27. Dezember 2014
Wir
sind zurück! Elf Stunden Fahrt durch Schneegestöber liegen hinter uns, schwere
Wochen vor uns. Ich wollte nicht zurück, wollte mir die ruhige weiße Winterwelt
des Stubaier Gletschers noch ein wenig länger erhalten, wollte alle
Zukunftsängste, alle trüben Gedanken in der gedämpften Winterwelt weit
wegschieben, wollte nur für mich durch den Schnee carven, Spuren auf der frisch
planierten Piste hinterlassen, mit dem Board durch butterweichen Schnee schweben.
Ich bin immer wieder überwältigt von dem ehrfürchtigen Anblick der gewaltigen
Bergmassive, den Naturgewalten - auch wenn sie mich ab und zu ängstigen. Gleich
am Ankunftstag zerrte der Wind in knapp 2600 Meter Höhe gewaltig an uns (und
dem Sessellift). Ada und Vianne froren entsetzlich und weinten, weil der Wind
ihre kleinen Gesichter beinahe gefrieren ließ. Aber am nächsten
Tag beruhigte sich der Wind, die Sonne strahlte und die Mädels zogen im
Schneeflug hinter uns her Richtung Murmelebahn. Für die nächsten Tage kümmerte
sich Jakob - der weltbeste, geduldigste Skilehrer - von 10 bis 14 Uhr rührend
um die Damen. Er lachte ständig, war stets gut gelaunt und ganz begeistert von
den Mädels, die überhaupt nicht mehr von der Piste zu kriegen waren. Nachdem das
erste Eis gebrochen war, quatschten sie ihn gnadenlos zu. Er - gerade 17 Jahre
alt - ertrug es mit einer Gelassenheit, die einem nur in jungen Jahren
innewohnt - oder er hat kleinere Geschwister . Es war ein stürmischer Urlaub,
wir hatten eigentlich alles dabei, was die Natur zu bieten hat: Ruhe, Windböen,
Schneegestöber, Sonnenschein, klare Sicht, Wolkenbänke. Ebenso sah es in
unserem Inneren aus. Vianne überraschte uns aufs Neue: Trotz Chemo, trotz
Rückenmarks-OP (die gerade einmal etwas mehr als drei Monate hinter ihr liegt),
trotz neuem Tumor legte sie eine Energie an den Tag (und auf die Bretter), die
uns alle mit offenem Mund dastehen ließ. Man merkte ihr nichts an. Sie stapfte
tapfer mit den schweren Skischuhen durch den Schnee, hüpfte und sprang und schlitterte
über das Eis, hatte ihre Skier im Griff und unterschied sich in nichts von den
anderen Kindern. Sie ist meine persönliche Schneekönigin! Wir verbrachten mit
Andi und Ralf und den Kindern fröhliche Weihnachten - aber jede Nacht raubte
uns Viannes starkes Zähneknirschen den Schlaf und brachte uns zurück in unsere Wirklichkeit,
in der der Tumor da ist, wächst, in der sich die Krebserkrankung mit
wahnsinniger Geschwindigkeit ausbreitet. Zuhause angekommen erreichte mich die
Mail unseres Professors. Der Schweizer Professor hat sich telefonisch bei ihm
gemeldet und gibt eine Empfehlung aus: Operation. Sie legen Viannes Bestrahlungspläne
erst einmal "auf Eis". Begründung: "In der Rezidivsituation (und
ohnehin) ist die Operation die mächtigste therapeutische Maßnahme. Eine
Bestrahlung würde eine Resektion für mindestens 6-8 weitere Wochen nach hinten
schieben; das gefährdet Vianne. Zudem befindet sich der Herd im ehemals bestrahlten
Gebiet." Sie stehen aber grundsätzlich als therapeutische Partner zur
Verfügung. Das ist gut. Ich habe nur das Gefühl, dass uns die Zeit davonläuft.
Ich bin immer wieder von den Schweizern beeindruckt: Sie wissen, dass Vianne
"Vianne" heißt.
Es
war seltsam, zu den Vorbereitungen am 15./16. Dezember wieder ans PSI zu
kommen. "Ich fühle mich hier wie Zuhause", flüsterte mir Vianne ins
Ohr. Sie erinnerte sich nicht mehr an die beiden netten Sekretärinnen, die uns
so herzlich in die Arme schlossen. Die Ärzte waren ihr fremd, denn unsere Dr.
G. war nicht mehr vor Ort. An das Spielzimmer konnte sie sich noch vage
erinnern. Trotz der schrecklichen Umstände fühle im mich so wohl am PSI, so
geborgen, so gut aufgehoben. Andi und ich waren die Nacht von Sonntag auf
Montag durchgefahren. Am Montag um 11 Uhr hatten wir das erste Gespräch und
Vianne die ersten neurologischen Tests. Wir führten die Gespräche in einer
anstrengenden und lustigen Mischung aus deutsch, englisch und switzerdütsch, da
einer der Ärzte Englisch/Amerikanisch? native Speaker war und sein Kollege, ein
Schweizer, im Verlauf immer mehr ins switzerdütsch zurückfiel. Es war ein
hartes Gespräch, dem teilweise bis zu drei Ärzte angehörten. Sie alle kannten
sich hervorragend mit Viannes Krankheitsverlauf aus und gingen sehr intensiv
auf die kleine Person ein. Jochen, der Anästhesist, zeigte Vianne gleich die Vorbereitungsräume.
Obwohl Vianne vor einem Jahr hier fast sieben Wochen täglich in meinen Armen eingeschlafen
war, konnte sie sich nicht wirklich an den Raum erinnern. Abends fuhren wir mit
Vianne nach Waldshut auf den Weihnachtsmarkt. Sie bekam neue Schneestiefel plus
einen Gutschein für vier! Fahrten auf dem historischen Karussell. Die nutzte
sie auch komplett: nach dem Ritt auf dem Schwan kam noch das Pferd, das
Feuerwehrauto, das... dran. "Mama, das ist ein ganz söner Tag heute!"
Wir übernachteten in einer gemütlichen Bed and Breakfast Pension unweit des
Instituts. Einerseits war alles
so
vertraut, andererseits hatte ich nicht damit gerechnet, noch einmal hierher zu
kommen, außer vielleicht um "Hallo" zu sagen. Am nächsten Morgen
startete die Moulage-Anfertigung. Hierzu wurde Vianne in Narkose gelegt. Obwohl
Jochen wieder da war, weinte sie bitterlich. Nicht, weil ein Zugang gelegt
werden musste, nicht,
weil sie nicht hier sein wollte, sondern weil sie nicht schlafen wollte. Vom
MRT war sie es mittlerweile gewöhnt, alles im Wachzustand zu machen. Sie wollte
nicht die Kontrolle verlieren. Sie schluchzte so heftig, dass sie kaum sprechen
konnte. Ein neuer Eissplitter bohrte sich in mein Herz. Andi hörte die
Schluchzer bis ins Wartezimmer - sie konnte kaum auf dem Stuhl sitzen bleiben,
wie sie mir hinterher erzählte. Ich versuchte Vianne mit einer Geschichte von
"Kribbeli Krabbeli", meinem erfundenen Marienkäfer und seinen Abenteuern,
zu beruhigen. Es klappte und sie sackte in meinen Armen zusammen. Drei Stunden
dauerte die Vorbereitung in Narkose. Nachdem ich den Anästhesieraum verlassen
hatte kamen die Tränen. Andi und ich hinterließen unsere Handynummer und
marschierten durch den Wald - ein malerisches Fleckchen Erde mit verschlungenen
Pfaden entlang der Aare. Später wachte Vianne wohl gelaunt auf und konnte sich
nicht mehr an den Schrecken des Einschlafens erinnern. Eigentlich sollten wir
uns noch am selben Tag im Kinderspital in Zürich vorstellen. Es war allerdings
schon 16 Uhr, und die Schweizer wussten, dass wir noch am selben Tag nach Hause
fahren wollten. Also vertagten sie ganz spontan den Termin. Es hätte noch Zeit,
wenn wir zur Bestrahlung wiederkämen. Sie sind so flexibel. Wir machten uns auf
den Heimweg.
Jetzt
steht also erst die Operation an. Am 5. Januar haben wir das Gespräch an der
Essener Uniklinik. Ich habe Angst. Angst um Vianne. Aber ich habe beschlossen,
die Angst aus meinem Leben zu verbannen. Hier und Jetzt. Ich habe Ehrfurcht vor
der Angst, ähnlich der Ehrfurcht vor den Naturgewalten, vor den gewaltigen Bergen.
Aber die Angst hatte mich in letzter Zeit allzu sehr im Griff, hat in den
letzten zwei Jahren allzu sehr mein/unser Leben bestimmt. Ich will sie nicht
mehr in mir haben - diese Angst. Sie ist übel. Sie nagt, sie zerstört, sie
frisst. Jemand muss ihr einen Riegel vorschieben...
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