Gesamtzahl der Seitenaufrufe

21. Februar 2017

Echtzeit! Scheinnormalität



Sonntag, 14. Juni 2015


Wir machen so normale Dinge wie Tennisspielen, Blumen pflanzen, Eis essen, Urlaubsanfragen stellen, Hausaufgaben, Seepferdchen-Abzeichen, Freunde zum Spielen besuchen, Mails bearbeiten, Drachen steigen lassen, in den Pool hüpfen, auf Geburtstage gehen - und trotzdem ist nichts normal bei uns. Diese trügerische Scheinnormalität zerrt an unser aller Nerven. Während Vianne wahnsinnige Stimmungsschwankungen hat, legt Jesse eine schon alarmierende Souveränität, eine für sein Alter so untypische Selbstberrschung an den Tag, Luke hingegen ist extrem nähesuchend, Ada arg aufmerksamkeitsheischend. Micha und ich probieren irgendwie, alle einigermaßen auf Kurs zu halten. Wir funktionieren. Mal besser, mal schlechter.

Am Freitag war das Palliativteam wieder da. Ein sehr netter Arzt setzte sich gleich zu Vianne auf den Terrassenboden, erkundigte sich bei ihr (danach bei mir) nach ihrem Befinden. Vianne sagte durchweg, es gehe ihr gut, ja, sie würde immer gut essen (ach ja?), ihr würde nichts wehtun (hm?), übel sei ihr nicht (den Tag zuvor hatte sie noch gewürgt). Sie hat eine Momentaufnahme von sich gegeben, sie lebt in ihrer wunderbaren Kinderwelt, frei nach dem Motto: was interessiert, was gestern war, was interessiert, was morgen sein wird... Welch eine grandiose Fähigkeit - wir können so viel von ihr lernen. Schon nach kürzester Zeit gab sie dem Team ziemlich eindeutig zu verstehen, dass sie sich nun davonmachen sollen - "Madame" wollte in ihren Pool hüpfen... Ich konnte kaum an mich halten vor Lachen. Was für ein kleiner Charmebolzen - ganz die Mama. Als der Arzt freundlich bat, sie kurz noch untersuchen zu dürfen und hinzufügte, es würde auch gar nicht wehtun, schaute sie im Davongehen gespielt theatralisch über ihre Schulter und meinte entnervt: "Klar, weiß ich doch, dass es nicht weh tut - hach..." Es war eine wirklich entspannte Stimmung - beinahe richtig unbeschwert und heiter. Wenn Vianne nicht gerade genervt war, kicherte sie sogar mit dem Palliativteam und spielte eine Runde "Dragi Drache" mit einem Mitarbeiter, bevor sie wiederholte, dass es nun an der Zeit sei, dass sie wieder verschwinden.





Diese Woche war Vianne nur einen Vormittag im Kindergarten. Montag waren wir noch im Urlaub, Dienstag und Donnerstag musste sie sich schon morgens übergeben und am Freitag wollte sie partout nicht im Kindergarten bleiben. Auf meine Nachfrage hin meinte sie nur, sie wolle nicht darüber sprechen. Ich glaube den Grund zu kennen: sie merkt immer deutlicher, dass sie mit ihren kleinen Freundinnen nicht mehr mithalten kann - und andererseits kann man von bewegungsfreudigen Fünf- und Sechsjährigen nicht andauernd Rücksicht erwarten, obwohl alle meistens sehr lieb zu Vianne sind. Aber als Spielpartner ist sie nicht mehr so attraktiv, sie kommt nicht mehr hinterher - und zieht sich zurück. Unvorstellbar, dass sie vor einem halben Jahr noch Ski- und Radfahren und Ausschneiden konnte. Sie spürt ihre Grenzen immer deutlicher, meidet Reckstangen, Treppen und Trampoline. Während sie früher auf jedes Pferd springen wollte, müssen wir sie heute beinahe zum Reiten überreden. Es tut weh, sie allein im Raum stehen zu sehen, während alle ihre Freundinnen (inklusive Ada) freudig davonpreschen.

Am Freitag hat Ada ihr Seepferdchen-Abzeichen gemacht und erzählte es natürlich jedem - leider immer mit dem Zusatz, dass Vianne noch kein Abzeichen hat. Ada war so mächtig stolz - zurecht - und trotzdem war auch hier die Freude wieder getrübt, weil bei Vianne Tränen flossen. Luke und ich haben heute in seiner Schublade an einer viel zu kleinen Badehose sein altes Abzeichen gefunden und gemeinsam beschlossen, dass Vianne es kriegen soll. Luke will das "Seepferdchen" mit ihr machen - unter besonderen Prüfbedingungen. Er ist wirklich ein Schatz!


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen