Echtzeit! 26. September
2014
Am
heutigen Tag jagte ein Termin den nächsten, aber ich bin froh, dass wir diese
vielen wichtigen Dinge so kurzfristig hintereinander bekommen haben. Ich bin
all unseren medizinischen Experten sehr dankbar, dass sie so schnell und unbürokratisch
Zeit für uns haben. Die Absprachen mit den Dortmundern erfolgten überwiegend
per Email. Prof. S. hat uns fast immer umgehend Rückmeldung gegeben und
Termine/ Maßnahmen in die Wege geleitet. Für uns Laien erschließt sich oftmals
nicht, wie viele Fäden im Hintergrund gezogen werden. Das Engagement unserer
Ärzte ist beeindruckend - zumal auch die zwischenmenschliche Ebene stimmt.
Klar, wir sind nicht immer einer Meinung und führen das ein oder andere Mal
erbitterte Diskussionen, aber ich glaube, jeder weiß den jeweils anderen und
seine Kritik/ seine Anregung zu schätzen.
Bereits
um 10 Uhr hatte ich mit Vianne in der Essener Uniklinik einen Termin zur
Blutabnahme und zum Fäden ziehen - beides notwendig, aber ebenso schmerzhaft.
Ada war zur Unterstützung mitgekommen. Sie ist wirklich die "große"
Schwester und ich bin unglaublich stolz auf sie und ihr unverfälschtes
Naturell. Bereits bei der Blutabnahme - Vianne war nicht mehr ganz so panisch
wie beim letzten Mal - tätschelte sie sanft Viannes Hand und sprach mit
beruhigender und zugleich ernster Stimme auf sie ein: "Es ist ganz gleich vorbei,
Vianne!". Sie ist ein Engel! Dann hat sie ihr immer den Schnulli in den
Mund geschoben, wenn Vianne danach geschrien hat. Ich hatte alle Hände damit zu
tun, sie fest im Arm zu halten, damit der Arzt die Vene beim ersten Versuch
trifft. "Vianne, ganz ruhig, schau mich an!" Ich weiß nicht, wie oft
ich diesen Satz heute gesagt habe. Aber ich erreiche sie, sie konzentriert sich
auf mich, trotz all der Angst. Der Arzt hat wirklich nur einen Versuch
gebraucht. Gut!!! Der erste Teil war geschafft, eine Kugel Eis hatten Ada und Vianne
schon sicher. Jetzt ging es an die Fäden. "Vianne, die Hälfte ist schon
raus", motivierten Ada und ich gemeinsam. Zum Glück ließen sie sich wirklich
gut ziehen. Die Fäden sind raus! Danach wanderten wir zur Eingangsebene und
kauften das versprochene Eis. Die Damen handelten noch zwei Kuscheltierhunde
aus - hätte ich mehr Bargeld dabei gehabt, hätte ich meinen tapferen Heldinnen
auch noch
die
Katzen, die Eulen, die Äffchen, die Giraffen,.... gekauft. Geschafft! Sogar die
Vollsperrung auf der A40 konnten wir gut umfahren. Für mich fing der Tag
eigentlich gut an!
Nachmittags
hatten wir dann einen Gesprächstermin mit den Dortmundern, um zu klären, wann
und vor allen Dingen welche Therapien wir starten. Vianne sollte mitkommen,
damit sich Dr. B. und Prof. S. ein aktuelles Bild von ihr machen konnten. Ada
wollte gerne in den Kita-Schwimmkurs. Gemeinsam brachten wir sie um 14 Uhr
dorthin. Vianne hielt sich tapfer. Doch als sie viele ihrer kleinen Freundinnen
und Freunde im Wasser sah und auch noch die Erzieher so liebevoll auf sie
zugingen, brach sie in Tränen aus. Sie liebt den Schwimmkurs, sie liebt das
Wasser. Ich erklärte ihr, dass heute und morgen noch kein Wasser an ihre Wunde darf,
dass sie aber bald wieder mit den anderen schwimmen dürfte. Es ist gemein! Am
meisten ärgerte es sie, dass die anderen bereits Fortschritte machten, sie aber
nicht weiter üben konnte. Sie ist so ehrgeizig. Das hilft ihr einerseits und
spornt sie immer wieder an, aber es führt eben manchmal auch zu großem
Verdruss. Ich versprach ihr, dass wir beide auch einen unterhaltsamen Tag haben
würden. Auf dem Weg zur Kinderklinik holten wir Micha aus dem Büro ab. Zu
Viannes großer Freude gab es im Wartezimmer eine
Playmobil-Pyramide
samt Kamelen, Grabräubern und Sphinx. Micha, Vianne und ich spielten ausgiebig,
bis unsere Ärzte kamen. Am Montag werden wir mit Temodal starten, einem
Langzeit-Chemotherapeutikum in Tablettenform. Unsere Ärzte befürworten unseren
bevorstehenden Mallorca-Urlaub (O-Ton Prof. S.: "Vianne hat sich diesen
Urlaub mehr als verdient! Wir müssen Vianne bei Laune halten für die
bevorstehende Therapie, sie muss mitmachen wollen", so die absolut gesunde
Einschätzung der Dortmunder). Sie wollen aber auch so früh wie möglich mit der
Behandlung beginnen. Wir wissen alle, wie rasch und aggressiv der letzte Tumor
gewachsen ist. Uns allen wird es gut tun, vorher noch einmal durchzuatmen.
