Gesamtzahl der Seitenaufrufe

17. Juli 2016

Zuhause



Echtzeit!  23. September 2014

Wieder zuhause! Was gibt es mehr dazu zu sagen. Eigentlich war der morgige Mittwoch im Gespräch. Micha löste mich mittags ab und meinte, ob wir vielleicht schon heute mit Vianne nach Hause könnten. Also fragten wir bei den Schwestern nach (die morgendliche Visite hatten wir irgendwie im Spielzimmer verpasst). "Ja, das wäre schon im Gespräch gewesen, die Ärzte wollten aber erst noch das Blutergebnis abwarten." Wenn die Werte soweit in Ordnung seien, könnten wir am späten Nachmittag fahren. Morgens hatte eine nette junge Ärztin Vianne aus der Vene Blut entnommen. Sie hatte einen schweren Stand, denn Vianne war panisch. Das hatte die "gute Frau" aus der Kinderklinik versaut, die vor einer Woche beinahe vergeblich nach einer Vene gestochert hatte, obwohl es bei Vianne an sich nicht schwer ist, eine geeignete zu finden. Da trennt sich wahrlich die Spreu vom Weizen. Aber die Ärztin heute beherrschte zum Glück ihr Handwerk und traf auf Anhieb. "Tat gar nicht weh", sagte Vianne im nach hinein, noch mit Tränchen auf den Wangen. Auch sie kennt bereits die unterschiedlichen Fähigkeiten und weiß, dass ein Arzt nicht ebenso gut ist wie der andere. Am Nachmittag erhielten wir grünes Licht. Ich war zwischenzeitlich schon nach Hause gedüst. Auf dem Weg zum Auto hätte die Vorfreude eigentlich groß sein müssen. "Hey, Vianne durfte wahrscheinlich nach Hause!"

War sie aber nicht. Ich stellte mir all die Eltern vor, die sich fröhlich befreit mit ihrem Kind auf den Heimweg machten. Mit einem geheilten Kind. Wir waren nicht wie sie. Wir waren nicht fröhlich befreit. Ganz tief in mir erinnerte ich mich an das Gefühl, wie einem das Herz vor Leichtigkeit aus der Brust springt. Ich hatte so Sehnsucht nach diesem Gefühl, aber die Erinnerung daran war mittlerweile so blass und durchscheinend geworden. Ich schüttelte die trüben Gedanken ab und konzentrierte mich darauf, Ada aus dem Kindergarten abzuholen und die Jungs Zuhause zu begrüßen. Einige Stunden später machte ich mich wieder mit Ada auf den Weg nach Essen in die Uniklinik, um Micha und Vianne abzuholen. Ada rannte den Krankenhausflur entlang, als sie Vianne am anderen Ende erspähte. Dann umarmten sich beide ganz vorsichtig. Und da blitzte sie durch, die Freude, die Wärme, das Glück. Micha und ich packten in Ruhe, Ada und Vianne spielten derweil lautstark mit den neuen Mini-Püppchen. Dann verabschiedeten wir uns von unseren netten Bettnachbarn: der neunjährigen C. und ihren Eltern. Den Tag zuvor hatte mir Vianne ebenso neugierig wie nüchtern ins Ohr geflüstert: "Mama, frag mal, ob sie auch einen Tumor hat." Ich habe natürlich nicht gefragt. Ich war absolut baff, dass Vianne wusste, dass ihr "frecher Wicht" ein Tumor ist. Wir müssen aufhören, sie zu unterschätzen. Langsam wachsen Freude und Erleichterung, wieder Daheim zu sein - weil Vianne sich freut und weil wir wieder alle zusammen sind. Hier und Jetzt. Weg mit dem Ballast!



Überlegungen



Echtzeit! Sonntag, 21. September 2014


Es ist unglaublich! Vor fünf Tagen erst ist Vianne operiert worden, heute tapste sie mit Ada an der Hand über den Krankenhausflur und briet Oma in der Spielküche Spiegeleier. Hätte mir das vorgestern jemand erzählt, hätte ich ihn ausgelacht. Da wusste sie noch nicht einmal, wie sie sich von links nach rechts drehen sollte. Sie ist so eine Kämpfernatur. Und sie verhandelt - gnadenlos. Als der Arzt unter ihr Pflaster schauen wollte und sie fragte, zu welcher Seite sie sich drehen wolle, antwortete sie, sie müsse erst überlegen. Sie ließ den Arzt gefühlte fünf Minuten warten. Weil es mir schon unangenehm wurde, wiederholte ich noch mal die Optionen, woraufhin ich von ihr ziemlich barsch unterbrochen wurde: "Mama, wenn du weiter so viel redest, kann ich nicht überlegen", Der Arzt musste sich erst einmal vor lauter Lachen umdrehen. Sie holte noch eine weitere Minute und ein Eis heraus.

Die letzten Tage haben wir viel mit Lesen, Kokusnuss-CD's hören,  Fernsehgucken und Unospielen verbracht. Zwischendurch bekamen wir immer mal wieder lieben Besuch. Am größten war die Freude, als Ada das erste Mal vorbeikam. Die beiden haben ganz viel gekuschelt und Vianne blühte förmlich auf. Aber auch die Brüder sind hoch im Kurs, besonders Luke, wenn er ihr selbstgemalte Katzenbilder mitbringt. Andi und meine Eltern haben ganz süß mit der kleinen Powermaus gespielt - und ich hatte "frei", das tat auch mal gut. Melanie schafft es immer wieder, mir das Lachen zurückzubringen und mich am Leben außerhalb der Krankenhausmauern teilhaben zu lassen. Micha und ich wechseln uns nach wie vor ab - ansonsten würde ich auch durchdrehen. Die letzte Ablösung stand allerdings kurz auf der Kippe, weil eine ältere Dame mit uns auf dem Zimmer lag und gemischte Zimmer nicht zugelassen sind (ist irgendwie wie früher auf Klassenfahrt in der Jugendherberge). Micha fragte ganz nett, ob es für sie in Ordnung wäre, wenn er eine Nacht hier verbringen würde. Sie hatte überhaupt keine Einwände. Alte Damen sind klasse! Als wir dann die Schwester informierten, dass Micha hier gerne übernachten wolle, meinte sie zuerst, dass das nicht gehen würde. Ich sah schon "meine Felle" davon schwimmen und war sogleich auf Angriff programmiert. Ich hielt ihr lange Vorträge, dass es bei unserem letzten Krankenhausaufenthalt auch machbar gewesen sei, dass die anderen Kinder mich auch mal Zuhause bräuchten, dass ich nach noch so einer Nacht durchdrehen würde.... Zu meiner Verteidigung muss ich sagen, dass ich komplett übermüdet war, weil Vianne die Nacht zuvor vor Bauchweh wegen dieser blöden Verstopfung kaum geschlafen hat. Die Schwester war sehr lieb und einfühlsam und meinte dann verschmitzt, es würde klar gehen, wenn unsere Bettnachbarin einverstanden sei. Aber wir sollten es nicht an die "große Glocke" hängen. Respekt! Die Ärzte und Schwestern, mit denen wir bisher zu tun hatten, sind durch die Bank sehr warmherzig und verständnisvoll. Das erleichtert einiges. Morgen steht uns wieder das Gespräch mit der hiesigen Onkologin bevor - eigentlich will ich gar nichts mehr hören.


