Dienstag, 26.
Mai 2015
Heute
vor einer Woche ging es Vianne verdammt dreckig - da kommen gleich wieder
Ängste hoch, denn auch heute Abend bekam Vianne urplötzlich starke Kopfschmerzen.
Wir konnten ihr eben noch das Novalgin verabreichen, bevor sie, noch bei mir
auf dem Arm, einschlief. Aber es gibt auch schöne Nachrichten: wir waren über
Pfingsten bei unseren lieben Freunden (die sich so dermaßen nach Familie
anfühlen), wir waren gemeinsam am Meer, wir waren auf dem Hof. Für mich hat
sich der Kreis geschlossen. Es fühlte sich gut und richtig an. Ganz spontan
sind wir am Samstagmorgen kurz nach fünf Uhr Zuhause aufgebrochen, nachdem die Nacht
und der Freitag unauffällig verlaufen waren - ohne Erbrechen oder größere
Schmerzattacken. Mut gemacht hatte mir im Vorfeld das Kinder-Palliativ-Team,
das am Donnerstag zu Besuch war. Wir haben sie während der schlimmen Tagen
aktiviert, weil wir uns so hilflos, so heillos überfordert gefühlt hatten. Eigentlich
hatte der aufsuchende Arzt nur in einem kleinen Nebensatz erwähnt, dass Tavor
(ein Medikament gegen Krampfanfälle) unterwegs leichter zu verabreichen wäre
als Diazepam, wenn wir z.B. über die Feiertage nach Holland oder sonst wohin
fahren wollten. Okay!
Alle
Kinder verschliefen fast die gesamte Fahrt Richtung Norden, nach drei Stunden
waren wir schon am Ziel. Was für ein warmherziges Wiedersehen. Nach einem
ausführlichen und gemütlichen Frühstück schlenderten Uli und ich über den
wirklich netten Wochenmarkt, um noch ein paar Leckereien für das Abendessen einzukaufen,
bevor es später mit allen gemeinsam zum wunderschönen Ahrensburger Schloss
ging.
Vianne schlummerte noch vor dem Abendessen auf der Terrassenliege, in
dicke Decken gekuschelt, ein. Später trugen wir sie leise ins Schlafzimmer, wo
sie zwischen uns gebettet weiter schlief. Die Nacht war ruhig und wohltuend.
Früh am nächsten Morgen ging es nach Dahme, wo wir in einem netten
Strandrestaurant mit wunderbarem Ausblick auf Strand und Meer ausgiebig
frühstückten. Ein fast menschenleerer Strand und ein strahlendblauer Himmel
lachten uns an. Das Meer, das Licht, die Luft - Balsam für meine verletzte
Seele. Wahrer "Meeresbalsam", der einige Narben verblassen ließ. Das
erste Mal seit Wochen fühlte ich mich wieder richtig lebendig. Sollen wir doch
ans Meer ziehen? Vianne und die anderen Kinder wollten später unbedingt
Tretboot fahren. Wir willigten ein, obwohl wir noch eine halbe Stunde Wartezeit
einplanen mussten. Früher hätten wir uns dagegen entschieden. Nun machen wir die
Dinge einfach, die Vianne gerne machen will, und zwar gleich (sofern es sich
realisieren lässt). Die Wartezeit überbrückten wir mit einer wilden
Strandbuddelei. Draußen auf dem Wasser war Vianne ganz still und andächtig,
während Loulou, Ada und ich wie wild trampelten, um gegen Wind und Wellen
anzukommen. Schließlich mussten wir dem Jungs-Boot (mit Micha, Lu und Dalo)
entkommen, das uns immer rammen und "versenken" wollte. Nach der erfrischenden
Fahrt ließen wir uns einfach in den Sand fallen und genossen bei einer Flasche
leckerem Rosé, während die Kinder am Strand fangen spielten. Irgendwann kam Ada
pitschenass vom Meer her zu uns gelaufen,
ihre dicke Strickjacke hing wie ein nasser Sack an ihr. Aber da ich meine
kleine, wilde, süße Tochter gut kenne, hatte ich vorsorglich einen ganzen
Kleidersack mit Wechselsachen mitgenommen. Vianne wirkte insgesamt glücklich
und zufrieden. Sie kann zwar beim Klettern, Fangen und Rennen nicht mehr mitmachen
(was sie hin und wieder traurig werden lässt), aber sie kann noch teilhaben.
Die übrigen Kinder finden meistens eine Lösung, dass sie auf ihre Art
mitspielen kann. Und das ist auch ganz viel wert!
