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25. September 2016

Sylt–Reha



Rückblick: 16. Oktober - 13. November 2013


Noch während Viannes akuter Behandlungsphase hatten wir einen Antrag auf eine familienorientierte Rehabilitation gestellt. Deutschlandweit gibt es vier oder fünf Kliniken, die sich auf Familien mit krebskranken Kind spezialisiert haben: zwei davon liegen im Schwarzwald (wo wir gerade knapp sieben Wochen verbracht hatten), eine in Bad Oeynhausen, eine in der Nähe von Berlin - und eine auf Sylt. Wir favorisierten ganz klar Sylt, denn wir lieben Auszeiten am Meer - zu jeder Jahreszeit. Bereits als Micha und ich uns kennenlernten, sind wir mitten in der Nacht im Winter ganz spontan nach Holland an die See gefahren, um den Sonnenaufgang am Meer zu erleben (okay, es war sehr, sehr kalt, sehr verrückt, aber auch wunderschön). Allerdings wussten wir von anderen Eltern, dass es sehr schwer sei, in der Sylter Klinik einen Platz zu bekommen. Auch warteten wir noch auf die Zusage unserer Krankenkasse. Aber wir hatten Glück und durften Mitte Oktober anreisen. Ein MRT stand allerdings noch kurz vor der Abreise an: ich zitterte wieder sehr vor dem Ergebnis. Was wäre es für eine schreckliche Ironie, kurz nach Ende der umfassenden und kräftezehrenden Therapie ein Rezidiv auf den Aufnahmen zu sehen. Aber es war alles gut. Voller Freude packten wir unzählige Koffer und machten uns auf den Weg in den hohen Norden, unser Bulli war bis unters Dach voll mit Lenkdrachen, Gummistiefeln, Badesachen, warmen Mützen, Kinderspielzeug, Unterlagen, Notfall-Medikamenten, Büchern... Die Klinik gefiel uns auf Anhieb, wir hatten eine großzügige Wohnung zugewiesen bekommen, die Lage, in Wenningstedt, war super. Wir fühlten uns hier gut aufgehoben, obwohl wir im Vorfeld unsere Zweifel hatten, wie es ist, mehrere Wochen mit anderen krebskranken Kindern und deren Familien zu verbringen. Insbesondere Jesse hatte Sorge, nur von Krankheit und Leid umgeben zu sein. Doch so war es nicht. Bei vielen Familien konnte man gar nicht erkennen, wer nun eigentlich an Krebs erkrankt war. Die Stimmung war oftmals heiter und ausgelassen. Natürlich gab es auch traurige, nachdenkliche, ergreifende Momente. Im Laufe der gemeinsam verbrachten Zeit hatte sich ein netter Kreis aus mehreren Familien gebildet, mit denen wir gerne zusammen saßen, Tischtennis spielten, Ausflüge unternahmen. Es tat gut, sympathische Menschen mit ähnlichem Schicksal kennenzulernen und sich auszutauschen, ohne große Erklärungen machen zu müssen. Die Angebote der Psychologen, Erzieher, Therapeuten, Trainer, Sozialpädagogen waren wirklich exakt auf die Bedürfnisse von Familien in unserer Situation zugeschnitten. Anders als in herkömmlichen Reha-/Kureinrichtungen setzten die Fachleute hier einen klaren Schwerpunkt auf das Ziel, zur Ruhe zu kommen, Zeit für sich zu haben, sich selbst wahrzunehmen, Zeit mit dem Partner, mit den Geschwisterkindern, mit der Familie zu verbringen, die Seele baumeln zu lassen. Es gab ein, zwei Pflichttermine, ansonsten konnte man frei wählen, an welchen Aktivitäten man teilnehmen wollte. Ich hatte mich für einen Nordic Walking Kurs und Autogenes Training entschieden. Zudem nahmen Micha und ich 1-2mal die Wochen an einem offenen Fitness-Programm teil. Wir dachten, ein bisschen dehnen, strecken, bewegen würde uns erwarten. Pustekuchen! Das Ganze startete mit einem 40-minütigen Jogginglauf. Geschafft, aber glücklich, wollten wir uns gerade verabschieden, da baute die Trainerin (sie kam gerade frisch von der Sporthochschule in Köln) in der Turnhalle ein Zirkeltraining mit anschließenden Dehnungseinheiten auf. Nach den ersten beiden Stunden war die Hälfte der Teilnehmer verschwunden... Micha und ich fanden es super, obwohl wir Schmerzen an Körperstellen hatten, die wir zuvor noch nie wahrgenommen hatten.

Die Kinder waren den Vormittag und an zwei Nachmittagen die Woche in ihren jeweiligen altersgerechten Gruppen. Alle hatten es gut getroffen und waren zufrieden, sogar Jesse. Dadurch hatten Micha und ich wirklich seit langem das erste Mal wieder viel Zeit füreinander. Wir genossen die ausgedehnten Spaziergänge am Strand, den Besuch uriger Cafés und Teestuben, Saunabesuche, die Gespräche untereinander und mit anderen netten Menschen.