Grüezi miteinand



Rückblick: 23./24. Juni 2013

Andi (was würde ich bloß ohne sie machen) und ich fuhren mit Vianne am Sonntag nach Villigen in die Schweiz. Micha hielt Zuhause die Stellung. Wir hatten ein schönes Hotel direkt im Ort gebucht, das wir bereits am Vormittag erreichten. Wir ruhten uns kurz aus und erkundeten anschließend zu Fuß die
nähere Umgebung. Sehr idyllisch. Bäche, Hügel, Wiesen. Wir warfen mit Vianne Holzschiffchen in den Bach und beobachteten, wie das Wasser sie davon trieb. Am Ende eines verborgenen Trampelpfades lag ein kleines Gehöft mit einem Hühnerstall. Kinder kamen uns lachend entgegen und riefen uns ein fröhliches "Grüezi" entgegen. Vianne war begeistert. Die Hausherrin kam gerade heraus, um die Hühner zu füttern. Sie grüßte uns ebenso herzlich wie zuvor die Kinder. Dann schenkte sie Vianne ein frisch gelegtes Hühnerei. Wir fühlten uns wohl in Villigen. Das Paul-Scherrer-Institut (PSI), wo die Bestrahlung durchgeführt werden sollte, lag nur wenige Minuten entfernt von unserem Hotel. Am nächsten Morgen, am Montag, 24. Juni, hatten wir bereits um 10 Uhr einen Gesprächstermin mit Dr. G. am PSI. Anschließend sollten die Behandlungsliege, ein speziell auf Viannes Maße angepasstes Vakuumbett, sowie der Helm zur Fixierung ihres Kopfes angepasst werden. Um die exakte Lage festzuhalten, anhand derer die Bestrahlung berechnet wird, musste noch ein Planungs-CT gemacht werden. Vianne musste für die Vorbereitungsmaßnahmen sediert werden. Wieder eine leichte Narkose! Aber anders wäre die Vorbereitung nicht möglich gewesen. Die Anfertigung des Helms muss man sich wie einen Gipsabdruck des gesamten Schädels vorstellen. Bei Vianne entschied sich die Ärztin letztendlich für einen sogenannten Beißblock, über den sie während der Bestrahlung fixiert werden sollte. Die gesamte Prozedur sollte rund zwei Stunden dauern. Zwar kannte ich Luftaufnahmen vom Paul-Scherrer-Institut, das Gelände in natura zu sehen war aber etwas ganz anderes: es glich eher einem Industriegebiet als einem Krankenhauskomplex. Das Publikum war international, jung, gelehrt, überall wurde geforscht, experimentiert. Wir schnappten Fachgespräche in sämtlichen Sprachen auf. Es war spannend und ich fühlte mich sogleich gut aufgehoben. Der Eindruck verstärkte sich noch, als wir den Empfangsbereich des Protonentherapiezentrums betraten. Im Wartebereich saßen Patienten aus halb Europa, die Sekretärin sprach fließend mindestens drei Sprachen. Während sie eben noch Erklärungen auf Englisch abgab, wechselte sie wenig später ins Französische, bevor sie sich dem nächsten Patienten auf Deutsch bzw. "Switzertüütsch" zuwandte. Dann waren wir an der Reihe. "Ja grüezi miteinand, du musst die Emma Vianne sein", ging sie warmherzig auf uns zu. Im Vorfeld hatte ich mit Frau E. bereits einige Male telefoniert, der sympathische Eindruck bestätigte sich. Nach wenigen Formalitäten durften wir mit Vianne im Kinderwartezimmer Platz nehmen. Sie spielte.
Kurze Zeit später kam Dr. G, eine etwas ältere Ärztin zu uns, um Vianne kennenzulernen, sie körperlich und neurologisch zu untersuchen und sich von ihr und ihrem Allgemeinbefinden ein erstes Bild zu machen. Sie war für Viannes Protonentherapie zuständig und unser Ansprechpartner. Sie vermittelte Ruhe gepaart mit Professionalität. Mein erster Eindruck war, dass hier auf ganz hohem Niveau behandelt wird, gleichzeitig aber eine angenehme Gelassenheit im Raum schwebt, ohne die bekannte Hektik und zum Teil geladene Atmosphäre, die wir Deutschen uns so gerne zu eigen machen. Die Stimmung hier war Balsam für meine geschundene Seele - ebenso für Viannes. Außerdem mag ich die Sprache: auch wenn es um etwas Schlimmes geht, hören sich die Lautverbindungen so an, als ob man sich liebevoll über Oma Ernas Geranien unterhält. Auf meine Frage, ob ich bei der Narkoseeinleitung dabei sein dürfte, schaute mich das Schweizer Team irritiert an. "Natürlich", bekam ich zur Antwort. Für sie war es anscheinend völlig normal, dass die Eltern ihre Kinder begleiteten. Endlich mal keine Diskussionen. Danke! Wir gingen in den Vorbereitungsraum. Das Anästhesieteam holte erst einmal ein paar Handpuppen hervor. Ja, so stellte ich mir eine vernünftige Narkoseeinleitung vor. Viannes Kuscheltiere wurden allesamt begrüßt. Sie stellte fest, dass sie eines im Wartezimmer vergessen hatte. "Dann müssen wir es wohl dazu holen", lautete die Antwort. "So viel Zeit muss sein." Ich starrte das Anästhesieteam mit großen Augen an. Ich war im "Kinder-Narkose-Paradies". Also gesagt, getan. Während Vianne auf meinem Schoß saß, wurde das Narkosemittel über den Broviak gegeben.
Ganz sanft schlief sie auf meinem Arm ein. In diesem Moment hatte ich nur einen Gedanken: "Mir isch vögeliwool!" (Ich fühle mich äußerst wohl.). Ja, ich fühlte mich äußerst wohl bei der Protonenbestrahlung. Ja, die Behandlung in der Schweiz war Viannes große Chance auf Heilung ohne wahnsinnige Spätfolgen.