Insofern haben wir grünes Licht für den Urlaub. Allerdings
wollen
die Ärzte am Dienstag noch ein Kontroll-MRT des Schädels: zum einen, da Viannes
Pupillen nach wie vor ungleich sind (das zeigte sich das erste Mal einige Tage
nach der Operation und könnte theoretisch auf einen neuen Tumor im Köpfchen
hindeuten, könnte allerdings auch nur eine Reizung des Sympathikus sein), zum
anderen, um vor Beginn der medikamentösen Behandlung einen Ist-Zustand zu
haben. Wäre beim nächsten MRT in acht Wochen ein Tumor sichtbar, wäre es
unmöglich zu beurteilen, ob er unter Temodal gewachsen ist (was bedeuten würde,
dass sie nicht auf diese Therapie anspricht) oder ob er vielleicht schon vorher
vorhanden war. Wir lassen das MRT machen, aber ohne Narkose. Vianne ist bereit
dazu, es wieder wach gemeinsam mit Micha durchzustehen.
Die
Planungen für die cranio-spinale Bestrahlung laufen. Sie soll nach unserem
Urlaub starten, zusätzlich zur Temodal-Gabe, solange Viannes Körper diese
Doppelbelastung aushält. Dann haben wir noch einen "Trumpf" im Ärmel.
Die Ergebnisse aus Heidelberg, aus der molekularbiologischen Untersuchung, sind
da. Sie haben bei Viannes Tumor vier Signalwege entdeckt. Diese beschreiben
genauer, wie der Tumor funktioniert, welche Wege er nutzt, um zu wachsen, um
den natürlichen Zelltod zu umgehen, um sich an die Blutgefäße zu koppeln und
mit Sauerstoff versorgt zu werden, etc... Fest steht, dass diese entdeckten
Signalwege zu ihrem "ungünstigen klinischen Verlauf" beitragen. Fest
steht aber
auch,
dass es Medikamente gibt, die diese Signalwege blockieren. Sie sind allerdings
noch in der Erprobungsphase und nur für "Einzelheilversuche"
zugelassen. Diesen Einzelheilversuch wollen wir starten.
Sie
bekommt wahrscheinlich ebenfalls ab Montag das Medikament Vorinostat, falls
eine Apotheke gefunden wird, die es zeitnah besorgen kann. Denn in Deutschland
ist dieses Mittel noch nicht zugelassen. Falls wir es also wirklich in den
Urlaub schaffen, wird Vianne diese beiden Medikamente schon zu sich nehmen -
auch im Ausland. Unsere Ärzte haben uns gefragt, ob wir uns das zutrauen,
Vorinostat vor der Reise zu starten, weisen zugleich aber auch auf die
Dringlichkeit eines frühen Therapiestarts mit
"Doppelangriff-Strategie" hin. Beim Temodal
müsste Vianne eigentlich erst nach unserer Rückkehr ins Zelltief (verminderte
Abwehrkräfte, herabgesetzte Blutgerinnung, erniedrigter Sauerstofftransport im
Blut) fallen. Wir sollten aber zur Sicherheit auf Mallorca nach einer Woche
eine Blutuntersuchung machen lassen. Sie suchen gerade entsprechende deutsche
Ärzte heraus (klasse, oder?!). Über die Nebenwirkungen von Vorinostat wissen
wir noch weniger. Aber Mallorca sei auch nicht allzu weit entfernt, bekräftigen
sie uns. Ich persönlich finde diese Einstellung gut. Natürlich habe ich Angst,
dass es während unseres Auslandsaufenthaltes zu Komplikationen kommen könnte,
aber Garantien gibt es nicht - diese schmerzhafte Lektion haben wir gelernt.
Wir haben Vianne diesen Urlaub versprochen und wir werden alles daran setzen,
zu fliegen, trotz gewisser Risiken und Unwägbarkeiten, trotz gewisser Ängste.
Scheiß darauf! Wir haben es versprochen! Dieser Urlaub ist mein persönliches
Ziel, mehr will ich (erst einmal) gar nicht!