Vianne durfte neben der Krankengymnastik am therapeutischen Reiten teilnehmen. Das hatte sie sich so sehr gewünscht. Sie teilte sich die Stunde "schwesterlich" mit Ada - die wäre ansonsten nämlich ausgerastet. Luke hatte sich für die Wasserspiele im Hallenbad entschieden. Die Jugendlichen organisierten Ausflüge zur Bowling-Bahn, nahmen mit einem professionellen Team eine eigene CD auf oder spielten ausgiebig Kicker. Mit der ganzen Familie erkundeten wir die Insel, fuhren von Nord nach Süd und mit dem Boot raus, besuchten "Willi", dir Kegelrobbe, ließen unsere Drachen steigen, wanderten durchs Watt und waren gefühlte 10.000 Mal in unserem Hallenbad. Es war so unglaublich ergreifend zu sehen, wie fröhlich Vianne (und ihre Geschwister) durchs Wasser tobten. Und noch ein Bonbon erwartete uns auf der Insel: K. und Lilli und ihre Brüder machten zeitgleich Urlaub auf Sylt. Bei strahlendem Sonnenschein trafen wir uns mehrmals auf den Spielplätzen am Strand und in Westerland, aßen Crepes und alberten herum. Unsere Kinder waren immer die Lautesten, aber das stand ihnen auch zu. Vianne konnte es gar nicht glauben, "ihre" Lilli "im Urlaub" wiederzusehen. Das wunderbare Licht auf Sylt legte sich wie ein beruhigender Schleier auf meine Seele. Und wenn es mal nicht so gut ging, joggte ich den langen Sandstrand hinunter. Einmal während des Joggens, als ich sehr aufgewühlt war, ging plötzlich ein Platzregen auf mich hernieder. Ich war durchweicht bis aufs Unterhemd und meine Laufhose wog durch die aufgesaugte Feuchtigkeit ungefähr das Dreifache ihres Normalgewichts. Ich lief weiter, sog das Brausen des Meeres in mich auf, genoss den peitschenden Regen und lachte und fühlte mich lebendig. Glücklich, durchgefroren und müde kam ich schließlich wieder in der Reha-Klinik an. Meine Laufschuhe brauchten drei Tage zum Trocknen.

Auf Sylt durften wir aus nächster Nähe Sturmtief "Christian" miterleben. Entgegen jeder Empfehlung gingen Micha, Jesse und ich durch die Dünen zum Meer, um uns das "Schauspiel" aus unmittelbarer Nähe anzusehen und es am eigenen Leib zu erfahren. Diese Naturgewalten hatten wir nicht erwartet, die Orkanböen trieben uns über den Strand, der Sand schoss wie aus einem Sandstrahlgerät auf unsere Haut, in einer Windschneise oberhalb der Dünen konnte ich mich nur noch in eine Sandmulde inmitten von Dünengras werfen. Aufrecht hätte es mich weggepustet. Ich verspürte keine Angst. So etwas machte mir keine Angst mehr. Wir waren aber keinesfalls leichtsinnig, sondern standen dieser Urgewalt respektvoll gegenüber. In den Dünen gibt es keine Dachziegel, die einem um die Ohren fliegen können. Auch wurde keine Sturmflut erwartet. Und Ada, Vianne und Luke hatten wir in ihren Kindergruppen in der sicheren Obhut der Erzieher gelassen. Sylt tat uns allen in jeder Hinsicht gut. Wir haben sehr nette und vielschichtige Menschen kennengelernt, die ein oder andere Denkweise geändert und konnten einiges davon in unseren Alltag retten. Unser

"Wohlfühltank" war beinahe wieder gut gefüllt.

Zuhause gingen wir in Dortmund in die Nachsorge über: Alle sechs Wochen standen nun neurologische und Blutbild-Untersuchungen an, alle zwölf Wochen ein MRT für die nächsten zwei Jahre. Wie glücklich wir damals auf Sylt waren - was für vermeintliche Chancen, was für Hoffnungen wir noch hatten. Wenn ich könnte, würde ich die Zeit einfach zurückdrehen, um noch einmal diese Augenblicke des Aufschwungs, des Neubeginns erleben, genießen, fühlen, darin baden zu dürfen. Wenn ich die Fotos betrachte, steigert sich diese Sehnsucht zu einem tiefen Schmerz. Viannes Erkrankung hat bei uns allen Narben hinterlassen, und an einigen Tagen schmerzen diese Narben. Sie sind extrem wetterfühlig...













  

