Rückblick: 16. Oktober -
13. November 2013
Noch
während Viannes akuter Behandlungsphase hatten wir einen Antrag auf eine
familienorientierte Rehabilitation gestellt. Deutschlandweit gibt es vier oder
fünf Kliniken, die sich auf Familien mit krebskranken Kind spezialisiert haben:
zwei davon liegen im Schwarzwald (wo wir gerade knapp sieben Wochen verbracht
hatten), eine in Bad Oeynhausen, eine in der Nähe von Berlin - und eine auf
Sylt. Wir favorisierten ganz klar Sylt, denn wir lieben Auszeiten am Meer - zu
jeder Jahreszeit. Bereits als Micha und ich uns kennenlernten, sind wir mitten
in der Nacht im Winter ganz spontan nach Holland an die See gefahren, um den
Sonnenaufgang am Meer zu erleben (okay, es war sehr, sehr kalt, sehr verrückt,
aber auch wunderschön). Allerdings wussten wir von anderen Eltern, dass es sehr
schwer sei, in der Sylter Klinik einen Platz zu bekommen. Auch warteten wir
noch auf die Zusage unserer Krankenkasse. Aber wir hatten Glück und durften Mitte
Oktober anreisen. Ein MRT stand allerdings noch kurz vor der Abreise an: ich
zitterte wieder sehr vor dem Ergebnis. Was wäre es für eine schreckliche
Ironie, kurz nach Ende der umfassenden und kräftezehrenden Therapie ein Rezidiv
auf den Aufnahmen zu sehen. Aber es war alles gut. Voller Freude packten wir
unzählige Koffer und machten uns auf den Weg in den hohen Norden, unser Bulli
war bis unters Dach voll mit Lenkdrachen, Gummistiefeln, Badesachen, warmen
Mützen, Kinderspielzeug, Unterlagen, Notfall-Medikamenten,
Büchern... Die Klinik gefiel uns auf Anhieb, wir hatten eine großzügige Wohnung
zugewiesen bekommen, die Lage, in Wenningstedt, war super. Wir fühlten uns hier
gut aufgehoben, obwohl wir im Vorfeld unsere Zweifel hatten, wie es ist,
mehrere Wochen mit anderen krebskranken Kindern und deren Familien zu
verbringen. Insbesondere Jesse hatte Sorge, nur von Krankheit und Leid umgeben
zu sein. Doch so war es nicht. Bei vielen Familien konnte man gar nicht
erkennen, wer nun eigentlich an Krebs erkrankt war. Die Stimmung war oftmals
heiter und ausgelassen. Natürlich gab es auch traurige, nachdenkliche,
ergreifende Momente. Im Laufe der gemeinsam verbrachten Zeit hatte sich ein
netter Kreis aus mehreren Familien gebildet, mit denen wir gerne zusammen
saßen, Tischtennis spielten, Ausflüge unternahmen. Es tat gut, sympathische
Menschen mit ähnlichem Schicksal kennenzulernen und sich auszutauschen, ohne
große Erklärungen machen zu müssen. Die Angebote der Psychologen, Erzieher,
Therapeuten, Trainer, Sozialpädagogen waren wirklich exakt auf die Bedürfnisse
von Familien in unserer Situation zugeschnitten. Anders als in herkömmlichen Reha-/Kureinrichtungen
setzten die Fachleute hier einen klaren Schwerpunkt auf das Ziel, zur Ruhe zu kommen,
Zeit für sich zu haben, sich selbst wahrzunehmen, Zeit mit dem Partner, mit den Geschwisterkindern,
mit der Familie zu verbringen, die Seele baumeln zu lassen. Es gab ein, zwei
Pflichttermine, ansonsten konnte man frei wählen, an welchen Aktivitäten man
teilnehmen wollte. Ich hatte mich für einen Nordic Walking Kurs und Autogenes
Training entschieden. Zudem nahmen Micha und ich 1-2mal die Wochen an einem
offenen Fitness-Programm teil. Wir dachten, ein bisschen dehnen, strecken,
bewegen würde uns erwarten. Pustekuchen! Das Ganze startete mit einem
40-minütigen Jogginglauf. Geschafft, aber glücklich, wollten wir uns gerade
verabschieden, da baute die Trainerin (sie kam gerade frisch von der
Sporthochschule in Köln) in der Turnhalle ein Zirkeltraining mit anschließenden
Dehnungseinheiten auf. Nach den ersten beiden Stunden war die Hälfte der
Teilnehmer verschwunden... Micha und ich fanden es super, obwohl wir Schmerzen
an Körperstellen hatten, die wir zuvor noch nie wahrgenommen
hatten.
