27. November
2014
Das
Fieber ist weg, der Infekt im Griff. Was wir nicht im Griff haben, ist umso
schwerwiegender. Aber dazu gleich. Am Dienstag konnten wir sogar die
Klinik-Weihnachtsfeier besuchen. Es gab wieder ein zauberhaftes Theaterstück
von petit bec. In diesem Jahr wurde "Frau Holle" aufgeführt. Trotzdem
fühlte ich mich nicht wohl, zu viele alte Gesichter, zu viele Rückfälle, zu
viele neue Gesichter. Vianne war noch ziemlich platt, deshalb verließen wir die
Veranstaltung zeitig. Abends hatte sie wieder erhöhte Temperatur, war aber sehr
glücklich über ihre Geschenketüte, die sie vom Elterntreff bekommen hatte.
Am
Mittwoch behielt ich sie noch Zuhause, während Ada in den Kindergarten ging.
Bereits am Abend graute mir vor dem Termin am nächsten Tag: das Gespräch mit
der Strahlentherapeutin an der Düsseldorfer Uniklinik. Wir sollten Vianne
mitnehmen, davon erfuhr ich erst kurz vorher. Info von Dr. B. Micha hatte es irgendwie
vergessen zu erwähnen. Wir machten uns zeitig auf den Weg Richtung Düsseldorf.
Vianne murrte. "Wieder so ein blöder Fingerpiks." "Nein
Süße", antwortete ich, wir unterhalten uns nur mit der Ärztin, weil wir
überlegen, ob Radio-Robby noch mal wiederkommen soll." "Das ist
gemein!", meinte sie. "So blöde langweilige Gespräche - und Ada darf
im Kindergarten spielen." Ich konnte es ganz gut einschätzen. Eigentlich
hatte Vianne nicht wirklich Lust auf den Kindergarten. "Komm, wir machen's
uns total nett heute", meinte ich aufmunternd. "Du darfst auch 'ne CD
im Auto hören." Damit hatte ich sie. Ich traf mich mit Micha in der Nähe der
Autobahnauffahrt, denn er hatte früh morgens noch eine wichtige Besprechung
gehabt. Wir waren angespannt und hatten beide ein schlechtes Gefühl. Ich fand
das Gebäude, in dem die Strahlenklinik untergebracht war, vom ersten Moment an
abstoßend. Ich wollte aber nicht so voreingenommen
an die Sache rangehen, also riss ich mich zusammen. Um Viertel nach zwölf
hatten wir den Termin, irgendwann nach 13 Uhr kamen wir schließlich dran. Die
Wartezeit überbrückten wir mit gemeinsamen Malen. Micha versuchte sich an einem
bunten Farbring: Das sei „trance psychedelic“. Vianne war der Ansicht, es würde
eher wie ein bunter Pups-See aussehen - und der Löwe daneben wie eine zahme Miezekatze.
Meine Tochter und ich waren uns einig, dass wir bei weitem mehr zeichnerisches
Talent haben. Vianne zumindest malte einen echten grimmigen, furchteinflößenden
Löwen. Schließlich wurden wir von einer neten Ärztin hereingerufen. Sie
erklärte uns den Bestrahlungsplan, der von dem Experten aus Leipzig (Referenzzentrum
Strahlentherapie) erstellt worden war. Diese Empfehlung sah eine komplette
Bestrahlung der Neuroachse mit 35 Gy vor. Allerdings würde das bereits zuvor
bestrahlte Primär-Tumorgebiet insgesamt knapp 90 Gy abbekommen (54 Gy gab es
während der Protonentherapie, 35 Gy neu dazu). Dieses Gebiet kann nicht
ausgespart werden, weil außen herum ebenfalls Liquor zirkuliert. Allerdings ist
ab einer Strahlenbelastung
ab 60 Gy die Gefahr einer Hirnnekrose da (einfach gesagt verflüssigt sich
Hirngewebe). Für die Stellen, an der die Metastasen gesessen haben, würde sie
eine zusätzliche Aufsättigung von 20 Gy durch Protonenbestrahlung vorschlagen (
im Anschluss an die Düsseldorfer Photonenbestrahlung). Sie fing mit Erklärungen
zur Bestrahlung des Spinalkanals an. Sie würden die gesamte Wirbelsäule vom Rücken
aus bestrahlen. Akute Nebenwirkungen: Harnwegsinfekte, Blasenentzündung,
Schluckbeschwerden... Okay, unangenehm, aber akzeptabel. Lanzgeitfolgen:
vermindertes Wirbelsäulenwachstum. Okay, noch akzeptabel. Dann ging es zur
Bestrahlung des gesamten Kopfes. Sehr wahrscheinliche irreversible
Folgeschäden
aufgrund Bestrahlungsumfang und Strahlendosis sind: Ausfall des endokrinen
Systems – was einen Minderwuchs und die Verabreichung von Wachstumshormonen zur
Folge hätte (ein Minderwuchs kann dadurch jedoch auch nicht verhindert werden)
sowie eine lebenslange Ersetzung etlicher weiterer, wichtiger Hormone
(Schilddrüse, Sexualhormone, etc.). Die Kinder haben häufig kein
Sättigungsgefühl, ein gestörter Tag-Nachtrhythmus kann auftreten. Das wussten
wir alles im Vorfeld. Es sind schwerwiegende
Schädigungen,
aber wenn es damit getan wäre ...Dann kam sie zu den geistigen Einbußen. Unsere
Onkologen hatten davon gesprochen, dass die kraniospinal bestrahlten Kinder
Konzentrationsschwierigkeiten, Lese-Rechtschreib-Probleme, etc. hätten, dass
sie aber auch Patienten kennen würden, die Abitur gemacht
hätten.
