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26. November 2016

Echtzeit! Absolution



 27. November 2014

Das Fieber ist weg, der Infekt im Griff. Was wir nicht im Griff haben, ist umso schwerwiegender. Aber dazu gleich. Am Dienstag konnten wir sogar die Klinik-Weihnachtsfeier besuchen. Es gab wieder ein zauberhaftes Theaterstück von petit bec. In diesem Jahr wurde "Frau Holle" aufgeführt. Trotzdem fühlte ich mich nicht wohl, zu viele alte Gesichter, zu viele Rückfälle, zu viele neue Gesichter. Vianne war noch ziemlich platt, deshalb verließen wir die Veranstaltung zeitig. Abends hatte sie wieder erhöhte Temperatur, war aber sehr glücklich über ihre Geschenketüte, die sie vom Elterntreff bekommen hatte.
Am Mittwoch behielt ich sie noch Zuhause, während Ada in den Kindergarten ging. Bereits am Abend graute mir vor dem Termin am nächsten Tag: das Gespräch mit der Strahlentherapeutin an der Düsseldorfer Uniklinik. Wir sollten Vianne mitnehmen, davon erfuhr ich erst kurz vorher. Info von Dr. B. Micha hatte es irgendwie vergessen zu erwähnen. Wir machten uns zeitig auf den Weg Richtung Düsseldorf. Vianne murrte. "Wieder so ein blöder Fingerpiks." "Nein Süße", antwortete ich, wir unterhalten uns nur mit der Ärztin, weil wir überlegen, ob Radio-Robby noch mal wiederkommen soll." "Das ist gemein!", meinte sie. "So blöde langweilige Gespräche - und Ada darf im Kindergarten spielen." Ich konnte es ganz gut einschätzen. Eigentlich hatte Vianne nicht wirklich Lust auf den Kindergarten. "Komm, wir machen's uns total nett heute", meinte ich aufmunternd. "Du darfst auch 'ne CD im Auto hören." Damit hatte ich sie. Ich traf mich mit Micha in der Nähe der Autobahnauffahrt, denn er hatte früh morgens noch eine wichtige Besprechung gehabt. Wir waren angespannt und hatten beide ein schlechtes Gefühl. Ich fand das Gebäude, in dem die Strahlenklinik untergebracht war, vom ersten Moment an abstoßend. Ich wollte aber nicht so voreingenommen an die Sache rangehen, also riss ich mich zusammen. Um Viertel nach zwölf hatten wir den Termin, irgendwann nach 13 Uhr kamen wir schließlich dran. Die Wartezeit überbrückten wir mit gemeinsamen Malen. Micha versuchte sich an einem bunten Farbring: Das sei „trance psychedelic“. Vianne war der Ansicht, es würde eher wie ein bunter Pups-See aussehen - und der Löwe daneben wie eine zahme Miezekatze. Meine Tochter und ich waren uns einig, dass wir bei weitem mehr zeichnerisches Talent haben. Vianne zumindest malte einen echten grimmigen, furchteinflößenden Löwen. Schließlich wurden wir von einer neten Ärztin hereingerufen. Sie erklärte uns den Bestrahlungsplan, der von dem Experten aus Leipzig (Referenzzentrum Strahlentherapie) erstellt worden war. Diese Empfehlung sah eine komplette Bestrahlung der Neuroachse mit 35 Gy vor. Allerdings würde das bereits zuvor bestrahlte Primär-Tumorgebiet insgesamt knapp 90 Gy abbekommen (54 Gy gab es während der Protonentherapie, 35 Gy neu dazu). Dieses Gebiet kann nicht ausgespart werden, weil außen herum ebenfalls Liquor zirkuliert. Allerdings ist ab einer Strahlenbelastung ab 60 Gy die Gefahr einer Hirnnekrose da (einfach gesagt verflüssigt sich Hirngewebe). Für die Stellen, an der die Metastasen gesessen haben, würde sie eine zusätzliche Aufsättigung von 20 Gy durch Protonenbestrahlung vorschlagen ( im Anschluss an die Düsseldorfer Photonenbestrahlung). Sie fing mit Erklärungen zur Bestrahlung des Spinalkanals an. Sie würden die gesamte Wirbelsäule vom Rücken aus bestrahlen. Akute Nebenwirkungen: Harnwegsinfekte, Blasenentzündung, Schluckbeschwerden... Okay, unangenehm, aber akzeptabel. Lanzgeitfolgen: vermindertes Wirbelsäulenwachstum. Okay, noch akzeptabel. Dann ging es zur Bestrahlung des gesamten Kopfes. Sehr wahrscheinliche irreversible
Folgeschäden aufgrund Bestrahlungsumfang und Strahlendosis sind: Ausfall des endokrinen Systems – was einen Minderwuchs und die Verabreichung von Wachstumshormonen zur Folge hätte (ein Minderwuchs kann dadurch jedoch auch nicht verhindert werden) sowie eine lebenslange Ersetzung etlicher weiterer, wichtiger Hormone (Schilddrüse, Sexualhormone, etc.). Die Kinder haben häufig kein Sättigungsgefühl, ein gestörter Tag-Nachtrhythmus kann auftreten. Das wussten wir alles im Vorfeld. Es sind schwerwiegende
Schädigungen, aber wenn es damit getan wäre ...Dann kam sie zu den geistigen Einbußen. Unsere Onkologen hatten davon gesprochen, dass die kraniospinal bestrahlten Kinder Konzentrationsschwierigkeiten, Lese-Rechtschreib-Probleme, etc. hätten, dass sie aber auch Patienten kennen würden, die Abitur gemacht
