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26. November 2016

Echtzeit! Zurück



 27. Dezember 2014

Wir sind zurück! Elf Stunden Fahrt durch Schneegestöber liegen hinter uns, schwere Wochen vor uns. Ich wollte nicht zurück, wollte mir die ruhige weiße Winterwelt des Stubaier Gletschers noch ein wenig länger erhalten, wollte alle Zukunftsängste, alle trüben Gedanken in der gedämpften Winterwelt weit wegschieben, wollte nur für mich durch den Schnee carven, Spuren auf der frisch planierten Piste hinterlassen, mit dem Board durch butterweichen Schnee schweben. Ich bin immer wieder überwältigt von dem ehrfürchtigen Anblick der gewaltigen Bergmassive, den Naturgewalten - auch wenn sie mich ab und zu ängstigen. Gleich am Ankunftstag zerrte der Wind in knapp 2600 Meter Höhe gewaltig an uns (und dem Sessellift). Ada und Vianne froren entsetzlich und weinten, weil der Wind ihre kleinen Gesichter beinahe gefrieren ließ. Aber am nächsten Tag beruhigte sich der Wind, die Sonne strahlte und die Mädels zogen im Schneeflug hinter uns her Richtung Murmelebahn. Für die nächsten Tage kümmerte sich Jakob - der weltbeste, geduldigste Skilehrer - von 10 bis 14 Uhr rührend um die Damen. Er lachte ständig, war stets gut gelaunt und ganz begeistert von den Mädels, die überhaupt nicht mehr von der Piste zu kriegen waren. Nachdem das erste Eis gebrochen war, quatschten sie ihn gnadenlos zu. Er - gerade 17 Jahre alt - ertrug es mit einer Gelassenheit, die einem nur in jungen Jahren innewohnt - oder er hat kleinere Geschwister . Es war ein stürmischer Urlaub, wir hatten eigentlich alles dabei, was die Natur zu bieten hat: Ruhe, Windböen, Schneegestöber, Sonnenschein, klare Sicht, Wolkenbänke. Ebenso sah es in unserem Inneren aus. Vianne überraschte uns aufs Neue: Trotz Chemo, trotz Rückenmarks-OP (die gerade einmal etwas mehr als drei Monate hinter ihr liegt), trotz neuem Tumor legte sie eine Energie an den Tag (und auf die Bretter), die uns alle mit offenem Mund dastehen ließ. Man merkte ihr nichts an. Sie stapfte tapfer mit den schweren Skischuhen durch den Schnee, hüpfte und sprang und schlitterte über das Eis, hatte ihre Skier im Griff und unterschied sich in nichts von den anderen Kindern. Sie ist meine persönliche Schneekönigin! Wir verbrachten mit Andi und Ralf und den Kindern fröhliche Weihnachten - aber jede Nacht raubte uns Viannes starkes Zähneknirschen den Schlaf und brachte uns zurück in unsere Wirklichkeit, in der der Tumor da ist, wächst, in der sich die Krebserkrankung mit wahnsinniger Geschwindigkeit ausbreitet. Zuhause angekommen erreichte mich die Mail unseres Professors. Der Schweizer Professor hat sich telefonisch bei ihm gemeldet und gibt eine Empfehlung aus: Operation. Sie legen Viannes Bestrahlungspläne erst einmal "auf Eis". Begründung: "In der Rezidivsituation (und ohnehin) ist die Operation die mächtigste therapeutische Maßnahme. Eine Bestrahlung würde eine Resektion für mindestens 6-8 weitere Wochen nach hinten schieben; das gefährdet Vianne. Zudem befindet sich der Herd im ehemals bestrahlten Gebiet." Sie stehen aber grundsätzlich als therapeutische Partner zur Verfügung. Das ist gut. Ich habe nur das Gefühl, dass uns die Zeit davonläuft. Ich bin immer wieder von den Schweizern beeindruckt: Sie wissen, dass Vianne "Vianne" heißt.