Intensiv



Echtzeit! 16/17. September 2014


Wenn alles gut lief, sollte Vianne rund 24 Stunden auf der Intensivstation bleiben. Es lief alles gut, und es war trotzdem schlimm: Vianne bekam Fieber (normal), Vianne übergab sich mehrmals von dem Narkosemittel (normal), Vianne hatte starke Schmerzen (normal), war dann panisch (norrmal), Viannes Herzfrequenz ging beim Fieber hoch (normal), die Sauerstoffsättigung ging dafür runter (normal) und jedes Mal piepste daraufhin der Alarm (normal). Alle kümmerten sich sehr fürsorglich um uns. Ich bekam für die Nacht einen Schlafsessel und wurde mit wärmendem Kaffee und Kamillentee versorgt, Vianne bekam ein Wassereis (was zwar die Zunge schön blau färbte, dann aber in hohem Bogen wieder hoch kam). Schwester N. zeigte Vianne ein Foto vom Streifenhörnchen ihres Sohnes. Wenn Vianne zu unruhig wurde, gab es die nächste Schmerzinfusion und ich sang ihr ihre Lieblingslieder vor. Besonders gerne mag sie "Hänsel und Gretel". Das Singen tat gut und nahm uns beiden den Druck. Irgendwann versuchte sie mit noch heiserer Stimme selbst "Hänsel und Gretel" zu singen - beide Strophen. Ich hätte sie knutschen können. Sie war wieder da!

Sie musste noch so einiges in den ersten 24 Stunden nach der OP aushalten. Die Lagerungswechsel waren am schlimmsten, trotz Schmerzmittel. Die ganzen Infusionsnadeln und Schläuche störten und pieksten, noch fieser empfindet sie es, wenn sie gezogen werden. Die Ärzte machen ihr nichts vor, sondern sagen ihr ehrlich, wenn es wehtun wird. Sie ist so unglaublich verständig für eine Fünfjährige und arbeitet erstaunlicherweise in den meisten Situationen gut mit. Was für ein Wahnsinn! Am nächsten Morgen verkündete Vianne, dass sie zurück auf die Station wolle. Die Ärztin konnte ihr diesen Wunsch nicht abschlagen...

Geschafft!



Echtzeit!  16. September 2014

Wir sind unendlich erleichtert: Vianne hat die OP gut überstanden. Ohne offensichtliche Schädigung! Ohne bisherige Komplikationen. Der Tumor ist draußen - komplett, wie das postoperative MRT bestätigt hat. Ich ziehe meinen Hut vor den Neurochirurgen. Nach knapp vierstündiger Operation kam am Dienstagmittag schließlich der erlösende Anruf von Prof. S.. Micha und ich liefen gerade durch einen nahe gelegenen Park. Ich hatte nicht mehr still sitzen können.
Bereits um sieben Uhr bekam sie am OP-Tag ihren blauen "Schlumpfsaft". Er muss wirklich übel schmecken, denn beim zweiten Teelöffel musste sie bereits würgen. Aber tapfer hat sie das Beruhigungsmittel schließlich herunter gebracht. Dann ging alles ganz schnell. Kurz bevor wir uns auf den Weg zum OP-Bereich machten, kam Micha. Er hatte noch so lange nach einem Parkplatz gesucht. Ich war heilfroh, dass er nun an unserer Seite war. Er trug Vianne in ihrem "OP-Kleidchen" auf dem Arm, ganz behütend, ganz innig. Sie war noch viel zu wach, als wir mit dem Aufzug nach unten fuhren. "Hast du Angst?", fragte ich sie. „Nein", kam die prompte Antwort. Der Moment des Abgebens ist und bleibt schrecklich. Vianne weinte und klammerte sich an Micha und mich. Aber der Anästhesist nahm sie ganz fürsorglich auf den Arm, sprach ruhig auf "Emma" (sie heißt Vianne!!) ein und ging mit ihr davon. Micha und ich verließen ebenso schnell den Vorbereitungsbereich, weil wir ihr Weinen nicht mehr ertragen konnten. Wir hätten sowieso nicht zu ihr gedurft. Die Räumlichkeiten geben es in Essen nicht her, dass die Eltern bei der eigentlichen Narkoseeinleitung dabei sind, denn der Vorraum liege zu weit vom OP-Saal entfernt, hatte uns eben jener Anästhesist im Vorgespräch erklärt. Natürlich hatten wir wieder nachgefragt, ob wir dabei sein können. Ein Satz überzeugte mich allerdings: "Es ist immer gut, die Leute die Dinge so machen zu lassen, wie sie sie kennen."
Wir flüchteten in den Wald. Vianne tat uns so unendlich leid. Tränen kamen. Wir wanderten weiter. Irgendwann entdeckten wir einen kleinen Tümpel mit Enten und Fischreihern - ein beschaulicher Ort, der uns etwas innere Ruhe schenkte. Nachdem Micha durchgefroren genug war, holten wir uns einen Kaffee im Studentencafé und kehrten auf unser Zimmer zurück. Mittlerweile war eine ältere Dame dazugekommen. Also ab in den Aufenthaltsraum, wo es uns aber auch nicht lange auf den Stühlen hielt. Wir machten uns wieder auf den Weg nach draußen - in die Sonne! Und dann kam der Anruf.
Wir durften dieses Mal sofort zu ihr auf die Intensivstation. Sie war noch intubiert. 