2. September 2016

Gute Nachrichten



Echtzeit!  22. Oktober 2014

Vianne ist bester Stimmung, sie macht extra lustige Gesichter, um mich zum Lachen zu bringen, die kleine Grinsebacke. Es klappt. Sobald sie "dieses Grinsen" aufsetzt, müssen wir alle losprusten. Das Lachen tut gut. Gestern war ein toller Tag, der zwar ziemlich aufwühlend anlief, dann aber immer besser wurde. Morgens fragte mich Adas und Viannes Erzieherin, ob ich einen Moment Zeit hätte. Sie ging gemeinsam mit mir und unserer Elternratsvertreterin in den Nebenraum, wo sie mir - im Namen aller Kindergarteneltern – zwei liebevoll verpackte Geschenke überreichte, für Vianne, für uns alle. Sie wollten uns eine Freude machen, einen schönen Tag bescheren. Jeder spendete etwas. Sie entschieden sich für einen Ausflug in die Skihalle nach Bottrop, da sie den Tipp bekommen hatten, dass wir alle so leidenschaftlich Ski- und Snowboard fahren.
Im letzten Winter standen Ada und Vianne mit Begeisterung das erste Mal auf den "Brettern", in den Zillertaler Bergen. Allerdings überschritt der Ausflug in die Skihalle bei Weitem das Budget. So schilderte unsere Elternratsvertreterin den Betreibern kurzerhand unsere Situation, um evtl. einen Preisnachlass zu bekommen. Diese antworteten prompt, dass sie unsere Familie gerne komplett zu einem Tag in der Skihalle einladen möchten, plus Ausrüstung und Verpflegung. Wahnsinn! Mit dem nun übrig gebliebenen Geld organisierten die Kindergarteneltern einen Gutschein für einen Spaziergang mit Alpakas, der in der Region angeboten wird. Was für eine grandiose Idee! Als Vianne, Luke und Ada den beigefügten Prospekt sahen, bekamen sie vor Vorfreude große Augen. Jesse war einfach nur sprachlos von so viel Hilfsbereitschaft (er favorisierte den Ausflug mit seinem wirklich coolen Snowboard). Als ich die Geschenke überreicht bekam, flossen bei mir die Tränen. Ich konnte nicht anders. Einerseits war ich so gerührt von dieser Welle der Hilfsbereitschaft, andererseits mag ich es nicht, wenn unsere Familie dermaßen im Fokus steht. Wir sehnen uns so oft nach simpler Normalität. Aber wir nehmen die Geschenke gerne an und freuen uns auf zwei sicherlich wunderbare Familienausflüge. Ich war schon immer sehr angetan von unserem Kindergarten, von der Kindergartenleitung, den Erzieherinnen und der Elternschaft. Aber diese wunderbare Geste, etwas Gutes tun zu wollen, der Wunsch, zu helfen (wie auch schon so oft in der  Vergangenheit geschehen) berührt mich aufs Tiefste. Danke!!! Mittags rief dann auch noch Dr. B. an - und gab Entwarnung. Der Tumorverdacht in der primären Region hat sich nicht bestätigt. Die Expertin aus Würzburg befundet: „nach wie vor Komplett-Remission in der Primärregion“. Er rief gerade an, als ich Ada und Vianne aus dem Kindergarten abholte. Ich knutschte die Mäuse ausgiebig. Nach langer Durststrecke endlich mal wieder eine gute Nachricht. Und nicht nur eine: Viannes Blutwerte sind völlig in Ordnung. Sie hat ausreichend Abwehrkräfte, einen guten Sauerstofftransport und viele Blutplättchen für die Gerinnung. Leider hat jede Medaille zwei Seiten: Die Krankenkasse hat die Kostenübernahme für den Einzelheilversuch mit Vorinostat abgelehnt. Echt klasse, wenn irgendwelche Ärzte vom Medizinischen Dienst sich über die Empfehlung der Experten vom DKFZ hinwegsetzen. Arghhh! Da hat man durch jahrelange Forschung einen neuen und vielversprechenden Therapieansatz gefunden (klar gibt es auch hier kein Heilungsversprechen) und dann heißt es, Vianne sei schließlich noch nicht austherapiert, was soviel bedeutet, dass noch herkömmliche Therapien zur Verfügung stehen, um die Krankheit eventuell aufzuhalten. Aber hier ist noch nicht das letzte Wort gesprochen. Unsere Ärzte wollen Widerspruch einlegen. Zur Not bezahlen wir das Medikament halt selbst, auch wenn ich vermute, dass es wahnsinnig teuer sein wird. Aber auch in diesem Fall gibt es Möglichkeiten und Wege.


Tschüss, Broviak!



Rückblick:  September 2013


Ein Jahr intensive Therapie lag nun hinter uns seit der ersten Diagnosestellung in Kiel. Wir waren durch! Was für ein Wahnsinn! Ich konnte es gar nicht fassen. Vianne wollte ganz schnell den Broviak loswerden. Die Dortmunder kamen ihrem Wunsch entgegen und legten rasch den kommenden Mittwoch, 4. September 2013, fest. Nur noch diese kleine Operation lag vor uns, dann hatte uns der Alltag wieder: ohne Krankenhausaufenthalte, ohne heftige Medikamente, ohne ständige Narkosen, ohne Broviak-Katheter und mit hoffentlich weniger Sorgen. Wir waren alle so zuversichtlich.

Am OP-Tag wurden wir noch einmal auf eine harte Probe gestellt, weil der Eingriff kurzzeitig auf der Kippe stand. Ein Notfall war dazwischen gekommen. Vianne kam dann aber doch noch am späten Nachmittag dran. Sie freute sich so sehr darüber, den Schlauch loszuwerden, dass sie ohne Murren die lange Wartezeit ertrug. Ich war weitaus weniger geduldig und erkundigte mich halbstündlich bei den Schwestern, wann es denn soweit sei. Klar, in unserem Fall gab es keine Dringlichkeit, aber ich war angespannt. Das lange Warten zermürbte mich. Vianne hatte seit Stunden nichts mehr essen und trinken dürfen. Irgendwann fragte ich genervt nach, ob denn lediglich ein OP-Saal oder nur ein Anästhesist zur Verfügung stehen würde. "Ja", lautete die Antwort hinsichtlich des Anästhesisten. Ein weiterer wäre auf der Intensivstation, und der könne da nicht weg. War einleuchtend. Ich fragte, was denn wäre, wenn ein 2. Notfall eintreffen würde. "Der müsse solange warten...", lautete die lapidare Antwort. Na, super!

Vianne strahlte über das ganze Gesicht, trotz bevorstehender Narkose. Aber sie freute sich so darauf, endlich unbeschwert baden und schwimmen gehen zu  dürfen und wieder ausgiebig auf dem Bauch zu rutschen, mit Ada kleine Kämpfchen auszutragen, ohne Sorge haben zu müssen, dass sich einer im Schlauch verheddert. Der Broviak-Katheter hatte uns treue Dienste erwiesen und Vianne etliche Piekse erspart, vor denen sie so viel Angst hat. Aber der Abschied von diesem "Wegbegleiter" fiel allen Beteiligten leicht. Die hübschen bunten Broviak-Beutelchen haben wir als Erinnerung natürlich aufbewahrt. Und auch Viannes Narben im Brustbereich werden uns immer schmerzlich an diesen Lebensabschnitt erinnern. Adé "Brovi"!