Es war seltsam, zu den Vorbereitungen am 15./16. Dezember wieder ans PSI zu kommen. "Ich fühle mich hier wie Zuhause", flüsterte mir Vianne ins Ohr. Sie erinnerte sich nicht mehr an die beiden netten Sekretärinnen, die uns so herzlich in die Arme schlossen. Die Ärzte waren ihr fremd, denn unsere Dr. G. war nicht mehr vor Ort. An das Spielzimmer konnte sie sich noch vage erinnern. Trotz der schrecklichen Umstände fühle im mich so wohl am PSI, so geborgen, so gut aufgehoben. Andi und ich waren die Nacht von Sonntag auf Montag durchgefahren. Am Montag um 11 Uhr hatten wir das erste Gespräch und Vianne die ersten neurologischen Tests. Wir führten die Gespräche in einer anstrengenden und lustigen Mischung aus deutsch, englisch und switzerdütsch, da einer der Ärzte Englisch/Amerikanisch? native Speaker war und sein Kollege, ein Schweizer, im Verlauf immer mehr ins switzerdütsch zurückfiel. Es war ein hartes Gespräch, dem teilweise bis zu drei Ärzte angehörten. Sie alle kannten sich hervorragend mit Viannes Krankheitsverlauf aus und gingen sehr intensiv auf die kleine Person ein. Jochen, der Anästhesist, zeigte Vianne gleich die Vorbereitungsräume. Obwohl Vianne vor einem Jahr hier fast sieben Wochen täglich in meinen Armen eingeschlafen war, konnte sie sich nicht wirklich an den Raum erinnern. Abends fuhren wir mit Vianne nach Waldshut auf den Weihnachtsmarkt. Sie bekam neue Schneestiefel plus einen Gutschein für vier! Fahrten auf dem historischen Karussell. Die nutzte sie auch komplett: nach dem Ritt auf dem Schwan kam noch das Pferd, das Feuerwehrauto, das... dran. "Mama, das ist ein ganz söner Tag heute!" Wir übernachteten in einer gemütlichen Bed and Breakfast Pension unweit des Instituts. Einerseits war alles
so vertraut, andererseits hatte ich nicht damit gerechnet, noch einmal hierher zu kommen, außer vielleicht um "Hallo" zu sagen. Am nächsten Morgen startete die Moulage-Anfertigung. Hierzu wurde Vianne in Narkose gelegt. Obwohl Jochen wieder da war, weinte sie bitterlich. Nicht, weil ein Zugang gelegt werden musste, nicht, weil sie nicht hier sein wollte, sondern weil sie nicht schlafen wollte. Vom MRT war sie es mittlerweile gewöhnt, alles im Wachzustand zu machen. Sie wollte nicht die Kontrolle verlieren. Sie schluchzte so heftig, dass sie kaum sprechen konnte. Ein neuer Eissplitter bohrte sich in mein Herz. Andi hörte die Schluchzer bis ins Wartezimmer - sie konnte kaum auf dem Stuhl sitzen bleiben, wie sie mir hinterher erzählte. Ich versuchte Vianne mit einer Geschichte von "Kribbeli Krabbeli", meinem erfundenen Marienkäfer und seinen Abenteuern, zu beruhigen. Es klappte und sie sackte in meinen Armen zusammen. Drei Stunden dauerte die Vorbereitung in Narkose. Nachdem ich den Anästhesieraum verlassen hatte kamen die Tränen. Andi und ich hinterließen unsere Handynummer und marschierten durch den Wald - ein malerisches Fleckchen Erde mit verschlungenen Pfaden entlang der Aare. Später wachte Vianne wohl gelaunt auf und konnte sich nicht mehr an den Schrecken des Einschlafens erinnern. Eigentlich sollten wir uns noch am selben Tag im Kinderspital in Zürich vorstellen. Es war allerdings schon 16 Uhr, und die Schweizer wussten, dass wir noch am selben Tag nach Hause fahren wollten. Also vertagten sie ganz spontan den Termin. Es hätte noch Zeit, wenn wir zur Bestrahlung wiederkämen. Sie sind so flexibel. Wir machten uns auf den Heimweg.
Jetzt steht also erst die Operation an. Am 5. Januar haben wir das Gespräch an der Essener Uniklinik. Ich habe Angst. Angst um Vianne. Aber ich habe beschlossen, die Angst aus meinem Leben zu verbannen. Hier und Jetzt. Ich habe Ehrfurcht vor der Angst, ähnlich der Ehrfurcht vor den Naturgewalten, vor den gewaltigen Bergen. Aber die Angst hatte mich in letzter Zeit allzu sehr im Griff, hat in den letzten zwei Jahren allzu sehr mein/unser Leben bestimmt. Ich will sie nicht mehr in mir haben - diese Angst. Sie ist übel. Sie nagt, sie zerstört, sie frisst. Jemand muss ihr einen Riegel vorschieben...

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