Ich fand den Anblick nicht verstörend, Vianne wirkte so friedlich. Die Ärzte und Schwestern auf der Intensivstation sind alle unglaublich freundlich und extrem tiefenentspannt. Das überträgt sich. Sie erklärten uns Dinge ausführlich, zum Beispiel, dass Kinder anders aus der Narkose aufwachen als Erwachsene, dass sie nicht langsam, sondern plötzlich wieder zu sich kommen und dann sehr desorientiert sind. Sie rieten uns davon ab, bei der Extubation im Raum zu bleiben. Ich konnte aber nicht anders. Ich wollte, dass Vianne mich als erstes sieht, wenn sie aufwacht. Ich war aber auch neugierig, wie so eine Extubation von statten geht, obwohl sich das jetzt komisch anhört. Ich gehe den Dingen gerne auf den Grund - das war schon immer so. Für mich ist es besser, gewisse Szenen mit eigenen Augen zu sehen. Denn die eigene Phantasie und Vorstellungskraft schafft manchmal weitaus schrecklichere Bilder... Als Vianne wach wurde, ging ich zum Fußende des Bettes und schaute ihr direkt in die Augen. Sie wollte sich den Tubus aus dem Hals ziehen, war aber zum Glück an den Händchen fixiert. Ich sagte ihr noch, sie solle dem Arzt vertrauen, gleich würde er das Ding aus ihrem Mund wegmachen. Sie schaute zwar noch immer sehr verängstigt, wurde aber ruhiger. Die Extubation ging relativ schnell. Ich empfand es wirklich nicht befremdlich. Ich war froh, Vianne wieder eigenständig atmen zu hören.





Der Abend davor...



Echtzeit! 15. September 2014

Es sind nur noch zehn Stunden bis zur Operation. Vianne schläft. Ich bin leer. Ich habe keine Tränen mehr. Ich habe keine Worte mehr. Es ist ihre 6. Operation in nur zwei Jahren: zweimal am Hirn, dreimal im Brustbereich für die Broviak-Implantation bzw. -Entfernung und morgen nun am Rücken. Sie werden einen langen Schnitt machen müssen, sie werden Muskelgewebe lösen müssen, um an die Wirbelkörper zu kommen, sie werden zwei Wirbel und die Dura (die harte Hirnhaut, die das Rückenmark umschließt) aufschneiden müssen, um bis zum Tumor vorzudringen. "Sie wird nach der Operation größere Schmerzen haben als nach der Hirn-OP", erklären die Ärzte. Ich will nicht, dass sie Schmerzen hat. Ich will nicht, dass sie Angst hat. Ich will nicht, dass sie danach beeinträchtigt ist. Ich will diese Krankheit nicht. Aber ich will auch nicht, dass der Tumor weiter wachsen kann und das Rückenmark schädigt. Also sehen wir die Operation als Chance und hoffen von Herzen, dass sie sie ohne größere Folgen übersteht. Wir wollen ihr Lebenszeit verschaffen, auch wenn wir ihr dafür wehtun müssen. Deswegen machen wir das. Die Ärzte würden sie nicht operieren, wenn sie keinen Sinn darin sehen würden, das betonen sie. Ich habe Angst, tief verwurzelte, zähe, ursprüngliche Angst. Ich habe Angst, dass sie morgen sterben wird. Ich habe Angst, dass sie gelähmt sein wird. Und ich weiß nicht, was mir mehr Angst macht. Nur mal angenommen, es geht morgen alles gut: Was ist dann? Dann müssen Bestrahlung und Chemo folgen, mit all den Nebenwirkungen und Schädigungen. Und was ist dann? Wächst trotz aggressivster Behandlung ein neuer Tumor? Warum kann sie nicht allein durch die Operation geheilt sein? Ich habe das Gefühl, es wird nie vorbei sein, ganz gleich ob Vianne siegt oder ihre entarteten Zellen die Oberhand gewinnen. Aber wir haben nicht vor zu Fallen und liegen zu bleiben: Wir werden aufstehen (Danke, Andi!), immer und immer wieder. Das muss unser Ziel sein. Deshalb: Einen Schritt nach dem anderen, einen Tag nach dem anderen. Noch 9 Stunden bis zur OP. Ich werde sie noch ein wenig betrachten und das Hier und Jetzt genießen. Wilhelm Busch (ich habe seine Geschichten und Gedichte von klein auf geliebt) wird dabei helfen:

"Es sitzt ein Vogel auf dem Leim,
Er flattert sehr und kann nicht heim.
Ein schwarzer Kater schleicht herzu,
Die Krallen scharf, die Augen gluh.
Am Baum hinauf und immer höher
Kommt er dem armen Vogel näher.
Der Vogel denkt: Weil das so ist
Und weil mich doch der Kater frißt,
So will ich keine Zeit verlieren,
Will noch ein wenig quinquilieren
Und lustig pfeifen wie zuvor.
Der Vogel, scheint mir, hat Humor."

All ihr Lieben dort draußen: wir danken euch von Herzen für eure aufmunternden, fürsorglichen und wohltuenden Worte. Ihr denkt immer, ihr könnt nicht helfen. Dabei helft ihr mehr, als euch bewusst ist: Ihr seid für uns da!


Countdown



Echtzeit!  14. September 2014

Die Koffer sind gepackt, Spielzeug- und Maltasche stehen bereit - aber ich bin nicht bereit. Micha auch nicht. Und Vianne? Schwer zu sagen. Mal bricht sie innerhalb kürzester Zeit wegen irgendeiner Kleinigkeit in Tränen aus, mal ist sie ganz unbeschwert und tobt mit Ada herum, mal ist sie sehr schmusebedürftig und anhänglich, mal "rockt" sie nach wilder Punkmusik im Auto ab. "Lauter, macht lauter!" Eigentlich wollten wir noch einmal ein schönes Wochenende verbringen, bevor es morgen früh mit den Voruntersuchungen, den OP- und  Anästhesiegesprächen losgeht. Es hat nicht wirklich funktioniert. Wir sind so angespannt. Gestern hatte ich schon nach dem Aufstehen schlechte Laune. Ich habe die Kinder angebrüllt, Micha stand ebenfalls in der Schusslinie, ich habe Türen geknallt und "Sch..." geschrieen. Ich habe Vianne angemeckert, sie solle endlich ihre rechte Hand mehr benutzen. Sie solle lernen, sich schneller anzuziehen. Ich habe Angst, dass nach der Operation übermorgen auch die linke eingeschränkt ist. Deshalb habe ich sie so getrieben. Vianne ist in Tränen ausgebrochen. Ich fühlte mich hundeelend.