Willkommen in der Realität



Echtzeit!  20. Oktober 2014

Ich trinke Kamillentee. Er wärmt und kommt doch nicht gegen die Kälte an, die hoch kriecht. Wir sind wieder in unserer "Tumorwelt" angekommen. Ich selbst benutze nicht die Beschreibung "frecher Wicht", die ist nur für die beiden Mädels. Ich schreibe dem Tumor auch keine Charaktereigenschaften zu, es sind lediglich Zellen, die sich unkontrolliert vermehren. Es sind Viannes Zellen! Ich hege keinen persönlichen Groll gegen diese Zellen - aber ich hadere mit dem Schicksal. Gibt es so etwas wie Schicksal? Kann ich es verändern? Ich bin nicht der passive Typ. Ich werde alles Menschenmögliche tun, für Vianne, für mich, für unsere Familie. Ich lasse mir nicht einfach den Boden unter den Füßen wegziehen. Egal von wem oder was.
Heute wurde Viannes Blut untersucht. Ergebnisse haben wir noch nicht. Wir müssen schauen, inwieweit das Temodal ihre Blutwerte "in den Keller fallen" lässt. Wir brauchen die Ergebnisse, um nächste Woche mit dem 2. Chemotherapie-Zyklus beginnen zu dürfen. Vianne ist leicht erkältet, hustet, ist aber ansonsten gut drauf. Wir haben bei Dr. B. und Prof. S. nachgefragt, wie es weitergeht. Mit der Kunsttherapeutin proben wir Ende der Woche spielerisch die Maskenanfertigung im Wachzustand für die Bestrahlung - anhand einer Gipsmaske. Der Bestrahlungsplan von dem Experten aus Leipzig ist eingetroffen. Den Dortmunder Radiologen ist dieser Plan zu komplex, sprich: sie trauen sich nicht daran. Dr. B. ist der Meinung, wenn man "mit dem Rücken zur Wand steht" (so seine Worte), dürfe man sich keine großen Gedanken mehr über die Gefahr einer möglichen Schwerhörigkeit oder Produktionseinstellung der Hirnanhangdrüse machen. Ich lenke ein, dass es legitim sei zuzugeben, dass es die eigenen Fähigkeiten übersteigt. Aber es ist auch erschreckend, dass an sich erfahrene Radiologen eine Behandlung wegen der erheblichen möglichen Folgen nicht ausführen wollen. "Alle drei Monate ist ein neues Rezidiv aufgetreten...", wirft Dr. B. ein. Wir wissen das. Es ist trotzdem schwer, sich diese nackte Tatsache zu vergegenwärtigen. Unsere Dortmunder Onkologen haben nun Kontakt zu den Essener Radiologen aufgenommen. Derzeit beantragen sie auch die Kostenübernahme für den Einzelheilversuch mit einem Medikament, das zwar in den USA, nicht aber in Europa zugelassen ist. Die Heidelberger Experten vom Deutschen Krebsforschungszentrum, die Viannes Gewebe molekularbiologisch untersucht haben, befürworten diesen Einzelheilversuch. Unsere Krankenkasse hat eine umfangreiche Stellungnahme von unseren behandelnden Ärzten erbeten. Prof. S. hat den Vordruck ausgefüllt. Ich kenne seine Antworten. Ich kannte sie auch vorher. Aber es ist so schwer, sie schwarz auf weiß zu sehen, zu lesen, zu begreifen...
2.) Liegt bei Emma Vianne eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vor oder droht der Eintritt einer irreversiblen schwerwiegenden Behinderung?
Prof. S.: "Ja " (Er hat "regelmäßig tödlich" unterstrichen....)
2.6.) Besteht eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf durch die Verabreichung des Arzneimittels? Wenn ja, bitten wir um die Quellenangabe und ggf. Benennung entsprechender Veröffentlichungen.
Prof. S.: "Ja, Erfahrungen bei anapl. Hirntumoren des ??? (kann ich nicht lesen) und am DKFZ (Deutsches Krebsforschungszentrum) Heidelberg."
3.) Aussagen über Prognose und Krankheitsfolgen, die bei Nichtanwenden des Arzneimittels bei Emma Vianne zu erwarten sind:
Prof. S.: "es ist mit einem Folgerezidiv und dem Tod im nächsten Jahr zu rechnen!"

Das ist mein Versprechen an dich, meine süße Vianne, an dich, Micha, an euch, Ada, Luke und Jesse und ich wiederhole es noch einmal: "Ich werde alles Menschenmögliche tun, für Vianne, für mich, für unsere Familie. Ich lasse mir (und euch) nicht einfach den Boden unter den Füßen wegziehen. Egal von wem oder was!" Erst recht nicht von irgendwelchen Prognosen...



Mallorca - 2. Woche



Echtzeit!  Oktober 2014

Wir saugen die Wärme, den Pinienduft, das Meeresrauschen förmlich in uns auf. Wir wollen hier nicht mehr weg. In der Tat schleicht sich der Gedanke ein, einfach auf der Insel zu bleiben: keine Arzttermine, keine Blutabnahmen, keine Operationen, keine Medikamente, keine MRT mehr - nur noch wir sechs in unserer kleinen Welt. Wir wissen, dass das nicht geht, aber für einen Moment tun wir einfach so. Auch unsere zweite Unterkunft, eine abseits gelegene Finca unterhalb des Tramuntanagebirges, ist gut. Im rund 5000 Quadratmeter großen Garten wachsen Kaki, Zitronen, Limetten, Orangen, Feigen und Granatäpfel, Mandeln und Äpfel. Wir sind ganz nah an der Natur. Unser Lieblings-Familienspiel in und ums Haus: Verstecken. Die Kleinen haben einen großen Vorteil. Nach langer Suche finden wir sie in Schränken und Schubladen. Luke hat sich im Olivenbaum versteckt - zusammen mit den Hühnern. Wir schmeißen uns gegenseitig in den Pool und reiten auf unserem Krokodil. Wir grillen ein Kilo Scampis und essen Käse mit frischen Feigen aus dem Garten. Das Tramuntana-Gebirge ist gewaltig, wir erkunden wilde Schluchten und abgelegene Bergpfade.