Ihre Motorik hat sich
verschlechtert, ihr rechtes Bein wirkt zunehmend kraftloser, sie läuft sehr
wackelig und vermeidet fremde Treppen, zumindest beim Runtersteigen. Im Haus
unserer Freunde hat sie uns immer gerufen, wenn sie nach unten wollte. Allein
traute sie sich nicht mehr. Dann trugen wir sie einfach hinunter. Hier zuhause
geht es noch allein.
Nach
dem Strandbesuch machten wir uns am späten Nachmittag auf den Weg zum Hof. Die
letzten paar Meter ging ich von einem nahe gelegenen Ausflugsgut, wo wir noch
Kuchen besorgt hatten, allein zu Fuß. Diesen Moment brauchte ich für mich, um
mit meinen Gefühlen ins Reine zu kommen. Um noch einmal die schmerzhafte
Vergangenheit Revue passieren zu lassen. Wohltuende, reinigende Tränen liefen mir die Wange herunter.
Vor knapp vier Jahren war ich während eines Besuchs diesen Weg mit zwei
vermeintlich gesunden Zwillingsmädchen
entlang geschlendert. Es gibt noch Fotos davon. Wie glücklich wir waren. Wie
heißt es in einem Zitat von Boethius: "Welche Wendung zum Schlechten das
Schicksal auch nehmen mag, so ist der Unglücklichste unter den Unglücklichen
jener, der einst glücklich war" (Über den Trost der Philosophie). Beim letzten
Mal sind wir diesen Weg mit dem Fahrrad entlang geradelt - im Sommer 2012 - Ada und
Vianne saßen im Anhänger. Nach einer ausgiebigen Fahrradtour hatten wir uns bei
einer warmen Suppe auf dem nahe gelegenen Gut gestärkt. Vianne lief über den
Schotterplatz. Sie lief so schlecht und seltsam, taumelte und stürzte,
dass es uns eiskalt den Rücken hinunter lief. In diesem Moment überfiel uns die
Gewissheit (nur wenige Tage vor dem MRT-Termin in Kiel), dass etwas Schlimmes
im Gange war. Auch wenn wir es noch nicht richtig greifen konnten. Natürlich
erinnere ich mich daran, wie sorgenbehaftet wir während unseres Aufenthaltes
auf dem Hof unserer Freunde nach Viannes Symptomen im Internet gesucht hatten, wie
auffällig zittrig und unkoordiniert sie in eben dieser Küche versucht hatte,
den Löffel mit der rechten Hand zum Mund zu führen. All diese Gedanken
durchfluteten meinen Kopf, während ich den Weg entlanglief. Doch je näher ich dem
Gehöft kam, desto mehr legte sich eine innere Ruhe auf mich. Bilder und Szenen,
wie wir lustige Wasserschlachten während dieses Urlaubs 2012 rund ums Haus
veranstaltet hatten, wie Ada nicht nur sich, sondern das halbe Badezimmer mit
Sonnencreme eingeschmiert hatte, Vianne sich im Pool räkelte, wie wir die
Schafe anblökten und uns prächtig mit ihnen unterhielten, wie wir noch am
MRT-Tag mit den Jungs Federball gespielt hatten, während die Mädels auf
Trampeltreckern um uns herum düsten... Ich liebe diesen Hof - das wurde mir in
diesem Moment so dermaßen klar. Dieser Hof symbolisiert für mich all das, was
vor Viannes Erkrankung liegt, vor dem schrecklichen MRT-Ergebnis.
Denn
danach bin ich bisher nie wieder dort gewesen. Dieser Hof beschert mir die letzten
unbeschwerten Stunden VOR DIESEM SCHEIß TUMOR. Der Hof beschert mir innere Ruhe
- ganz eng verbunden mit meiner Liebe zu Vianne und der engen Verbundenheit zu
unseren Freunden. Mit einem Lächeln im Gesicht kam ich schließlich an. Ich bin
so glücklich, diese Reise mit Vianne und allen anderen gemacht zu haben. Wie
sagt es meine liebe Uli so treffend: "Vianne hinterlässt Wellen... Vianne verändert..."
Heute
Abend hier zu Hause ist Ada endlich mit der Sprache rausgerückt. Sie ist
ziemlich mürrisch und schlecht gelaunt in letzter Zeit - so Ada untypisch. Etwas
schnodderig kommt sie gerne manchmal rüber, aber das hier ist etwas anderes.
Nachdem wir uns beim Zubettgeh-Programm im Badezimmer gestritten hatten, brach
sie in Tränen aus: "Ich vermisse Vianne". Sie leidet. Ich hatte es
mir schon gedacht, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Sie fragte mich, warum
"das mit dem Sterben sein muss", sie sagte mir, dass sie "ihre
Vianne" wiederhaben will, dass alles so wie früher werden soll. Ada, Micha
und ich vergossen gemeinsam ein paar Tränen, während Vianne erschöpft in ihrem
Bett schläft...