Nachmittags haben wir uns mit Oma und Opa auf der Montgolfiade getroffen. Vianne sollte die vielen bunten Heißluftballons zu sehen bekommen (Ada natürlich auch, Luke kannte das schon). Erst lief es gut: wir schauten uns eine riesige Ballonhülle von innen an, durften in den Korb steigen. Die Kinder gingen auf das große Trampolin, auf dem man mit Gurten hoch in die Luft gezogen wird. Micha und Luke stiegen in einen Flugsimulator, Ada und Vianne auf die Karussell-Pferde. Aber meine Anspannung wich keinen Zentimeter, obwohl sich Oma und Opa so rührend kümmerten. Irgendwann starteten die unzähligen bunten Ballone. Wir durften auf der Behinderten-Tribüne stehen, Vianne hat einen Ausweis. Dann wurde es Ada zu langweilig, andauernd lief sie zwischen den Leuten umher, quetschte sich überall durch, rempelte. Ich ermahnte sie. Vianne quengelte. Sie wollte Zuckerwatte, Schoko-Früchte, Mandeln, Lebkuchenherzen. Es wurde zunehmend lauter, hektischer, enger, Musik dröhnte über den Platz, alles drehte sich schneller, an meiner Hand zwei nörgelnde Kinder... Ich ließ mich überreden und Opa kaufte für Ada und Vianne mit Schokolade überzogene Bananen, Luke bekam einen grellroten Zuckerapfel. Dabei wollten wir doch Zucker so gut wie möglich vermeiden. Zucker war pure Energie für den Tumor. Aber sollten wir Vianne vor der Operation nicht so viel Freude wie möglich machen? Auf der anderen Seite rebellierte mein schlechtes Gewissen wegen dieses Zucker-Schocks. Vianne quengelte weiter, die Banane schmecke nicht, sie wolle etwas anderes von der Süßigkeitenbude. Gereizt meckerte ich sie an, dass der ganze Zucker sowieso reiner Mist und absolut schädlich und krankmachend sei und sie nichts bekommen werde, erst recht nichts Neues, und dass.... Ich konnte mich selbst nicht mehr hören, konnte aber auch nicht aufhören. Ich war außer mir, verzweifelt, Vianne brach in Tränen aus, meine Eltern waren geschockt von meinem Ausbruch, machten sich Sorgen um uns alle. Luke ließ Vianne mitfühlend an seinem Zuckerapfel lecken. Jetzt pflaumte ich auch noch Ada und Luke an, sie sollten ihre Sachen bitte sofort wegpacken. Alles landete letztendlich im Müll. Auf der Heimfahrt waren alle sehr still.

Heute ging es etwas besser. Wir haben meinen Schwager beim Mountainbike-Rennen angefeuert. Es tat gut, meine Familie und auch gute Freunde vorher noch einmal zu sehen. Oma und Opa verwöhnten uns nach Strich und Faden - mit zuckerfreiem Apfelkuchen. Am Abend ließen wir die Zwillinge noch lange auf dem Trampolin toben. Ich stand davor und beobachtete die beiden. Meine Augen wurden feucht. Würde Vianne nach übermorgen jemals wieder Trampolin springen können. Plötzlich stand Luke weinend neben mir – er hatte den gleichen Gedankengang. Ich drückte ihn ganz fest und sprach ruhig mit ihm. Dann kletterten Luke und ich zu den Mädels aufs Trampolin und alberten mit ihnen gemeinsam herum. Wir waren die "Katzen", die mit geschlossenen Augen Ada und Vianne auf dem Trampolin fangen mussten. Wir kullerten und purzelten übereinander und lachten und kicherten. Es tat gut. Danach spielten wir mehrere Runden Kinder-Uno, bevor es eine letzte ausführliche gemeinsame Gute-Nacht-Geschichte gab. Wir sollten die Operation übermorgen als Chance sehen! Das Scheißding muss raus! Am besten komplett! Ohne Schädigung des Rückenmarks! Und jetzt muss ich alle weiteren Gedanken aus meinem Kopf verbannen, damit ich nicht durchdrehe.











11. Juli 2016

Kunterbunt



Rückblick:  Mai/Juni 2013


Wir waren auf der Zielgeraden. Der letzte Zyklus konnte beginnen. Einmal mussten wir noch Cyclophosphamit und Vincristin, einmal noch Carboplatin und Etoposid bekommen: machte alles in allem noch einmal acht Tage Krankenhaus, plus einen sehr wahrscheinlichen "Fieberaufenthalt" nach der Platingabe. Vianne ging es noch immer relativ gut. Die Chemo hatte sie zwar ausgezehrt (Prof. S.:"Vianne ist dünn geworden"), aber nicht in die Knie gezwungen. Das Carboplatin hatte bisher keine Hörschädigung verursacht, das Vincristin keine Nervenschäden in den Extremitäten. Wir lagen im Zeitplan, denn die Bestrahlung sollte laut Protokoll zeitnah an die Chemo anknüpfen. Wir waren so voller Zuversicht. Das Fieber kam dieses Mal eher. Egal. Wir hatten die Schweiz vor Augen. Von der Bestrahlung versprachen wir uns eine Heilung. Also noch einmal alles geben, um dieses Etappenziel zu erreichen. Vianne malte bunte Bilder im Krankenhaus, knetete mit unserer Kunsttherapeutin eifrig Ton, sang mit der Musiktherapeutin "Pippi-Langstrumpf-Lieder", verhedderte sich mit ihrem Infusionsschlauch in dem roten Drehsessel im Spielzimmer und lachte, während ich einen Befreiungsversuch startete.