Mitte der Woche kamen Andi und Ralf nach - noch bis weit nach Mitternacht saßen wir mit den beiden auf der großen Außenterrasse mit leckeren Begrüßungsgetränken - wir freuen uns alle immer sehr, die beiden um uns zu haben. Ada und Vianne fragten schon Tage zuvor andauernd, wann Andi und Ralf "denn endlich kommen", bis es schließlich hieß: Nur noch einmal schlafen...

Alle Kinder genossen weiterhin das Meer und die Wellen, den Sand und die Felsen. Ada und Vianne bekamen wir kaum aus dem Wasser - das war auch okay so, obwohl wir etwas wegen Viannes Narbe in Sorge waren. Aber sie wirkte reizlos und wir schützten sie immer gut vor der Sonne. Dazu eignete sich ein rosa Sonnenhütchen mit extra langem Nackenteil, das man zubinden konnte, damit der Wind es nicht wegwehte. Vianne trug das Hütchen mit Fassung, auch wenn sie meinte, sie sehe damit wie ein Baby aus. Sie wird halt groß, unsere Kleine. Während sich Vianne eher vorsichtig an die Wellen herantastete, gab es für Ada kein Halten: je wilder das Meer, desto besser. Als einmal eine große Welle über Ada schwappte und wir alle einen Moment erschrocken den Atem anhielten, tauchte die kleine "Krabbe" wieder auf, schüttelte sich nur kurz und meinte: "boaaahhh, cooooool!".

Die Kinder harmonisierten sehr. Vielleicht liegt es daran, dass uns Viannes Erkrankung näher zueinander gebracht hat. Am Abend vor unserer Abreise feierten wir in Jesses Geburtstag hinein. Er hatte sich ein stilvolles Restaurant - "Joan Marc" in Inca - ausgesucht. Es war grandios: traditionelle mallorquinische Küche mit experimentellem Einschlag - ein Genuss in jeder Hinsicht, von den Speisen über den Service bis hin zum Ambiente. Auch Kinder waren willkommen, und das ist in gehobenen Restaurants auch nicht immer gegeben.

Am nächsten Morgen ging um 8.20 Uhr unser Flieger. Ich war der Meinung, dass es reichen würde, wenn wir um 6 Uhr aufbrechen. Micha hingegen wollte viel früher los, aber ich kann beharrlich sein. Das führte dazu, dass wir um ein Haar unser Flugzeug verpasst hätten. Zuerst fuhren wir an der Mietwagenabgabe vorbei und mussten noch eine Ehrenrunde drehen, dann hatte sich beim Einchecken eine lange, lange Schlange gebildet. Schließlich kam ein Aufruf, dass für Passagiere des Fluges nach Hannover ein neuer Schalter geöffnet werde. Wir waren die einzigen, die davor standen, denn alle anderen Passagiere hatten schon längst eingecheckt. Um 7.35 Uhr begann das boarding, wir gaben gerade unsere Autokindersitze beim Sperrgepäck ab - oder wir versuchten es vielmehr. Leider mussten wir noch einmal zum Check-In zurück, da ich dort vergessen hatte, die Sitze anzugeben. Sperrgepäck-Aufgabe, die Zweite, klappte schließlich. Es war 7.50 Uhr. Auf zur Sicherheitskontrolle! Wieder eine lange Schlange vor uns. Es war kurz nach 8 Uhr. Wir mussten zum Flugsteig D. Was? 9 Minuten Wegzeit dorthin, signalisierte die Anzeigentafel. So groß hatte ich den Flughafen gar nicht in Erinnerung gehabt. Dann kam die Durchsage: "Last call für Mr. and Mrs. Stember.“ „Arghhhh!" Micha schnappte sich Vianne, Jesse Ada, und wir rannten los. Luke legte sich auf die Nase. Am Abflugbereich angekommen, starrten uns drei Mitarbeiter leicht strafend an: "Wir wollten gerade ihre Koffer wieder ausladen lassen...." Wir stiegen ein, und hinter uns ging die Bordluke zu. Sämtliche Passagiere musterten uns auf dem Weg zu unseren Sitzplätzen. "Warum die Aufregung?", fragte ich mich. Wir saßen im Flieger und sind sogar ohne Verspätung!! gestartet. Micha und Jesse standen kurz vorm Kollaps und sprachen den halben Flug kein Wort mit mir. Letztendlich mussten wir aber alle lachen. Ja, es war in jeder Hinsicht ein sehr besonderer und emotionaler Urlaub...Wir fühlen uns gestärkt!










