitten den Berg hinauf zog, baumelte ihr rechter Arm kraftlos an ihrer Seite. Wir entschieden, zum Auto zurückzukehren. Auf der Rückfahrt hielten wir noch kurz in Waldshut, weil wir uns den großen Faschingszug anschauen wollten. Die Straße zu unsererFerienwohnung war sowieso wegen des Umzugs gesperrt. Vianne war ruhig - auffallend ruhig – während Hexen, Trolle und andere seltsam gewandete  Gestalten an uns vorbeitanzten. 'Während Ada von einer Hexe zu einem Ritt auf ihrem Besen eingeladen wurde (die große Hexe erkannte anscheindend die kleine Hexe in Ada), kuschelte Vianne sich an mich. Sie sprach wenig. Ich fragte sie, ob wir in unsere Ferienwohnung zurück sollten. Sie nickte. Dort angekommen, fing sie einen Satz an - und stockte. Schließlich quälte sie ein kaum verständliches Wort hervor. "Was hast du gesagt?", fragte ich sie erstaunt. Sie setzte erneut an, kam nicht weiter, während ihr der Speichel aus dem Mundwinkel tropfte. Mir wurde eisig kalt. Sie versuchte noch mit Ada zu spielen, setzte zum Sprechen an, gurgelte und murmelte undeutlich, dass sie nicht mehr spielen wolle. Sie krabbelte aufs Bett und rutschte ab. Sie weinte. Ich tröstete sie zitternd. "Vianne, alles gut mit dir?", fragte ich ängstlich. Sie nickte. "Bitte sprich mit mir", bat ich sie. Sie nickte. "Sag einmal Ada", forderte ich sie auf. Angestrengt versuchte sie, dieses kurze Wort zu formulieren. Heraus kam ein breiiger zäher Laut. Angst kroch hoch. Ich sagte Andi, dass ich sofort im Kinderspital in Zürich anrufen werde. Zum Glück hatte ich die Nummer parat. Andi führte als Alternative das Waldshuter Krankenhaus an, das nur wenige Minuten entfernt lag. "Die kennen sich mit Viannes Fall nicht aus", meinte ich. Ich rief in Zürich an, schilderte die Situation. Die Schwester am anderen Ende der Leitung wirkte ruhig, routiniert, stellte wichtige Fragen, zum Beispiel wo wir gerade wären und wie schnell wir hier sein könnten. Sie wolle eben Rücksprache halten und mich sofort wieder anrufen. Kurz darauf meldete sie sich schon wieder und erklärte uns, wo wir die Notaufnahme finden und dass wir an allen anderen Leuten im Wartebereich vorbeigehen sollen bis zum "Teddybär" und uns direkt an eine Schwester wenden sollen. Die Fahrt dauerte zermürbende 50 Minuten. Nur mühsam konnte ich meine aufkeimende Panik in Schach halten. Andis Anwesenheit tat gut. Sie beobachtete Vianne, während ich fuhr. Ich war heilfroh, als wir endlich das Spital erreichten. Sofort wurden wir in einen Untersuchungsraum gebracht. Vianne wirkte ganz ruhig. Sie sprach kein einziges Wort mehr. "Hast du Angst, mein Schatz", fragte ich sie. Sie schaute mich völlig in sich ruhend, völlig in die tiefsten Tiefen ihres Selbst gekehrt mit großen Augen an und schüttelte ihr Köpfchen. Sie konnte ihren Arm nur noch ganz schwach heben. Ich weinte endlich. Eine Anästhesistin vom PSI (sie alle arbeiten normalerweise im Kinderspital in Zürich) kam sofort besorgt zu uns: "Frau Stember, ich habe ihren Namen gerade eben auf der Notfallliste gesehen..." sagte sie und umarmte mich mitfühlend. Die Ärzte ordneten sofort ein CT an, um eine Hirnblutung auszuschließen. Vianne hatte Angst vorm CT, machte aber mit. "Keine Hirnblutung", lautete die erste Entwarnung. Ich schluchzte erleichtert auf. Vianne erhielt hoch dosiert Kortison. Die Ärzte vermuteten ein Ödem, welchesHirndruck verursachte. Wir wurden stationär aufgenommen und engmaschig überwacht: Blutdruck, Pupillenreaktion, Temperatur, neurologische Tests - die ganze Nacht hindurch immer wieder. Ich rief Micha an. Er war außer sich vor Angst. Wir überlegten hin und her, wie und wann er zu uns kommen kann. Obwohl er - ebenso wie ich - wie betäubt war, schaffte er es, seine Abfahrt für den nächsten Morgen zu organisieren. Andi bot an, mit Ada in der Nacht bei mir zu bleiben. Ich schickte sie zurück in die Ferienwohnung. Ich fühlte mich an die erste Nacht in Kiel erinnert, als wir erstmals die schreckliche Diagnose erhielten. Mir war wieder kotzübel vor Verzweiflung. Am nächsten Morgen konnte Vianne ihren rechten Arm gar nicht mehr bewegen. Sie kam ins MRT. Der runde Tumor in der Primärregion war beinahe unverändert, das wolkige Areal daneben hingegen förmlich explodiert und innerhalb von drei Wochen von wenigenMillimetern auf über einen Zentimeter angewachsen. Die Ärzte berieten sich mit den Strahlentherapeuten vom PSI, mit Neurologen und Onkologen. Fazit: Wahrscheinlich Tumorwachstum, da die hohen Kortisongaben nicht die erwünschte Wirkung, nämlich einen schnellen Rückgang der Ausfälle, erzielten. Dennoch gaben sie weiterhin Kortison, da auch ein Tumor Flüssigkeitsanteile hat und somit eine Druckminderung entstehen kann. Vianne war nach wie vor ruhig, sprach vereinzelte, sehr undeutliche Wörter und wurde zunehmend genervter, wenn wir sie nicht auf Anhieb verstanden. Es war so befremdlich. Sie wirkte dabei so klein, so hilflos, so verletzlich. Sie bekam Fieber. Weitere  Anästhesisten, die wir vom PSI kannten, besuchten uns während ihres Dienstes im Zimmer und waren erschüttert von dieser Entwicklung. Sie konnten sich eine so gravierende Strahlennebenwirkung nicht erklären, da wir ja gerade einmal vier Tage behandelt hatten und zudem keine Bestrahlung in dem betroffenen Hirnareal stattgefunden hat. Am nächsten Morgen brachten sie uns einen farbenfrohen Blumenstrauß vorbei und eine Karte, auf der wunderbare Zeilen vermerkt waren mit warmen Worten voller Anteilnahme. Von allen Seiten wurden wir umsorgt. Wieder konferierten die Ärzte der verschiedenen Fachgebiete. Fazit: schnelles Tumorwachstum. Sie entschieden, die Protonentherapie abzubrechen. Es war uns schon klar gewesen. Sie nahmen Kontakt zu unseren Dortmunder Onkologen und den Essener Neurochirurgen auf. Am Nachmittag traf Micha in Zürich ein. Er war geschockt, Vianne so klein, blass und eingeschränkt in ihrem Bett liegen zu sehen. Eng aneinandergekuschelt brach sich die schiereVerzweiflung Bahn. Aber wir waren wieder zusammen - das half uns für den Moment...
