Donnerstag, 22.
Januar 2015
Wir
fahren in die Schweiz. Am kommenden Dienstag. Nachdem ich Sonntag unseren
Dortmunder Onkologen eine Nachricht geschrieben habe, kam noch am selben Tag
eine Antwort. Wahnsinn, wie sie an unserer Seite stehen. Wir fühlen uns
wirklich gut betreut, nicht allein gelassen, mit unseren Sorgen so ernst
genommen.
Obwohl
ich formuliert habe, dass wir keinesfalls eine Antwort am Wochenende erwarten
würden, kam eine. Dr. S. schrieb, dass er selber etwas verwirrt von dem
Referenzbefund sei. Er würde sich die MRT-Bilder gleich am Montag noch einmal
gemeinsam mit den Radiologen ansehen und besprechen. Sie sehen sehr deutlich
den einen kleinen Herd, der mittlerweile stärker Kontrastmittel aufnimmt und
diskret größer geworden ist (ca. 1mm). Diese Größenzunahme stufen die
Dortmunder nicht als Progress ein, befunden aber, dass hier langfristig
eindeutig ein Tumor wächst, wenn auch langsam. Sie weisen darauf hin, dass
Prof. S. so einen kleinen Herd ungern operieren würde, weil er Sorge hat, dass
er ihn nicht gut identifizieren kann - was sich wahrscheinlich auch nach einer
solch geringen Größenzunahme nicht geändert haben dürfte. Das zweite Areal, das
Fr. W.-M. beschreibt, stellt sich "wolkiger" und "weniger scharf
begrenzt" dar
und hat auch etwas an Größe zugenommen, zeigt sich bildmorphologisch aber etwas
anders als die vorherigen Herde. Fazit: "Angesichts des langsamen
Wachstums der aktuellen Herde, sehe ich die Priorität derzeit bei der
Bestrahlung, auch um einen Schutz von anderen, noch kritischeren Arealen wie
das Rückenmark zu erwirken." Das macht in meinen Augen Sinn. Letzte Nacht
kam Vianne zu uns ins Bett gekrabbelt. Ich genieße ihre Nähe, nehme sie ganz
intensiv wahr und kann gar nicht aufhören, sie behutsam zu streicheln, sanft durch
ihre Locken zu fahren, ihren Atem zu spüren, ihre Körperwärme zu fühlen. Die
schrecklichen Bilder suchen mit aller Macht den Weg in meinen Kopf. Ihr Zurückdrängen
fällt immer schwerer, je weiter die Erkrankung fortschreitet. So auch in der
Nacht zuvor. Ich schlich in ihr Zimmer und kuschelte mich zu ihr unter die
Decke. Dann ging es etwas besser. Wir machen mehrmals die Woche die
Visualisierung. Zuletzt haben wir ein glitzerndes Einhorn-Haar um den "frechen
Wicht" geschlungen. Vianne darf die Schlinge jeden Tag etwas mehr
zuziehen, bis sich der Tumor letztendlich auflöst. Da wollen wir hin. Ich bat
sie, ganz tief in meine Augen zu blicken und es sich dann bildlich
vorzustellen. Sie konzentrierte sich auf mich, war voll und ganz bei mir,
wirkte fast ein wenig verwirrt, als wir fertig waren. Das Band zwischen uns ist
stark. Ich glaube an die Kraft dieser inneren Bilder. Ich glaube, dass sie in
ihrer kindlichen Welt einen noch besseren Zugang zu diesen Bildern hat. Ich
hoffe, ich überfordere sie damit nicht. Doch scheint es ihr zu gefallen und ihr
etwas zu geben, denn sie selber fordert die Bilderreisen
fast jeden Abend ein. Das ist gut. Sie muss alle ihr zur Verfügung stehenden
Mittel ergreifen, um die Tumorzellen zu kontrollieren - nicht anders herum.
Sie
knirscht wieder jede Nacht mit den Zähnen, der Druck ist da - bei ihr, bei uns,
und er wird größer, je näher wir der Bestrahlung kommen. Derzeit liebt sie die
Filmmusik "Lass jetzt los" aus: "Die Eiskönigin" Heute habe
ich das Lied auf mein Handy geladen. Beide Mäuse waren so verzückt und tanzten
und sangen im Schlafanzug
in der Küche: "...ein einsames Königreich und ich bin die Königin...Der
Wind, er heult so wie der Sturm ganz tief in mir, mich zu kontrollieren, ich
habe es versucht...ich lass los, lass jetzt los, die Kraft, sie ist grenzenlos,
ich lass los, lass jetzt los, und ich schlag die Türen zu, es ist Zeit, nun bin
ich bereit, und ein Sturm zieht auf...es ist schon eigenartig, wie klein jetzt
alles scheint, die Ängste, die in mir waren, kommen nicht mehr an mich ran, was
ich wohl alles machen kann, die Kraft in mir treibt mich voran, was hinter mir
liegt ist vorbei, endlich frei! Ich lass los, lass jetzt los, nun bin ich
endlich so weit, ich lass los, lass jetzt los,... ich spüre diese Kraft, sie
ist ein Teil von mir, sie fließt in meiner Seele und in all die Schönheit hier.
Nur ein Gedanke.....Ich bin frei, endlich
frei, und ich fühl mich wie neu geboren...hier bin ich, im hellen Licht...
Ich
habe ihr vorgeschlagen, ihr Lieblingslied bei den Narkoseeinleitungen vor der
Bestrahlung zu hören – sie fand die Idee gut. Wir sind bereit! Die letzten
Vorbereitungen vor unserer Abfahrt laufen. Ada und Vianne haben heute Morgen
ihre Muscheln sortiert. Sie überlegen, ob sie einigen ausgewählten Kindern eine
Muschel zur Aufbewahrung geben, während wir in der Schweiz sind. Ein schöner
Gedanke. Morgen feiern sie "Abschied" im Kindergarten. Jede übergibt
eine Pflanze, mit einem Foto von sich am Blumentopf. Die Kindergartengruppe
soll sich während der Abwesenheit der Zwillinge um die Blumen kümmern, sie gießen,
sie gedeihen lassen. So sind Ada und Vianne weiterhin präsent in der Gruppe.
Und sie bringen eine riesige Portion selbstgemachtes Vanilleeis mit (darauf
freuen sie sich am meisten) - natürlich ohne Zucker. Schon gestern hat Vianne
ihre Kindergärtnerin ganz fest in den Arm genommen und wollte sie gar nicht
mehr loslassen. Das macht sie auch mit mir und anderen ausgewählten Personen
häufiger in letzter Zeit. Wie ein Abschied... Oh nein... Vianne spürt, dass wir
bald aufbrechen. Natürlich weiß sie, wohin wir fahren und was dort passiert,
aber sie scheint noch mehr zu spüren, große Veränderungen, als ob sie wüsste,
dass ihr Leben nach der Bestrahlung ein anderes sein wird... Wir sind bereit -
soweit man dazu bereit sein kann. "Ich lass los, lass jetzt los, nun bin
ich
endlich so weit..."
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