Das Wetter spürte anscheinend unsere Zuversicht und legte sich mächtig ins Zeug. Wir bauten Zuhause die Wasserspritz-Blume auf, die Ada und Vianne von ihren kleinen Freunden zum Geburtstag geschenkt bekommen hatten. Wir verklebten den Broviak-Zugang und statteten Vianne noch zusätzlich mit einem Regenschirm aus, damit sie (etwas geschützter) unter der Wasserfontäne herlaufen konnte. Wir wurden mutiger und füllten den Pool. Sie rutschte vor Vergnügen jauchzend ins Wasser. Perfekt! Andi und ich machten mit den Mädels im Anhänger eine Fahrradtour zur Ruhr, schauten den Pferden zu und warfen Steine in den Fluss. 
Vianne hatte mittlerweile weder Augenbrauen noch Wimpern - es war befremdlich. Ihre Lebensenergie erstickte jedoch jeden Zweifel im Keim. Wie erwartet kam nach dem Carboplatin das Fieber: Wir telefonierten mit Dr. B. wegen der Blutergebnisse: "Vianne hat einen hohen CRP (Entzündungswert), Sie müssen stationär kommen." Er hatte wohl erwartet, dass wir wieder Einwände hatten. So kannte er uns schließlich. Er wusste, dass wir uns mit jedem Extra-Aufenthalt schwer taten. "Wir kommen sehr gerne", hörte ich mich verschmitzt sagen (ich wusste schließlich, dass wir das letzte Mal wegen "Chemo-Fieber" in die Klinik fuhren). Kurze Pause am Telefon. Dann lachte er lauthals, wie ich ihn noch nie lachen gehört hatte. Oh ja, nach einem dreiviertel Jahr Chemotherapie war das Leben kunterbunt!

Nur noch ein (vorgezogenes) MRT stand uns im Weg, bevor wir zur Behandlungsvorbereitung in die Schweiz konnten. Am Dienstag, 18. Juni, hatten wir mehr Angst (falls das überhaupt noch möglich war) vor dem Ergebnis als jemals zuvor.

Auszug aus dem Arztbrief:

"Am 18.06.2013 wurde bei Vianne ein MRT des Schädels zur Verlaufskontrolle durchgeführt. Das MRT zeigte erfreulicher Weise keinen Hinweis auf ein Rezidiv der Grunderkrankung....Bei Vianne ist nach Beendigung der intensiven Chemotherapie protokollgemäß eine lokale Schädelbestrahlung vorgesehen....Für die Therapieplanung wird sich Vianne mit ihren Eltern erstmals am 24.06.2013 am PSI (Paul-Scherrer-Institut) vorstellen. Ab dem 15.07.2013 ist dann die Durchführung der Therapie unter Narkose für voraussichtlich insgesamt 6 Wochen vorgesehen."

Schweiz, wir kommen! Nach 86 Tagen stationärem Krankenhausaufenthalt, nach unzähligen Granulozytenspritzen, nach 13 Bluttransfusionen, nach mehrmals wöchentlich stattfindenden ambulanten Kontrollterminen, nach 16 Chemotherapiedosen in fünf Zyklen, nach drei Operationen, nach sieben MRTs...







Pfingstwochenende



Rückblick:  18.- 20. Mai 2013


Der Mai war wirklich ein Wonnemonat. Über Pfingsten besuchten wir liebe Freunde im hohen Norden. Weder Fieber noch anstehende Bluttransfusionen noch eine Therapieeinheit machten uns einen Strich durch die Rechnung. Alle waren infektfrei, so dass Vianne nicht übermäßig gefährdet war. Abgesehen davon hatten wir es sowieso nicht in der Hand. Zum einen sind diverse Krankheiten ansteckend, bevor sich sichtbare Symptome zeigen, zum anderen konnte Vianne überall und jederzeit auf jemanden treffen, der sie mit irgendeinem Keim/ Virus oder Bakterium infizierte. Natürlich mieden wir Menschenansammlungen, aber ganz isolieren wollten wir die "Maus" auch nicht. Freunde von Luke und Jesse durften fast immer vorbeikommen, außer wenn Vianne im absoluten Zelltief war. Allerdings musste sich jeder gründlich die Hände desinfizieren, wenn er das Haus betrat. Unsere Ärzte gaben ebenfalls ihre Zustimmung. Auch in Hamburg gebe es im Notfall eine gut Klinik, sagte Dr. B. schmunzelnd. Ich liebe diese Einstellung! 
Es tat so gut, die Sechs zu treffen. Es ist jedes Mal von Anfang an so vertraut, auch wenn wir uns einmal länger nicht gesehen haben. Jeder mag jeden, unsere Kinder verschwanden gleich mit ihren Freunden in den jeweiligen Zimmern. Abends besuchten wir ein nahe gelegenes Steakhaus, die Jüngeren fuhren in einem Riesen-Go-Cart samt Anhänger, wir "Großen" spazierten nebenher. Es regnete in Strömen, aber es machte uns nichts aus. Im Restaurant angekommen, mussten wir Vianne die mittlerweile durchnässte Mütze absetzen. Ihr kahles Köpfchen und ihre blasse Haut bildeten so einen krassen Gegensatz zu den geröteten Wangen und zerzausten Haaren der übrigen Kinder. Zudem trug sie ihren Mundschutz. Wir fielen auf. Doch auch wenn einige Gäste sicherlich geschockt waren, niemand ließ sich etwas anmerken. Das rechne ich den Leuten noch heute hoch an. Ich hätte es sogar verstanden. Wer möchte schon bei einem netten geselligen Essen mit Krankheit und Leid konfrontiert werden? Diese "Schattenseiten" verunsichern, zumindest uns Erwachsene. Kinder hingegen gehen weitaus natürlicher damit um. Loulou rührte mich zu Tränen. Sie saß zwischen Ada und Vianne auf einer Bank und hatte ihre Arme um sie gelegt. Plötzlich strich sie Vianne ganz zart über ihr kahles Köpfchen und sagte: "Das fühlt sich aber schön weich an." Wunderbare Loulou! Nachdem wir die Jüngeren zu Bett gebracht hatten, ließen wir Erwachsenen den Abend mit ein paar zünftigen Doppelkopf-Runden ausklingen. Nach einem ausgiebigen, fröhlichen Frühstück ging es am nächsten Morgen auf in den Schmetterlingspark. In bester Erinnerung haben wir auch noch ein spannendes Fußballspiel zum Ende unseres Besuchs.

