Dienstag, 19.
Mai 2015
Ja,
die Nacht von Sonntag auf Montag war ruhig. Vianne schlief bei uns im Bett. Ada
wollte natürlich auch zu uns, aber dann hätten wir alle keinen Schlaf bekommen.
Sie weinte. Also verabredeten wir, dass Vianne bei Papa und ich bei ihr
schlafen würde. Das war für Ada annehmbar. Diese Nacht war eine letzte
Ruhepause vor dem Sturm. Seit Montagmorgen geht es Vianne jeden Tag ein kleines
bisschen schlechter. Montagmorgen hat sie sich mehrmals übergeben müssen.
"Es ist so widerlich", bringt sie zwischen Tränen hervor. Ich gebe
ihr das
Mittel gegen Übelkeit und spreche mich kurz mit Dr. B. ab. "Hey Süße, Dr.
B. hat gerade angerufen, ich soll dir liebe Grüße von ihm ausrichten",
sage ich zu Vianne. Vianne schaut mich ruhig an und sagt völlig nüchtern:
"Mama, mein Pipi hat gerade angerufen, ich soll dir von ihm ausrichten,
dass es zur Toilette muss." Ich
breche in schallendes Gelächter aus, blende für einen kurzen Moment alle Sorgen
aus. Sie kichert mit mir. Sie ist unglaublich. Wie sehr ich ihren trockenen
Humor liebe.
Kurz darauf schläft sie völlig fertig für einige Stunden auf dem
Sofa ein. Ich traue mich kaum von ihrer Seite. Am Nachmittag geht es ihr
endlich etwas besser. Sie isst eine Kleinigkeit. Ich wage zu hoffen, dass das Erbrechen
vorerst vorüber ist. In der Nacht zu Dienstag bekommt Vianne schlimme
Kopfschmerzen. Wir holen sie wieder zu uns ins Schlafzimmer. Trotz der
Schmerzen weigert sie sich, die Tropfen zu nehmen. Sie schreit, sie weint, sie
verschluckt sich. Ich verliere die Nerven, nach mehrmaligen Bitten wird mein
Ton schärfer.
Sie muss doch die Tropfen nehmen, damit wir den Schmerz unter Kontrolle
kriegen! Ich werde immer lauter, bin irgendwann völlig außer mir. Vianne
ebenso. Nach so viel Druck gibt sie schließlich nach, nimmt die Tropfen - und
fällt kurz darauf in einen tiefen Schlaf. Ich habe die Kontrolle verloren.
Meine heißen
Tränen fallen auf ihr blasses Gesicht. Ich fühle mich so hilflos, so schlecht. Ihre kleine Hand schmiegt sich ganz
fest in meine. Ich kann nicht aufhören, diese kleine Hand mit meinen Küssen zu
bedecken. Ich kann die Tränen nicht stoppen.
Nachdem
ich Ada in den Kindergarten gebracht habe, fahre ich heute Morgen ganz früh zu
einem wichtigen Termin. Micha bleibt solange bei Vianne, bis ich wiederkomme.
Erst dann macht er sich auf den Weg ins Büro. Auf den ersten Blick scheint es
Vianne ganz gut zu gehen. Sie "spielt" auf der Gitarre und singt
dabei total schräg.
Sie will sogar "Dragi Drache" mit mir spielen.
Aber ihre Augen schauen
zu oft zu leer und sie hat noch inmmer keinen Appetit. Kurz darauf übergibt sie
sich (Hilfe!) und klagt über Kopfschmerzen. Ich gebe ihr wieder die
Schmerztropfen. Eine halbe Stunde später spuckt sie sie wieder aus. Sie schläft
ein, liegt neben mir auf dem Sofa.
Zum Glück kommen meine Eltern vorbei,
versorgen die übrigen Kinder mit warmen Essen. Vianne will kein Mittagessen,
eigentlich will sie gar nichts, sie schlürft lediglich einen kleinen Smoothie.
Der Alltag der Jungs läuft währenddessen weiter: Jesse hat heute eine
Deutsch-Klausur geschrieben, Luke musste heute nach dem Tennistraining sein Tennis-Stadtmeisterschaften -Spiel austragen. Ich hole ihn nachmittags vom
Training abund
bringe ihn nach Schwerte auf den nächsten Tennisplatz, während meine Eltern auf
Vianne Acht geben. Ada ist derzeit bei ihrer kleinen Freundin zu Besuch. Ich
unterhalte mich mit Lukes Trainerin und mit anderen Eltern, treffe unterwegs
noch kurz auf eine Freundin. Alles läuft so normal weiter, ich laufe unbemerkt
in meiner Parallelwelt nebenher. Auf dem Rückweg erreicht mich der Anruf meines
Vaters: Vianne habe schrecklich erbrochen - zum Glück nur wenige Meter von
unserem Haus entfernt. Meine Eltern hatten sie im Buggy eine kleine Runde
spazieren gefahren. Dabei war sie eingeschlafen - schon auffällig. Als ich nach
Hause komme, liegt Vianne schlaff und kraftlos bei Jesse im Arm. Immer wieder
dämmert sie weg, erwähnt zwischendurch Kopfschmerzen. Ich bekomme Angst und
rufe erst Dr. B. und anschließend die Kinderkrankenschwester vom Pflegedienst an,
die später vorbeikommt. Erneut gebe ich Vianne das Mittel gegen Übelkeit,
später die Schmerztropfen. Sie erholt sich ein wenig. Jetzt schläft sie.
Wir
schaffen es nicht an die Ostsee. Ich glaube, der Ausflug in die Eifel war unser
letzter. Erivedge scheint nicht zu wirken. Es fällt mir schwer, die Ruhe zu
bewahren, wenn Vianne ständig würgen muss, wenn sie völlig entkräftet
einschläft und die Augen unter den halb geschlossenen Lidern nach hinten
weggleiten. Und das ist erst der Anfang... Vianne ist verängstigt. Ich auch.
Auch Ada ist verändert. Sie ist zu lieb zu Vianne, überlässt ihr bereitwillig
ihre Süßigkeitenration, macht ihr freiwillig Zahnpasta auf die Zahnbürste,
lässt sie die
Farbe der Spielfigur aussuchen. Ich habe Kinderbücher zum Thema „Sterben"
bestellt, die heute eingetroffen sind. Es ist so pervers. Das erste Buch
"Yolante sucht Crisula" habe ich Ada und Vianne heute vorgelesen: sie
fanden es beide "doof". "Warum?", wollte ich wissen.
"Es ist nicht spannend", so Adas Kommentar. Vianne sagte nichts.
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