Sonntag,
14. Juni 2015
Wir
machen so normale Dinge wie Tennisspielen, Blumen pflanzen, Eis essen,
Urlaubsanfragen stellen, Hausaufgaben, Seepferdchen-Abzeichen, Freunde zum
Spielen besuchen, Mails bearbeiten, Drachen steigen lassen, in den Pool hüpfen,
auf Geburtstage gehen - und trotzdem ist nichts normal bei uns. Diese
trügerische Scheinnormalität zerrt an unser aller Nerven. Während Vianne
wahnsinnige Stimmungsschwankungen hat, legt Jesse eine schon alarmierende
Souveränität, eine für sein Alter so untypische Selbstberrschung an den Tag,
Luke hingegen ist extrem nähesuchend, Ada arg aufmerksamkeitsheischend. Micha
und ich probieren irgendwie, alle einigermaßen auf Kurs zu halten. Wir
funktionieren. Mal besser, mal schlechter.
Am
Freitag war das Palliativteam wieder da. Ein sehr netter Arzt setzte sich
gleich zu Vianne auf den Terrassenboden, erkundigte sich bei ihr (danach bei
mir) nach ihrem Befinden. Vianne sagte durchweg, es gehe ihr gut, ja, sie würde
immer gut essen (ach ja?), ihr würde nichts wehtun (hm?), übel sei ihr nicht
(den Tag
zuvor hatte sie noch gewürgt). Sie hat eine Momentaufnahme von sich gegeben,
sie lebt in ihrer wunderbaren Kinderwelt, frei nach dem Motto: was
interessiert, was gestern war, was interessiert, was morgen sein wird... Welch
eine grandiose Fähigkeit - wir können so viel von ihr lernen. Schon nach
kürzester Zeit gab sie dem Team ziemlich eindeutig zu verstehen, dass sie sich
nun davonmachen sollen - "Madame" wollte in ihren Pool hüpfen... Ich
konnte kaum an mich halten vor Lachen. Was für ein kleiner Charmebolzen - ganz
die Mama. Als der Arzt freundlich bat, sie kurz noch untersuchen zu dürfen und
hinzufügte, es würde auch gar nicht wehtun, schaute sie im Davongehen gespielt
theatralisch über ihre Schulter und meinte entnervt: "Klar, weiß ich doch,
dass es nicht weh tut - hach..." Es war eine wirklich entspannte Stimmung
- beinahe richtig unbeschwert und heiter. Wenn Vianne nicht gerade genervt war,
kicherte sie sogar mit dem Palliativteam und spielte eine Runde "Dragi
Drache" mit einem Mitarbeiter, bevor sie wiederholte, dass es nun an der
Zeit sei, dass sie wieder verschwinden.
Diese
Woche war Vianne nur einen Vormittag im Kindergarten. Montag waren wir noch im
Urlaub, Dienstag und Donnerstag musste sie sich schon morgens übergeben und am
Freitag wollte sie partout nicht im Kindergarten bleiben. Auf meine Nachfrage
hin meinte sie nur, sie wolle nicht darüber sprechen. Ich glaube den
Grund zu kennen: sie merkt immer deutlicher, dass sie mit ihren kleinen
Freundinnen nicht mehr mithalten kann - und andererseits kann man von
bewegungsfreudigen Fünf- und Sechsjährigen nicht andauernd Rücksicht erwarten,
obwohl alle meistens sehr lieb zu Vianne sind. Aber als Spielpartner ist sie nicht
mehr so attraktiv, sie kommt nicht mehr hinterher - und zieht sich zurück.
Unvorstellbar, dass sie vor einem halben Jahr noch Ski- und Radfahren und
Ausschneiden konnte. Sie spürt ihre Grenzen immer deutlicher, meidet
Reckstangen, Treppen und Trampoline. Während sie früher auf jedes Pferd
springen wollte, müssen wir sie heute beinahe zum Reiten überreden. Es tut weh,
sie allein im Raum stehen zu sehen, während alle ihre Freundinnen (inklusive
Ada) freudig davonpreschen.
Am
Freitag hat Ada ihr Seepferdchen-Abzeichen gemacht und erzählte es natürlich
jedem - leider immer mit dem Zusatz, dass Vianne noch kein Abzeichen hat. Ada
war so mächtig stolz - zurecht - und trotzdem war auch hier die Freude wieder
getrübt, weil bei Vianne Tränen flossen. Luke und ich haben heute in seiner
Schublade an einer viel zu kleinen Badehose sein altes Abzeichen gefunden und
gemeinsam beschlossen, dass Vianne es kriegen soll. Luke will das
"Seepferdchen" mit ihr machen - unter besonderen Prüfbedingungen. Er
ist wirklich ein Schatz!
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