In der Nacht, um halb 2, bekam Vianne einen schlimmen Krampfanfall, der nur schwer zu durchbrechen war. Die erste Medikamentengabe schlug nicht an. Die Ärztin hielt Rücksprache und verabreichte eine weitere Dosis. Wir dachten, wir verlieren sie. Genau jetzt. Genau hier. Ihr rechtes Auge zuckte ununterbrochen, ihre rechte Hand ebenso - etliche Minuten lang, während sie immer und immer wieder ein und dasselbe unverständliche Wort wiederholte. Zuerst war ich wie gelähmt vor Panik, stammelte nur, dann setzte ich mich hinter sie ins Bett, nahm sie in den Arm, sang ihr etwas vor. "Die Sauerstoffsättigung ist gut", hörte ich dieÄrztin wie durch Watte sagen. Dann fing ich an, mit Vianne zu sprechen, sie in Lillifees Reich, an den See mit den Lampignons zu locken. Diesen Treffpunkt hatten wir damals während der langen Chemotherapie ausgemacht, falls sie mal ganz doll Angst haben sollte. Es wirkte. Irgendwie. Noch bevor der Krampf
aufhörte, spürte ich, wie Vianne sich innerlich etwas entspannte. Sie war bei mir, das spürte ich deutlich. Vor lauter Adrenalin zitterte mein rechtes Bein die ganze Zeit über - unkontrolliert. Vianne fiel anschließend in einen tiefen Schlaf. Micha und ich wagten nicht, einzuschlafen. Sie kann sich zum Glück an nichts erinnern.
Die Ärzte versicherten uns noch in der Nacht, dass solch ein Krampfanfall nicht lebensbedrohlich ist und keine Schäden hinterlassen hat, da ihre Sauerstoffsättigung immer gut war. Am nächsten Morgen sprach die Neurologin mit uns und empfahl, ein Antiepileptikum einzusetzen, da solch ein Krampfanfall wiederkommen könne. Wir willigten ein. Nach einem weiteren Tag unter Beobachtung und Kortisongabe gaben die Ärzte grünes Licht für einen Rücktransport nach Deutschland, der nach zähen Hin und Her mit dem zuständigen Unternehmen schließlich organisiert werden konnte. Micha fuhr im ärztlich begleiteten Krankentransport nach Essen mit, ich im Auto nach Hause, wo meine Eltern, Andi und Ralf (sie hatten sich um Ada, um die Rückführung der Autos und um das Zusammenpacken in der Ferienwohnung gekümmert), Jesse und Luke auf mich warteten. Es tat so gut, den Rücken frei zu haben. Ich wäre auch nicht handlungsfähig gewesen, Micha ebenso wenig.
Das Kinderspital in Zürich wird uns immer im Herzen bleiben. Wir wurden so warmherzig umsorgt, etliche Ärzte aus fachübergreifenden Abteilungen kümmerten sich weit über das übliche Maß hinaus um uns, wir wurden mit heißem Tee und warmen Croissants vor dem innerlichen Erfrieren gerettet, sahen wahre menschliche Anteilnahme und Betroffenheit in den Gesichtern, erfuhren kraftspendende Worte und aufmunternde Geschenke von allen Seiten. Wir lernten den Autor des Buches "Eugen und der freche Wicht" kennen - den leitenden Arzt der Kinderonkologie - und wurden von ihm mit einer  wunderschönen Zeichnung aus der Feder der Illustratorin des Buches bedacht, nachdem wir lediglich erwähnt hatten, dass wir sein Buch kennen und schätzen.
Bereits während des Krankentransportes verbesserte sich Viannes Zustand erheblich. Seit Mittwochabend kann sie ihren Arm wieder bewegen, sie spricht wieder fast so deutlich wie vorher. Das Kortison zeigt also doch seine Wirkung. Wir alle haben gedacht, dass die Beeinträchtigung irreversibel sei. Die Essener wollen morgen ein neues MRT. Die Neurochirurgen denken nun doch eher an ein Ödem durch die Bestrahlung. Die Dezember-Referenzbefunde und die Onkologen gehen jedoch von Tumorwachstum aus. Wir wissen nun, dassVianne wahrscheinlich keine kraniospinale Bestrahlung mehr verträgt und ihr somit die kleine Chance auf Heilung genommen wurde. Für uns zählt aber jetzt gerade nur der Moment, weil Vianne von Tag zu Tag wieder mehr zu Vianne wird.

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