Schweiz - liebe Besuche



Rückblick: August 2013


Nach drei Wochen auf dem Martiburhof stand ein Umzug an, da die Wohnung in diesem Zeitraum bereits vermietet gewesen war. Für die letzten beiden Bestrahlungswochen (Woche 6 und 7) wollten wir dann zurückkehren. Zwischenzeitlich fanden wir ein neues Domizil oberhalb von Tiengen auf einem Demeterhof im Nirgendwo. Auf dem Weg dorthin schienen die dunklen Tannen gar kein Ende zu nehmen. Wir wurden absolut herzlich von den Besitzern, Steffen und Ruth, in Empfang genommen. Der Hof lag malerisch. Jesse konnte kaum glauben, dass wir nun noch einsamer und ländlicher als zuvor wohnen sollten. Als er dann noch nicht einmal Handy-Empfang hatte, weigerte er sich, aus dem Auto auszusteigen. Nachdem Steffen ihm jedoch das W-Lan-Passwort verraten hatte, kehrte wieder etwas Farbe in sein Gesicht. Ada, Vianne und Luke hingegen waren begeistert. Es gab die "Geißens", ein Ziegenpärchen, etliche Gänse, zwei Hunde, Katzen, Schweine, Rinder und Hühner. Luke durfte auf dem Mähdrescher mitfahren und die Ernte einholen. Ada und Vianne fütterten fast täglich die Schweine mit unseren Küchenabfällen oder führten die "Geißens" an der Leine spazieren. Die Ferienwohnung war sehr dunkel und in die Jahre gekommen und trug den Geruch vergangener Zeiten. Aber dieses Manko machten Steffen und Ruth durch ihre nette Art wett. Sie überraschten uns mit frischgebackenem Brot, Ruth brachte unsere Jungs gemeinsam mit ihrem jüngsten Sohn und dessen Freund ins Naturfreibad. Wir erlebten die Geburt und den Tod eines Kälbchens und waren beeindruckt, wie sehr Steffen sich bemühte, der Kuh ein fremdes Kälbchen zu besorgen. Er verbrachte solange Zeit bei den beiden, bis er sah, dass die Kuh das Kalb angenommen hatte. Vianne ging es immer noch gut, obwohl sie bereits drei Wochen Bestrahlung hinter sich hatte. Lediglich ihre Abwehrkräfte waren weiter gesunken, sie fielen aber nicht so tief wie bei der Chemo. Wegen der nicht ganz so sterilen Bauernhofwohnung und den hunderten von Fliegen in unserer Unterkunft (seitdem haben wir diesen Insekten gegenüber einen riesengroßen Ekel) und den vielen fremden Keimen in den Ställen machte ich mir Sorgen - zum Glück unbegründet. Vianne spielte an der Wassertränke im Hof, schaukelte vergnügt in der Baumschaukel oder düste mit der selbstgebauten Seilbahn quer über den Hof. Wir bekamen in diesen Wochen Besuch von unseren Freunden aus Heidelberg und verbrachten gemeinsam einen wunderschönen unbeschwerten erfüllten Tag. Wir ließen uns mit den Kindern im Rhein flussabwärts treiben, abends grillten wir alle zusammen mit Ruth und Steffen. Unglaublich lustig - und immer wieder aufregend und liebevoll chaotisch - war der Besuch meiner M. aus Düsseldorf, die mit ihren beiden Kindern für mehrere Tage in den düsteren Schwarzwald angereist war. Wir lachten viel, wanderten zu einer kleinen Waldhütte (die leider nicht bewirtet war) und fuhren zusammen zum Bodensee. Unsere morgendlichen Pflichttermine am PSI wurden zur Routine, Vianne machte weiterhin klasse mit und murrte selten - außer nach dem Aufwachen. Irgendwann sprach mich eine Mitarbeiterin an, dass Vianne immer so süße Kleidchen an hätte. Nur leider gingen uns die süßen Kleidchen langsam aus, weil wir auf dem Demeterhof keine Waschmaschine haben, erzählte ich ihr grinsend. Wisst ihr, was sie antwortete? Ich solle ihr doch einfach einen Sack Wäsche mitgeben, dann würde sie die Sachen für uns waschen. Verdutzt starrte ich sie einen Moment lang sprachlos an. Da bietet mir eine medizinische Mitarbeiterin vom PSI mal eben so an, unsere Schmutzwäsche zu waschen, obwohl sie uns kaum kennt. Solch eine ungezwungene und zuvorkommende Art kann ich mir bei den meisten Deutschen nur schwer vorstellen. Ich lehnte gerührt und dankend ab (noch reichte es bis zu unserer Rückkehr zum Martiburhof, wo uns eine Waschmaschine zur Verfügung stand).