Die
Kinder waren den Vormittag und an zwei Nachmittagen die Woche in ihren
jeweiligen altersgerechten Gruppen. Alle hatten es gut getroffen und waren
zufrieden, sogar Jesse. Dadurch hatten Micha und ich wirklich seit langem das
erste Mal wieder viel Zeit füreinander. Wir genossen die ausgedehnten
Spaziergänge am Strand, den Besuch uriger Cafés und Teestuben, Saunabesuche,
die Gespräche untereinander und mit anderen netten Menschen.
Vianne
durfte neben der Krankengymnastik am therapeutischen Reiten teilnehmen. Das
hatte sie sich so sehr gewünscht. Sie teilte sich die Stunde
"schwesterlich" mit Ada - die wäre ansonsten nämlich ausgerastet.
Luke hatte sich für die Wasserspiele im Hallenbad entschieden. Die Jugendlichen
organisierten Ausflüge zur Bowling-Bahn, nahmen mit einem professionellen Team
eine eigene CD auf oder spielten ausgiebig Kicker. Mit der ganzen Familie
erkundeten wir die Insel, fuhren von Nord nach Süd und mit dem Boot raus, besuchten
"Willi", dir Kegelrobbe, ließen unsere Drachen steigen, wanderten
durchs Watt und waren gefühlte 10.000 Mal in unserem Hallenbad. Es war so
unglaublich ergreifend zu sehen, wie fröhlich Vianne (und ihre Geschwister)
durchs Wasser tobten. Und noch ein Bonbon erwartete uns auf der Insel: K. und
Lilli und ihre Brüder machten zeitgleich Urlaub auf Sylt. Bei strahlendem
Sonnenschein trafen wir uns mehrmals auf den Spielplätzen am Strand und in Westerland,
aßen Crepes und alberten herum. Unsere Kinder waren immer die Lautesten, aber
das stand ihnen auch zu. Vianne konnte es gar nicht glauben, "ihre"
Lilli "im Urlaub" wiederzusehen. Das wunderbare Licht auf Sylt legte
sich wie ein beruhigender Schleier auf meine Seele. Und wenn es mal nicht so
gut ging, joggte ich den langen Sandstrand hinunter. Einmal während des
Joggens, als
ich sehr aufgewühlt war, ging plötzlich ein Platzregen auf mich hernieder. Ich
war durchweicht bis aufs Unterhemd und meine Laufhose wog durch die aufgesaugte
Feuchtigkeit ungefähr das Dreifache ihres Normalgewichts. Ich lief weiter, sog
das Brausen des Meeres in mich auf, genoss den peitschenden Regen und lachte
und fühlte mich lebendig. Glücklich, durchgefroren und müde kam ich schließlich
wieder in der Reha-Klinik an. Meine Laufschuhe brauchten drei Tage zum
Trocknen.
Auf
Sylt durften wir aus nächster Nähe Sturmtief "Christian" miterleben. Entgegen
jeder Empfehlung gingen Micha, Jesse und ich durch die Dünen zum Meer, um uns
das "Schauspiel" aus unmittelbarer Nähe anzusehen und es am eigenen
Leib zu erfahren. Diese Naturgewalten hatten wir nicht erwartet, die Orkanböen
trieben uns über den Strand, der Sand schoss wie aus einem Sandstrahlgerät auf
unsere Haut, in einer Windschneise oberhalb der Dünen konnte ich mich nur noch
in eine Sandmulde inmitten von Dünengras werfen. Aufrecht hätte es mich
weggepustet. Ich verspürte keine Angst. So etwas machte mir keine Angst mehr.
Wir waren aber keinesfalls leichtsinnig, sondern standen dieser Urgewalt respektvoll
gegenüber. In den Dünen gibt es keine Dachziegel, die einem um die Ohren
fliegen können. Auch wurde keine Sturmflut erwartet. Und Ada, Vianne und Luke
hatten wir in ihren Kindergruppen in der sicheren Obhut der Erzieher gelassen. Sylt
tat uns allen in jeder Hinsicht gut. Wir haben sehr nette und vielschichtige
Menschen kennengelernt, die ein oder andere Denkweise geändert und konnten
einiges davon in unseren Alltag retten. Unser
"Wohlfühltank"
war beinahe wieder gut gefüllt.
Zuhause
gingen wir in Dortmund in die Nachsorge über: Alle sechs Wochen standen nun
neurologische und Blutbild-Untersuchungen an, alle zwölf Wochen ein MRT für die
nächsten zwei Jahre. Wie glücklich wir damals auf Sylt waren - was für
vermeintliche Chancen, was für Hoffnungen wir noch hatten. Wenn ich könnte,
würde ich die Zeit einfach zurückdrehen, um noch einmal diese Augenblicke des Aufschwungs,
des Neubeginns erleben, genießen, fühlen, darin baden zu dürfen. Wenn ich die
Fotos betrachte, steigert sich diese Sehnsucht zu einem tiefen Schmerz. Viannes
Erkrankung hat bei uns allen Narben hinterlassen, und an einigen Tagen
schmerzen diese Narben. Sie sind extrem wetterfühlig...