Das war die Info, die wir hatten. Die Strahlentherapeutin zeichnete ein anderes
Bild: Förderschule, geistige Verlangsamung, Desorientierung, keine normale
Kommunikationsbasis zu anderen, Persönlichkeitsveränderungen - sprich
schwerwiegende geistige Defizite und Intelligenzeinbußen. Wir hatten
das
Gefühl, dass sie eine der wenigen war, die die Folgeschäden der Bestrahlung
nicht herunterspielte. Micha und ich hatten es von Anfang an geahnt bzw. unser
gesunder Menschenverstand hatte es uns gesagt, dass solch ein massiver
Eingriff, solch ein Beschuss des Gehirns in diesem jungen Alter schwere
Defizite zur Folge haben wird. Deshalb hatten wir uns nach dem ersten Rezidiv
instinktiv gegen die kraniospinale Bestrahlung gewehrt. Unseren Verdacht
bestätigt zu bekommen zog uns den Boden unter den Füßen weg. Wir
baten
um Bedenkzeit. Wir waren geschockt. Ich fand es zudem fast fahrlässig, dass
Vianne während dieses Gespräches anwesend war. Sie hat doch Ohren! Zum Glück
hatte ich meine I-phone-Kopfhörer dabei, über die ich sie bei dem wirklich
heiklen Gesprächsteil "Drache Kokosnuss" hören ließ. Heute habe ich
sie gefragt, ob sie mitbekommen habe, worüber wir bei der Ärztin gesprochen
haben. Sie verneinte zum Glück und wirkte auch ansonsten nicht beunruhigter als
sonst. Die Tränen kamen bei mir auf der Rückfahrt - sie kamen am Abend im
Gespräch mit Andi, die Zuhause wieder die Stellung gehalten hatte, sie kamen
beim Einschlafen, sie kamen heute Vormittag, sie kamen heute Nachmittag. Wir
wissen, dass Viannes Leben akut bedroht ist, wenn wir die kraniospinale
Bestrahlung ablehnen. In allen Fachschriften steht, dass die meisten Kinder mit
metastasiertem Ependymom nach zwei Jahren tot sind, wenn nicht radikal
behandelt wird. Pest oder Cholera? Cholera oder Pest? Würden wir bestrahlen
lassen, würden wir Viannes Persönlichkeit zerstören. Wir würden Vianne zerstören!
Ihren Wortwitz, ihr Funkeln in den Augen, ihren Ideenreichtum. Wir würden ihr
das Wichtigste nehmen, was sie besitzt: ihren Geist. Aber wir hätten eine
Chance, ihr Leben zu erhalten. Was für ein Leben? Geistig und körperlich
zerstört, nicht von Natur aus, nicht durch einen Unfall, sondern von uns
veranlasst. Was bliebe von ihr übrig? Ich kann das nicht. Micha kann das nicht.
Wir denken zum Glück in die gleiche Richtung. Was für eine perverse
Entscheidung. Wir suchen händeringend nach einer Lösung. Immer mehr festigt
sich die Gewissheit, dass es für uns keine Lösung gibt. Wir wissen nicht
weiter...
Hinzu
kommt, dass ich das Vertrauen in etliche Ärzte verloren habe: es sind alles
versierte, gut ausgebildete und intelligente Leute. Trotzdem ist die Fehlerrate
hoch. Das macht Angst: Der Kinderarzt schafft es andauernd, in die Überweisung
"PNEt" (andere Art von Hirntumor) anstatt anaplastisches Ependymom zu
schreiben. Im Arztbrief aus Essen ist fälschlicherweise die Rede vom
"Astrozytom" (andere Art von Hirntumor). Der Experte aus dem
Referenzzentrum übersieht, dass es sich bei der Metastase HWK7/ BWK1 um
eine Region handelt und schreibt in seiner Therapieempfehlung "die andere
Lokalisation in Höhe von HWK7 ...". Es gibt keine andere Lokalisation, es
ist ein und dieselbe! Wie soll ich einer Therapieempfehlung eines Arztes
vertrauen, der solch einfache Dinge nicht erkennt. Es mag alles nicht so
tragisch sein und ändert im Kern nichts, trotzdem finde ich es beunruhigend.
Eine Sache liegt mir allerdings noch schwerer im Magen. Sagen uns die Onkologen
wirklich alles? In der Therapieempfehlung zur Bestrahlung (aus Leipzig) steht,
dass im Referenzbefund (aus Würzburg) zur MRT-Aufnahme vom April 2014 bereits
auf eine Metastase im linken Seitenventrikel hingewiesen wird - wenn ich es
richtig verstanden habe. Unsere behandelnden Onkologen haben uns im April
gesagt, die MRT-Aufnahmen wären in Ordnung: Kein Rezidiv. Das tauchte im
örtlichen Befund
erst drei Monate später bei der routinemäßigen MRT-Kontrolle auf. Ich möchte
den Referenzbefund aus April sehen! Wir haben für morgen früh einen Gesprächstermin
vereinbart. Ich hoffe so sehr, dass ich mich irre und etwas falsch
interpretiert habe oder dass es ein weiterer Fehler im Leipziger Schreiben ist.
An sich ändert es aber nichts an Viannes Situation. Es verwirrt einfach nur.
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