"Liebe U, lieber K, wir fühlen uns in eurer Gegenwart einfach nur Wohl, eure liebenswerte, besonnene und ungezwungene Art sind Balsam für unsere Seele. Wir konnten an diesem Wochenende ganz viel Lebensenergie tanken. Danke für eure Freundschaft!"

Absolut gestärkt - und mit Abschiedstränen in den Augen - fuhren wir nach einem wunderschönen Wochenende wieder heim. Am 24. Mai startete der fünfte und letzte Chemotherapie-Zyklus.








4. Geburtstag



Rückblick:  25. April 2013


Der vierte Chemotherapie-Zyklus lief am 10. April an. Die mittleren MTX-Blöcke fielen in den letzten beiden Zyklen weg (hurra!), wir näherten uns dem Ende. Wenn alles nach Plan lief, sollten wir im Juni durch sein mit der Chemo. Zwischenzeitlich haben uns unsere Jungs auf Trab gehalten. Beide liefen kurzzeitig aus dem Ruder, was ich ihnen auch nicht verdenken kann. Bei dem einen sackten die Schulnoten ab, der andere meinte, er müsste zum "bad guy" mutieren. Kurzzeitig dachte ich, alles bricht über uns zusammen, aber irgendwie haben wir es geschafft, uns da wieder rauszuziehen. Gemeinsam. Schließlich hatten wir den Jungs versprochen, für sie da zu sein. Aber es brachte uns kurzzeitig an unser Limit. Unser vorrangigster Wunsch war, dass Luke, Ada und Vianne ihren Geburtstag gemeinsam mit allen zu Hause feiern konnten. Alle drei sind im April geboren. Es hat geklappt. An beiden Geburtstagen mussten wir nicht ins Krankenhaus. Da Viannes Abwehrkräfte nach der Cyclophosphamid- und Vincristin-Gabe relativ stabil waren, luden wir kurzerhand Adas und Viannes kleine Freunde zur "Yakari-Party" ein. Das Wetter war traumhaft, wir bastelten mit den Kindern entsprechenden Indianerschmuck und machten uns auf die Suche nach "Kleiner Donner". Morgens hatten wir zwar eine Kontrolltermin in der Ambulanz, das war aber nicht weiter schlimm, denn Lilli und ihre Mama waren zeitgleich da. Wir gingen zusammen ein Eis essen. So konnte Vianne auch Lilli an ihrem Geburtstag sehen - was für ein toller Tag.

Leider scheint es in der Natur der Dinge zu liegen, dass nach hellen Tagen wieder dunkle folgen. Am 30. April ging es für die Carboplatin- und Etoposid-Gabe zurück in die Klinik. Zum ersten Mal musste sich Vianne nach der Chemotherapie übergeben - das Gift zeigte sein wahres Gesicht. Vianne war verwirrt, hatte Angst. Sie kuschelte sich an mich. Im Laufe der lezten Monate hatten wir etliche Lillifee-Hefte durchgelesen. In einem veranstaltete die kleine Fee ein wunderschönes Fest am See, umringt von ihren Freunden. Vianne und ich hatten damals einen Geheimcode ausgemacht. Wenn sie einmal ganz doll Angst haben sollte, wollten wir an Lillifees See entfliehen. Vianne schaute mich mit traurigen Augen an: "Mama, können wir jetzt zu Lillifees Seefest?". Ein Kamillentee reichte an diesem Tag nicht, um mich innerlich zu wärmen. Wir wurden am 3. Mai entlassen. Am 8. Mai folgte das Fieber mit hohen Entzündungswerten. Die Klinik hatte uns wieder. Die Chemo wurde zäh zum Ende. Aber wir hatten schließlich ein Ziel: wir wollten jede kleinste Tumorzelle kaputt kriegen. Ein warmer Frühlingstag brachte uns das Lachen zurück. Vianne stand auf dem Balkon der Kinderklinik und betrachtete einen wunderschön blühenden Obstbaum, dessen Zweige an die Brüstung reichten: "Guck mal, Mama, der Baum blütet."







Zusage



Rückblick:  8. April 2013


Es ist wie ein "Sechser" im Lotto. Wir haben heute die Zusage für die Protonentherapie am Paul-Scherrer-Institut in der Schweiz bekommen - die Top-Adresse in Europa. Sie werden Vianne mit Protonen bestrahlen. Nur wenige Patienten können dort behandelt werden, denn die Kapazitäten sind begrenzt. Vianne ist eine von ihnen. Neben der Operation ist die Bestrahlung eine weitere wichtige Säule in der Behandlung von Hirntumoren. Durch die Bestrahlung werden Tumorzellen so weit geschädigt, dass sie absterben, doch leider werden auch gesunde Hirnzellen getroffen. Im Vergleich zur herkömmlichen Bestrahlung mit Photonen (elektromagnetischen Wellen), ermöglicht die Protonentherapie (Protonen = geladene Teilchen) eine besonders vorteilhafte Dosisverteilung, so dass das umliegende Hirngewebe besser geschont wird. Gerade das kindliche Hirn reagiert sehr sensibel auf Bestrahlung. Die Folgen sind oftmals gravierend. Bei der Protonenbestrahlung wird das Wasserstoffatom in Proton und Elektron gespalten. Die positiv geladenen Protonen werden auf 60 Prozent Lichtgeschwindigkeit beschleunigt, bevor sie in den Körper eindringen. Dabei geben sie die höchste Strahlendosis zielgenau im ehemaligen Tumorgebiet plus Sicherheitssaum ab, nur eine geringe Strahlendosis wird beim Eintritt abgegeben. Hinter dem Tumorgebiet fällt die Strahlung nahezu auf Null ab. Die Photonen hingegen durchdringen (wie ein Röntgenstrahl) den gesamten Kopf mit gleichbleibender Intensität und zerstören auf ihrem Weg kranke und gesunde Hirnzellen gleichermaßen. Da wir bei Vianne eine Heilung anstreben, möchten wir ihr ein Höchstmaß an Lebensqualität bewahren. Deswegen ist uns die schonende Protonenbestrahlung so enorm wichtig. Wir sind sehr dankbar für diese Chance. Am 15. Juli 2013 soll es losgehen. Die Kosten für die Protonentherapie belaufen sich auf rund 37.000 CHF. Unsere Krankenkasse hat uns eine Kostenübernahme zugesichert - wie toll! Ich will nie wieder jemanden über unser Gesundheitssystem meckern hören - zumindest nicht, wenn Kinder betroffen sind. Klar, manches ist im Argen, aber wir jammern auf hohen Niveau, und ich empfinde es mittlerweile als Privileg, in Deutschland zu leben. Die Behandlungsmöglichkeiten und Kostenzusagen in vielen anderen Ländern sind um einiges schlechter.


