Echtzeit! 10. November
2014
Das
Fieber ist wieder da, nachdem sie den ganzen Tag fieberfrei war. Das Temodal
zeigt anscheinend sein wahres Gesicht. Wie gesagt: Es ist kein schnödes Nasenspray. Aber
ganz sicher können wir uns nicht sein. Auch Jesse hat früher mal eine Woche
lang extrem hoch gefiebert - weit höher als Vianne jetzt - und sein Immunsystem
war völlig intakt. Entweder packt ihr Immunsystem den Infekt nicht, weil es zu
schwach ist, oder ihr Immunsystem ist soweit in Ordnung, aber der Infekt ist zu
stark. Wir wissen es nicht. Ich bin diese ewigen Spekulationen leid. Ich bin
das Thema Krankheit leid, und doch bestimmt es unser aller Leben. Manchmal stelle
ich mir vor, wie wir leben würden, wenn Vianne keinen Hirntumor gehabt hätte.
Wären wir wirklich glücklicher, oder würden wir dieses vermeintliche Glück gar
nicht zu schätzen wissen? Ich weiß es nicht. Es ist seltsam. Meine Erinnerungen
an die Zeit vor Viannes Erkrankung, meine Erinnerungen an ein Leben ohne den
Tumor, fühlen sich so fremd an. Die Vergangenheit fühlt sich so fremd an, als
ob sie nicht zu uns gehören würde. Wie unbeschwert wir waren, wie frei. Aber
solche Gedanken sind wie Erinnerungen an einen zurückliegenden Urlaub: aus der
Distanz wirkt das Erlebte noch schöner, noch farbenfroher.... Wir müssen in der
Realität bleiben, denn auch jetzt lachen wir noch zusammen. Nur die Angst ist
allgegenwärtig. Jedes Mal zucke
ich zusammen, wenn das Telefon klingelt und die Nummer unterdrückt ist:
entweder sind es meine Eltern (das ist die angenehme Variante) oder es ist Dr.
B., der mal gute, mal schlechte Nachrichten überbringt. Heute Abend rief er an.
Er erkundigte sich nach Viannes Zustand. Mein erster Gedanke war: "Teilt
er uns nun mit, dass die Essener doch nicht mit Protonen bestrahlen
wollen?" Wäre es schlimm? Keine Ahnung. Er brauchte aber lediglich Daten
für die Essener, für die mögliche Protonentherapie. Wann sind wir mit Temodal gestartet?
Wann war der zweite Chemo-Zyklus? Wann war die Rückenmarks-OP? Er hörte sich
ebenso müde an, wie ich mich derzeit fühle.
Vianne
knirscht wieder jede Nacht mit den Zähnen. Es hört sich schrecklich an. Ich
werde nie vergessen, dass sie auch vor der ersten Diagnose so laut mit den
Zähnen geknirscht hat. Da wir das Zimmer der Zwillinge renovieren - es ist
übrigens heute fertig geworden und sieht toll aus - schlafen die beiden derzeit
bei uns im Schlafzimmer. Letzte Nacht bin ich freiwillig in das Wohnzimmer
umgezogen. Nicht weil es mir im Schlafzimmer zu eng war, sondern weil ich eine
mentale Auszeit gebraucht habe. Ich hätte sonst die halbe Nacht Viannes
Zähneknirschen gelauscht und spekuliert, ob sie so einen Stress hat, weil
wieder etwas in ihrem Kopf, in ihrem Rücken wächst. Ich hätte halbstündlich an
ihrem Nacken gefühlt, ob das Fieber wieder da ist. Ich brauchte diese räumliche
Distanz, um meine Sorgen, Ängste, Spekulationen abzuschalten, zumindest für ein
paar Stunden. Micha hat bei den Mädels geschlafen. Ich habe meine Verantwortung
abgegeben. Und ich habe ein schlechtes Gewissen. Ich habe ein schlechtes
Gewissen, weil ich mich davonstehle. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich
an die Zeit vor der Erkrankung denke. Ich hasse diese Schwäche. Aber ich bin
auch Realist. Ich weiß, dass ich mir diese Auszeiten nehmen muss, um am
nächsten Tag wieder da zu sein. Heute Nacht schlafe ich bei
ihr. Sie hat es sich gewünscht. Ich werde mich an sie kuscheln und ihr all
meine Kraft schenken.
Vianne liebt ihre Barbie mit den langen Haaren...Bildunterschrift hinzufügen |
Trotz Fieber Skifahren auf den Kugelbahn-Schienen... |
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