Die zuvorkommende Art der Schweizer überraschte uns ein ums andere Mal. Einmal hatte ich nicht mehr genügend Schweizer Franken, sondern nur noch Euro zur Verfügung, als ich mir im PSI-Bistro einen Kaffee kaufen wollte. Mit Euro konnte man ebenso bezahlen, bekommt das Wechselgeld allerdings in Franken. Also reichte ich der Kassiererin einen 50-Euro-Schein, kleiner hatte ich es nicht. Sie lächelte und meinte, es wäre schon okay, ich solle den Schein wieder einstecken. Wirklich nett!
Die zwei Wochen auf dem Demeterhof vergingen wie im Flug. Nach vier Wochen gemeinsamer Familienzeit ging es für Micha und die Jungs wieder nach Hause. Ich vermisste sie bereits bei ihrer Abfahrt. Ich wechselte zurück zum Martiburhof. Am nächsten Tag reisten meine Eltern an, um mich zu unterstützen. Irgendwie war ich davon ausgegangen, dass Vianne an 30 Tagen bestrahlt wird. Da es lediglich zu einer eintägigen Verzögerung gekommen war und dieser Tag hinten dran gehängt werden musste, stand nach sechs Wochen nur noch der Montag zur Bestrahlung an. Direkt im Anschluss wollte ich mit den Kindern nach Hause fahren. Ich kündigte die Wohnung für Montag. Zur Sicherheit hatten wir im Vorfeld sieben Wochen reserviert. Am Donnerstag bekam ich dann den Bestrahlungsplan mit den neuen Uhrzeiten. Komischerweise war nicht nur der Montag vermerkt, sondern auch noch Dienstag, Mittwoch und Donnerstag. Irritiert fragte ich nach. Bei der Protonentherapie sind zwar 30 Einheiten angesetzt, an drei weiteren Tagen gibt es jedoch einen Extra-Boost auf das Hauptareal. Ich war todtraurig. Ich hatte mich mental schon auf die Heimkehr am Montag vorbereitet. Meine Eltern boten zwar an, noch ein paar Tage länger zu bleiben, aber ich lehnte dankend ab. Sie sind schon über siebzig und brauchten meiner Meinung nach dringend Ruhe. Ich ging also wieder zu unserer Vermieterin und setzte sie in Kenntnis, dass wir doch noch bis Donnerstag bleiben. Besorgt erklärte sie mir, dass sie die Wohnung ab Mittwoch bereits wieder vermietet hätte. Was für ein Schlamassel! Hinzu kam, dass ganz Waldshut wegen einer Revision des Atomkraftwerkes fast vollständig ausgebucht war. Ich war wirklich fertig. Dann aber fiel mir das kleine Hotel oberhalb von Tiengen ein, in dem M. während ihres Besuches abgestiegen war. Sie hatten noch ein Zimmer für unsere letzte Nacht im Schwarzwald – zum Glück. Meine Eltern reisten ab, wir winkten ihnen noch fröhlich nach. Sie waren kaum um die Kurve, als ich merkte, wie es schrecklich in meinem Bauch rumpelte. Die nächsten 24 Stunden kam ich kaum noch vom Klo runter - mir war hundeelend zumute, heulend rief ich Micha an. Sonntagmittag ging es mir etwas besser. Ein Freund, der mit seiner kleinen Tochter in der Nähe Urlaub machte, hatte sich angekündigt. Es tat so gut, M. und T. zu sehen. Am Abend merkte ich allerdings, wie platt ich von der Durchfallerkrankung war. Am Montag schleppte ich mich mit Ada und Vianne wieder zum PSI. Ich fragte, ob ich besser wieder fahren solle, bevor ich jemanden anstecke. Die Schweizer waren wieder tiefenentspannt und verneinten. Dann schaute mich die Sekretärinnen besorgt an und meinten, ich sehe wirklich richtig krank aus. Na danke! Den restlichen Tag durften Ada und Vianne "Yakari" in Endlosschleife gucken - ich schlief nur noch. Danach ging es mir merklich besser. Was für eine Ironie: sechs Wochen war ich nie allein mit den Kindern, und sobald kein Erwachsener mehr greifbar ist, hole ich mir eine hinterhältige Virusinfektion. Dienstag packte ich stundenlang unsere Sachen, da wir Mittwochmorgen aus dem Martiburhof auszogen. Am Donnerstag durften wir dann endlich nach Hause fahren. Nach sechsstündiger Heimreise fielen wir uns alle hocherfreut in die Arme. Wir hatten es geschafft! Sechseinhalb Wochen Bestrahlung lagen hinter uns, 33 Narkosen. Und Vianne ging es gut! Der erste zarte Haarflaum zeigte sich sogar schon auf ihrem Köpfchen. Die Haut im Bestrahlungsfeld war zwar stark gerötet, aber nicht entzündet.