Vorgespräch



Echtzeit!  Freitag, 12. September 2014


Es ist halb elf, Micha und ich sind auf dem Weg in die Uniklinik Essen. Wir haben kurzfristig einen Gesprächstermin mit dem Neurochirurgen bekommen, der Vianne vor nur acht Wochen! am Hirn operiert hat. Es ist seltsam, das Klinikgelände zu betreten. Es kommt mir vor, als ob wir in der Zeit zurückkatapultiert werden. "Bitte lass den Arzt da sein, bitte lass keine Notoperation dazwischen gekommen sein." Wir brauchen das Gespräch heute, um möglichst schnell alles in die Wege zu leiten, bevor der Tumor das Rückenmark schädigt. Wir werden nach ganz kurzer Wartezeit aufgerufen. Es tut gut, Prof. S zu sehen. Er sagt von Anfang an die richtigen Worte. Auch er ist betroffen, dass wir uns nach so kurzer Zeit unter diesen Umständen wiedersehen. Nachdem geklärt ist, dass die Onkologen zur Operation raten, gibt auch er uns grünes Licht. Er operiert sie. Am Dienstag - kurz bevor er zu einem mehrtägigen Kongress aufbrechen muss. Puh, gerade noch rechtzeitig! Ich hätte nicht gewollt, dass ein anderer Arzt sie operiert. Prof. S. hat seine Sache schon beim ersten Mal hervorragend gemacht. Ich vertraue ihm. Er schaut sich die MRT-Bilder der Wirbelsäule an. Das Ding verbirgt sich hinter Wirbel 7.1., ungefähr in Kinnhöhe. Der Neurochirurg will vom Rücken her daran, durch den Brustbereich ist es zu gefährlich, das Rückenmark liegt im Weg. Wie bereits vor der ersten OP erklärt er uns anschaulich, wie er vorgehen will. Er zeigt uns zum besseren Verständnis Schaubilder. Er macht uns Mut. Er spricht von einer günstigen Lage. Er erzählt von einem Mädchen, das ebenfalls mehrere Rückfälle hatte - und heute, rund zehn Jahre später - lebt, ohne wahnsinnige Einschränkungen. Und er sagt noch etwas: "Nicht aufgeben!" Wir verlassen etwas erleichterter, als wir gekommen sind, die Uniklinik. Am Montag werden wir stationär aufgenommen. Sollte Vianne am Wochenende Ausfälle oder andere Auffälligkeiten zeigen, sollen wir sofort kommen, dann verlegt er die Operation vor. 
Es ist immer noch alles so surreal, Vianne sieht nicht krank aus. Gleich hat sie zum ersten Mal ihren Schwimmkurs... Sie freut sich so sehr darauf. Gestern Morgen, kurz vor dem Aufstehen, lagen Ada und sie ganz eng aneinandergekuschelt im Bett - sie spüren es.





5. Juli 2016

3. Chemo-Zyklus



Rückblick: 30. Januar 2013 - 30. März 2013


Wir konnten "Bergfest" feiern, die Hälfte der Chemotherapie war geschafft. Acht von insgesamt 16 Gaben hatte sie besser gepackt als erhofft. Die Zeit ging schneller rum als gedacht. Im dritten Zyklus verbrachten wir insgesamt 25 Tage im Krankenhaus. Vianne wurde schwächer, Zelltief und Fieber kamen häufiger und schneller, zweimal konnten wir nur zeitverzögert mit der Chemo starten, weil ihre Blutwerte zu schlecht waren. Die Spritzen, mit denen wir ihre Immunabwehr puschten, mussten jetzt regelmäßig gegeben werden. Vianne ging trotz allem noch immer gerne in die Klinik. Sie meckerte fast nie, wenn wir bepackt mit Koffern, Stofftieren, Unmengen an Spielzeug und Süßigkeiten losfuhren. Sie kannte mittlerweile alle Schwestern und Pfleger, jeder hatte ein nettes Wort für sie, wenn sie mit ihrem Infusionsständer über den Flur hopste. Lilli war Anfang des Jahres mit der Therapie durch und nicht mehr so häufig auf Station. Wenn sie aber Kontrolltermine in der onkologischen Ambulanz hatte, kam sie uns mit ihrer Mama kurz besuchen. Ich weiß nicht, wer sich mehr freute: Vianne oder ich. Wir saßen oftmals mit anderen Kindern und Müttern in der Stationsküche, futterten gemeinsam Fischstäbchen oder malten, puzzelten, erzählten. Am liebsten gingen wir in der Sonne auf dem umlaufenden Balkon spazieren. Der vierjährige Ben war absolut beeindruckt von Viannes Dinos (von ihrem Bruder). Nachdem die beiden "Platzhirsche" erst einmal ihre Grenzen abgesteckt hatten, sich geschubst und geknufft hatten, tauschten sie Dinos und Ritter aus und spielten einträchtig zusammen. Zum Ende des Tages kuschelten sich die beiden gemeinsam in ein Bett und schauten fern. Dann bestanden sie noch auf eine "Gute-Nacht-Geschichte". Anschließend verschwand Ben wieder in seinem eigenen Zimmer.

Es kamen "Neue", denen der Schock des ersten Moments in den Augen geschrieben stand. Wir "alten Hasen" kannten all diese erdrückenden Gedanken und Gefühle. Und es kamen Kinder zurück, die ein Rezidiv – einen Rückfall - hatten. Das war das Schlimmste. Dann brauchte ich einen Kamillentee.

Auszug aus dem Arztbrief:

Am 09.04.2013 wurde bei Vianne ein MRT des Schädels zur Verlaufskontrolle durchgeführt. Das MRT zeigte erfreulicher Weise unverändert keinen Hinweis auf ein Rezidiv der Grunderkrankung.