hätten. Das war die Info, die wir hatten. Die Strahlentherapeutin zeichnete ein anderes Bild: Förderschule, geistige Verlangsamung, Desorientierung, keine normale Kommunikationsbasis zu anderen, Persönlichkeitsveränderungen - sprich schwerwiegende geistige Defizite und Intelligenzeinbußen. Wir hatten
das Gefühl, dass sie eine der wenigen war, die die Folgeschäden der Bestrahlung nicht herunterspielte. Micha und ich hatten es von Anfang an geahnt bzw. unser gesunder Menschenverstand hatte es uns gesagt, dass solch ein massiver Eingriff, solch ein Beschuss des Gehirns in diesem jungen Alter schwere Defizite zur Folge haben wird. Deshalb hatten wir uns nach dem ersten Rezidiv instinktiv gegen die kraniospinale Bestrahlung gewehrt. Unseren Verdacht bestätigt zu bekommen zog uns den Boden unter den Füßen weg. Wir
baten um Bedenkzeit. Wir waren geschockt. Ich fand es zudem fast fahrlässig, dass Vianne während dieses Gespräches anwesend war. Sie hat doch Ohren! Zum Glück hatte ich meine I-phone-Kopfhörer dabei, über die ich sie bei dem wirklich heiklen Gesprächsteil "Drache Kokosnuss" hören ließ. Heute habe ich sie gefragt, ob sie mitbekommen habe, worüber wir bei der Ärztin gesprochen haben. Sie verneinte zum Glück und wirkte auch ansonsten nicht beunruhigter als sonst. Die Tränen kamen bei mir auf der Rückfahrt - sie kamen am Abend im Gespräch mit Andi, die Zuhause wieder die Stellung gehalten hatte, sie kamen beim Einschlafen, sie kamen heute Vormittag, sie kamen heute Nachmittag. Wir wissen, dass Viannes Leben akut bedroht ist, wenn wir die kraniospinale Bestrahlung ablehnen. In allen Fachschriften steht, dass die meisten Kinder mit metastasiertem Ependymom nach zwei Jahren tot sind, wenn nicht radikal behandelt wird. Pest oder Cholera? Cholera oder Pest? Würden wir bestrahlen lassen, würden wir Viannes Persönlichkeit zerstören. Wir würden Vianne zerstören! Ihren Wortwitz, ihr Funkeln in den Augen, ihren Ideenreichtum. Wir würden ihr das Wichtigste nehmen, was sie besitzt: ihren Geist. Aber wir hätten eine Chance, ihr Leben zu erhalten. Was für ein Leben? Geistig und körperlich zerstört, nicht von Natur aus, nicht durch einen Unfall, sondern von uns veranlasst. Was bliebe von ihr übrig? Ich kann das nicht. Micha kann das nicht. Wir denken zum Glück in die gleiche Richtung. Was für eine perverse Entscheidung. Wir suchen händeringend nach einer Lösung. Immer mehr festigt sich die Gewissheit, dass es für uns keine Lösung gibt. Wir wissen nicht weiter...
Hinzu kommt, dass ich das Vertrauen in etliche Ärzte verloren habe: es sind alles versierte, gut ausgebildete und intelligente Leute. Trotzdem ist die Fehlerrate hoch. Das macht Angst: Der Kinderarzt schafft es andauernd, in die Überweisung "PNEt" (andere Art von Hirntumor) anstatt anaplastisches Ependymom zu schreiben. Im Arztbrief aus Essen ist fälschlicherweise die Rede vom "Astrozytom" (andere Art von Hirntumor). Der Experte aus dem Referenzzentrum übersieht, dass es sich bei der Metastase HWK7/ BWK1 um eine Region handelt und schreibt in seiner Therapieempfehlung "die andere Lokalisation in Höhe von HWK7 ...". Es gibt keine andere Lokalisation, es ist ein und dieselbe! Wie soll ich einer Therapieempfehlung eines Arztes vertrauen, der solch einfache Dinge nicht erkennt. Es mag alles nicht so tragisch sein und ändert im Kern nichts, trotzdem finde ich es beunruhigend. Eine Sache liegt mir allerdings noch schwerer im Magen. Sagen uns die Onkologen wirklich alles? In der Therapieempfehlung zur Bestrahlung (aus Leipzig) steht, dass im Referenzbefund (aus Würzburg) zur MRT-Aufnahme vom April 2014 bereits auf eine Metastase im linken Seitenventrikel hingewiesen wird - wenn ich es richtig verstanden habe. Unsere behandelnden Onkologen haben uns im April gesagt, die MRT-Aufnahmen wären in Ordnung: Kein Rezidiv. Das tauchte im örtlichen Befund erst drei Monate später bei der routinemäßigen MRT-Kontrolle auf. Ich möchte den Referenzbefund aus April sehen! Wir haben für morgen früh einen Gesprächstermin vereinbart. Ich hoffe so sehr, dass ich mich irre und etwas falsch interpretiert habe oder dass es ein weiterer Fehler im Leipziger Schreiben ist. An sich ändert es aber nichts an Viannes Situation. Es verwirrt einfach nur.

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