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26. November 2016

Echtzeit! Eiskönigin



 Donnerstag, 22. Januar 2015

Wir fahren in die Schweiz. Am kommenden Dienstag. Nachdem ich Sonntag unseren Dortmunder Onkologen eine Nachricht geschrieben habe, kam noch am selben Tag eine Antwort. Wahnsinn, wie sie an unserer Seite stehen. Wir fühlen uns wirklich gut betreut, nicht allein gelassen, mit unseren Sorgen so ernst genommen.
Obwohl ich formuliert habe, dass wir keinesfalls eine Antwort am Wochenende erwarten würden, kam eine. Dr. S. schrieb, dass er selber etwas verwirrt von dem Referenzbefund sei. Er würde sich die MRT-Bilder gleich am Montag noch einmal gemeinsam mit den Radiologen ansehen und besprechen. Sie sehen sehr deutlich den einen kleinen Herd, der mittlerweile stärker Kontrastmittel aufnimmt und diskret größer geworden ist (ca. 1mm). Diese Größenzunahme stufen die Dortmunder nicht als Progress ein, befunden aber, dass hier langfristig eindeutig ein Tumor wächst, wenn auch langsam. Sie weisen darauf hin, dass Prof. S. so einen kleinen Herd ungern operieren würde, weil er Sorge hat, dass er ihn nicht gut identifizieren kann - was sich wahrscheinlich auch nach einer solch geringen Größenzunahme nicht geändert haben dürfte. Das zweite Areal, das Fr. W.-M. beschreibt, stellt sich "wolkiger" und "weniger scharf begrenzt" dar und hat auch etwas an Größe zugenommen, zeigt sich bildmorphologisch aber etwas anders als die vorherigen Herde. Fazit: "Angesichts des langsamen Wachstums der aktuellen Herde, sehe ich die Priorität derzeit bei der Bestrahlung, auch um einen Schutz von anderen, noch kritischeren Arealen wie das Rückenmark zu erwirken." Das macht in meinen Augen Sinn. Letzte Nacht kam Vianne zu uns ins Bett gekrabbelt. Ich genieße ihre Nähe, nehme sie ganz intensiv wahr und kann gar nicht aufhören, sie behutsam zu streicheln, sanft durch ihre Locken zu fahren, ihren Atem zu spüren, ihre Körperwärme zu fühlen. Die schrecklichen Bilder suchen mit aller Macht den Weg in meinen Kopf. Ihr Zurückdrängen fällt immer schwerer, je weiter die Erkrankung fortschreitet. So auch in der Nacht zuvor. Ich schlich in ihr Zimmer und kuschelte mich zu ihr unter die Decke. Dann ging es etwas besser. Wir machen mehrmals die Woche die Visualisierung. Zuletzt haben wir ein glitzerndes Einhorn-Haar um den "frechen Wicht" geschlungen. Vianne darf die Schlinge jeden Tag etwas mehr zuziehen, bis sich der Tumor letztendlich auflöst. Da wollen wir hin. Ich bat sie, ganz tief in meine Augen zu blicken und es sich dann bildlich vorzustellen. Sie konzentrierte sich auf mich, war voll und ganz bei mir, wirkte fast ein wenig verwirrt, als wir fertig waren. Das Band zwischen uns ist stark. Ich glaube an die Kraft dieser inneren Bilder. Ich glaube, dass sie in ihrer kindlichen Welt einen noch besseren Zugang zu diesen Bildern hat. Ich hoffe, ich überfordere sie damit nicht. Doch scheint es ihr zu gefallen und ihr etwas zu geben, denn sie selber fordert die Bilderreisen fast jeden Abend ein. Das ist gut. Sie muss alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ergreifen, um die Tumorzellen zu kontrollieren - nicht anders herum.
Sie knirscht wieder jede Nacht mit den Zähnen, der Druck ist da - bei ihr, bei uns, und er wird größer, je näher wir der Bestrahlung kommen. Derzeit liebt sie die Filmmusik "Lass jetzt los" aus: "Die Eiskönigin" Heute habe ich das Lied auf mein Handy geladen. Beide Mäuse waren so verzückt und tanzten und sangen im Schlafanzug in der Küche: "...ein einsames Königreich und ich bin die Königin...Der Wind, er heult so wie der Sturm ganz tief in mir, mich zu kontrollieren, ich habe es versucht...ich lass los, lass jetzt los, die Kraft, sie ist grenzenlos, ich lass los, lass jetzt los, und ich schlag die Türen zu, es ist Zeit, nun bin ich bereit, und ein Sturm zieht auf...es ist schon eigenartig, wie klein jetzt alles scheint, die Ängste, die in mir waren, kommen nicht mehr an mich ran, was ich wohl alles machen kann, die Kraft in mir treibt mich voran, was hinter mir liegt ist vorbei, endlich frei! Ich lass los, lass jetzt los, nun bin ich endlich so weit, ich lass los, lass jetzt los,... ich spüre diese Kraft, sie ist ein Teil von mir, sie fließt in meiner Seele und in all die Schönheit hier. Nur ein Gedanke.....Ich bin frei, endlich frei, und ich fühl mich wie neu geboren...hier bin ich, im hellen Licht...
Ich habe ihr vorgeschlagen, ihr Lieblingslied bei den Narkoseeinleitungen vor der Bestrahlung zu hören – sie fand die Idee gut. Wir sind bereit! Die letzten Vorbereitungen vor unserer Abfahrt laufen. Ada und Vianne haben heute Morgen ihre Muscheln sortiert. Sie überlegen, ob sie einigen ausgewählten Kindern eine Muschel zur Aufbewahrung geben, während wir in der Schweiz sind. Ein schöner Gedanke. Morgen feiern sie "Abschied" im Kindergarten. Jede übergibt eine Pflanze, mit einem Foto von sich am Blumentopf. Die Kindergartengruppe soll sich während der Abwesenheit der Zwillinge um die Blumen kümmern, sie gießen, sie gedeihen lassen. So sind Ada und Vianne weiterhin präsent in der Gruppe. Und sie bringen eine riesige Portion selbstgemachtes Vanilleeis mit (darauf freuen sie sich am meisten) - natürlich ohne Zucker. Schon gestern hat Vianne ihre Kindergärtnerin ganz fest in den Arm genommen und wollte sie gar nicht mehr loslassen. Das macht sie auch mit mir und anderen ausgewählten Personen häufiger in letzter Zeit. Wie ein Abschied... Oh nein... Vianne spürt, dass wir bald aufbrechen. Natürlich weiß sie, wohin wir fahren und was dort passiert, aber sie scheint noch mehr zu spüren, große Veränderungen, als ob sie wüsste, dass ihr Leben nach der Bestrahlung ein anderes sein wird... Wir sind bereit - soweit man dazu bereit sein kann. "Ich lass los, lass jetzt los, nun bin
ich endlich so weit..."

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