Mallorca



Echtzeit! Dienstag, 14. Oktober 2014


Wenn du weder weißt, welcher Wochentag noch welches Datum gerade ist, bist du im Urlaub angekommen. Dieses Mal habe ich etwas länger gebraucht - aber ich bin angekommen. Erst hier merke ich, wie ausgezerrt wir alle waren/sind. Meine Nerven liegen leider oftmals blank, ich bin gereizter als früher. Heute habe ich Ada und Vianne angemeckert, weil sie es geschafft haben, Kleider, Schuhe, Hosen, Hände innerhalb weniger Minuten komplett mit Schlamm einzusauen. Hallo! Es ist nur Schlamm! So bin ich eigentlich nicht. Diese unbändige Wut auf die Krankheit kommt gerade im Angesicht von Sonnenlicht, türkisfarbenen Wasser und Salzluft stärker durch, als ich es erwartet hätte. Vianne geht es gut. Sie lacht viel und ist vergnügt. Mich überfällt tiefe Traurigkeit, wenn ich sie so ausgelassen sehe. Das muss aufhören, das weiß ich – das wissen wir.

Unser erstes Ferienhaus direkt am Meer, oberhalb einer wunderschönen Bucht, war einfach nur traumhaft und Antoni, unser Vermieter, sympathisch und unkompliziert. Flug und Ankunft auf Mallorca liefen zuvor wie am Schnürchen, natürlich schlummerten beide Mäuse fünf Minuten vor der Landung ein. Vianne mag das Fliegen. Ada liebt es! Ich liebe ihre rotzig-pragmatische Art. Als die Sicherheitsvorkehrungen vorm Start erklärt wurden, schaute Ada mich an und meinte, wofür man denn Notrutschen bräuchte, wenn man in der Luft sei: "Hä??? Sind die doof! Man kann in der Luft gar nicht rutschen, ne Mama? Wo soll man da denn hinrutschen?" Vor lauter Lachen bekam ich keine Luft. Mit unseren Mietwagen fuhren wir als erstes in eine Bucht, die wir von früher kannten. Die Kinder sprangen schon am frühen Morgen ins Wasser, Micha und ich verspeisten genüsslich Baguette, Käse, Tomaten. Danach wanderten wir über die Klippen und genossen den Ausblick. Wir fühlten uns in unserer Unterkunft so wohl, dass wir meistens erst am frühen Nachmittag los kamen (direkt nach den ausufernden Frühstücken auf unserer Dachterrasse mussten wir uns schließlich im Pool abkühlen). Unsere Nachbarn flogen fast alle am nächsten Tag, dem Samstag, zurück, so dass wir bestens mit Lebensmitteln und Pool-Spielzeug bedacht wurden. Wir unternahmen viele Ausflüge, und Vianne hielt tapfer mit. Besonders gut hat uns eine abgelegene Aussteiger-Bucht gefallen (gelobt seien die Luftbilder und Karten, die man sich aufs Handy laden kann). Nachdem wir über einen langen, buckligen Feldweg mit unseren Mietwagen gefahren waren, kamen wir endlich in Meernähe. Dann stand ein rund zwanzigminütiger Fußmarsch über unwegsames Gelände an. Der Trampelpfad führte uns durch eine Schlucht, die in einen kleinen, von Felsen gesäumten Sandstrand mündete. Am Strand war eine Slagline an zwei abgesägten Holz-Telegrafenmasten gespannt, die gleich von Luke getestet wurde. An einer zusammen gezimmerten Holztheke gab es Getränke, in den umliegenden Büschen waren provisorische Unterkünfte aufgebaut und Zelte gespannt. Überwiegend Zwanzigjährige hingen hier in Grüppchen ab, aber auch einige entspannte ältere Semester und Familien trafen wir an. Der gesamte Ort strahlte pure Gelassenheit aus. Wir tranken Wein direkt aus der Flasche. Vor Einbruch der Dämmerung traten wir den Heimweg an. Vianne meinte, der Aufstieg sei sicherlich schwierig. Aber sie schritt tatkräftig voran. An einer besonders schweren Passage nahm Luke Vianne beiseite und sprach ruhig zu ihr: "Vianne, guck mal, genau so steinig und steil wie der Weg hier, so schwer ist es manchmal, den "frechen Wicht" in den Griff zu kriegen. Aber du schaffst das. Da bin ich mir ganz sicher. Und irgendwann wird der Weg auch wieder einfacher und leichter, genau wie hier." Wie kann es sein, dass ein gerade Zehnjähriger solch bedachte Worte spricht. Ich weiß, dass Luke ein feinfühliges und einfühlsames Kind ist, aber dieses Verhalten hat mich sehr beeindruckt. Ich musste beide sofort ganz fest in den Arm nehmen...






















Hürden



Echtzeit!  1. Oktober 2014

Wir haben in den letzten Tagen etliche Hürden genommen und ein Etappenziel erreicht: wir dürfen mit Vianne in den Urlaub fahren. Wir sollen!! mit Vianne in den Urlaub fahren. Allerdings haben wir uns bei diesem "Hürdenlauf" einige Blessuren zugezogen. Die erste Hürde - die Temodal-Gabe - konnten wir nach gewissen Anlaufschwierigkeiten gut bezwingen. Gestern eskalierte die Situation zwar, als wir Vianne eine Stunde dazu bringen wollten, die Kapsel als Ganzes zu schlucken (wir bettelten, wir schrien, wir bestachen, wir heulten, wir trösteten, wir argumentierten, wir motivierten, wir rieten...), dann jedoch hatte Micha die rettende Idee, das fiese Pulver im Akazienhonig zu verrühren. Vianne schluckte es! In der Nacht erbrach sie sich dieses Mal nicht, da wir zur Vorbeugung Zofran und Vomex als Zäpfchen gegeben hatten.
Die zweite Hürde - das gestrige MRT - gingen wir gut an. Vianne brachte es wie ein großes Mädchen hinter sich: wach, ohne Sedierung, allein in der Röhre, während Micha daneben saß. Tapfer, tapfer, tapfer. Sie hüpfte bestens gelaunt in den Vorbereitungsraum, eschwerte sich über das Hemdchen ("ich mag das grün nicht") und schnullerte entspannt. Alle Ärzte waren begeistert, wie souverän sie es meisterte. Sie durfte "Der kleine Drache Kokosnuss" hören, während rund 30 Minuten lang Aufnahmen des Köpfchens gemacht wurden. Micha hatte das Hörspiel mitgebracht. Der Radiologe hätte die MRT-Aufnahmen gerne verlängert,
damit er "Kokosnuss" zu Ende hören konnte. Wir mussten ihm versprechen, das Hörspiel zu kopieren. Heute kam das Ergebnis der MRT-Untersuchung. Hürde Nummer drei, die uns kurzzeitig zu Fall brachte: es gibt zwar keinen Hinweis auf einen neuen Tumor, der die Pupillendifferenz erklären würde, aber es gibt eine kleine Auffälligkeit im allerersten Tumorgebiet im Parietallappen. Die Radiologen meinen, es könnte minimales Tumorgewebe sein, die Kinderradiologin schließt allerdings auch ein ganz normales Gefäß nicht aus, was ebenfalls Kontrastmittel anreichert. Es weiß also niemand Genaues. Letztendlich bringt nur ein weiteres Kontroll-MRT in sechs Wochen Gewissheit oder eventuell der Referenzbefund aus Würzburg. Die Ärztin, die die Aufnahmen befundet, ist nämlich sehr erfahren, streng und genau. Es ist gemein! Hätte nicht zumindest dieser MRT-Befund gut ausfallen und uns für ein paar Wochen Ruhe bescheren können, um durchzuatmen? Aber "hätte, hätte" bringt uns nicht weiter. Fakt ist, dass Vianne aktuell dadurch nicht gefährdet ist und derzeit sowieso nichts unternommen würde. Also ab in den Urlaub! Jeden Tag muss ich mich zwingen, gedanklich im Hier und Jetzt zu bleiben und keine düsteren Zukunftsbilder zuzulassen. Es zerrt an den Kräften. Aber noch stärker zerrt es, mir den weiteren Krankheitsverlauf und die vielen, vielleicht nicht mehr bezwingbaren Hürden vorzustellen...