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26. August 2016

Abgründe

Echtzeit! 29. September 2014 

Bereits mittags habe ich Vianne darauf vorbereitet, dass sie heute Abend eine Tablette nehmen muss, damit der "freche Wicht" nicht wiederkommt. Sie sagte daraufhin nicht viel, aber dieser nachdenkliche Ausdruck in ihren Augen machte mir zu schaffen. Auch ich fühle mich bei dem Gedanken nicht wohl, dass wir wieder mit einer Chemotherapie starten. Wieder! Aber haben wir eine Wahl? Trotzdem will ich dieses Zeug nicht in ihr. Eigentlich müsste sie eine Kapsel schlucken. Sie ist zu groß. Einfach zu groß! Wir dürfen sie in Orangensaft auflösen. Zum Öffnen müssen wir Handschuhe anziehen. Ich will das Zeug nicht in ihr! Als Dr. B. heute Nachmittag anrief, fragte ich ihn nach weiteren Vorsichtsmaßnahmen. Ich sagte ihm, dass ich mir Sorgen um Vianne mache. "Muss ich sie die Nacht überwachen?" Er verneinte und beruhigte mich. Es sei nur ein leichtes Chemotherapeutikum. Schlimme Nebenwirkungen seien nicht zu erwarten. Wir ließen die Zwillinge frühzeitig zu Abend essen, da das Temodal  frühestens eine Stunde nach der letzten Mahlzeit gegeben werden darf. Micha mischte es an. Vianne saß an mich gelehnt im Bett, Ada daneben. Ich las etwas vor Hundegeschichten. Micha kam mit dem Becher. Wir erklärten ihr noch mal, dass sie den "Saft" trinken müsse. Wir waren nervös. Sie nahm den ersten Schluck. Dann die Erkenntnis. "Es schmeckt so eklig, Mama". "Schatz, es ist doch im Orangensaft aufgelöst, trink noch mal einen Schluck." Sie trank tapfer, schüttelte sich, weinte. "'Es ist so eklig, Mama, probier du doch mal." "Ich darf nicht, mein Engel." Meine Kehle schnürte sich zu. "Ich würde dir sofort alles abnehmen, aber ich kann es nicht. Bitte Schatz, nur noch einen kleinen Schluck", bettelte ich. Wieder setzte ich ihr den Becher an. Sie würgte. Sie weinte. "Es ist wichtig", flehten Micha und ich. "Der freche Wicht darf nicht wiederkommen!" Ich kam mir vor wie Harry Potter, der Dumbledore zwingen musste, die Flüssigkeit aus der Schale zu trinken, trotz großer Qualen. Bis auf den letzten Tropfen. Es ist so abartig. Michas und meine Tränen kamen gleichzeitig. Wir holten ihr Wasser zum Nachspülen. Vianne schluchzte, war außer sich. Ich konnte nicht mehr, verzweifelt bat ich sie, nur noch einen letzten großen Schluck zu machen. Von Schluchzern geschüttelt sagte sie: "Ich habe doch schon so viel ertragen...wie piksen,..." Micha und ich brachen in diesem Moment  innerlich zusammen, wir sahen es gegenseitig in unseren Augen. Es war noch immer ein Schluck im Becher. Wir versuchten noch einmal, uns zusammenzureißen, suchten nach einer Lösung. Strohhalm? Lolli zum Nachlutschen? Ada weinte, versteckte sich unter ihrer Decke. Was muten wir unseren Kindern nur zu? Ein ganz kleiner Rest blieb übrig. Ich weiß nicht, wie wir das Zeug noch viermal in sie rein kriegen sollen. Es reicht!!!! Keine Schmerzen mehr, keine Ängste mehr, keine Überwindung mehr. Wir wollen nur noch Ruhe für unseren Schatz - Lachen, Freude, Ausgelassenheit. Es reicht!!!! Es zerreißt uns, sie leiden zu sehen, ihre Angst zu sehen, ihren Widerwillen. Sie schläft jetzt - völlig erschöpft. In der Nacht hat sie mehrmals erbrochen. 
 

Schweiz: Fast wie Urlaub



Rückblick: Juli/ August 2013


Es hört sich seltsam an, aber wir hatten eine gute Zeit in der Schweiz. Vianne fühlte sich nach wie vor fit. Micha und die Jungs blieben für insgesamt vier Wochen. So viel Zeit hatten wir schon lange nicht mehr gemeinsam verbracht - wertvolle, innige Familienzeit. Jesse war nicht so begeistert, einen Monat auf einem Bauernhof - ohne seine Freunde, dafür aber mit Eltern und jüngeren Geschwistern - verbringen zu müssen. Aber er ertrug es mit Fassung. Zum Glück gab es WLan und den ein oder anderen Skatepark in der Nähe, auf dem er sich austoben konnte. Luke hingegen freute sich auf das Bauernhofleben und verfolgte eifrig alles im Garten, was mindestens vier Beine hatte, kroch oder flog. Zudem spielte er manchmal mit den beiden Mädchen, deren kleiner Bruder ebenfalls am PSI behandelt wurde. Morgens fuhren Micha oder ich mit Vianne zur Protonentherapie, am Nachmittag erkundeten wir die Gegend und unternahmen Ausflüge. Die Sonne strahlte weiterhin vom Himmel. Es kam einem Sommerurlaub sehr nahe. Einziges Problem war, dass Vianne (und alle übrigen Kinder) bei über 30 Grad gerne baden gegangen wäre(n). Aber wir konnten schlecht mit allen Kindern an den See fahren, und eines durfte nicht ins Wasser. Schrecklich! Deswegen beschlossen wir, das Risiko einzugehen und Vianne ins Wasser zu lassen. Wir hatten zum Glück einen riesigen Vorrat wasserfester Riesenpflaster aus Dortmund mitbekommen (ein Fünferpack kostet bereits 20 Euro, und fünf verbrauchten wir mindestens pro Badespaß). Dann fuhren wir entweder in ein Naturfreibad, das aus einem sauberen Bach gespeist wurde und eine wirklich gute Wasserqualität vorweisen konnte, oder wir besuchten den Schluch- oder auch Schlüchtsee, ebenfalls bekannt für gute Wasserqualität. Im Extremfall konnte sich eine Infektion an der Broviak-Eintrittsstelle oder in den beiden Schenkeln bilden, falls sie nass wurden. Nach Abschluss der Bestrahlung sollte das Ding sowieso heraus. Trotzdem war ich beim Baden immer angespannt und überprüfte gefühlt alle fünf Minuten, ob es bereits einen "Wassereinbruch" gab. So musste es irgendwann auch kommen: ein Pflaster hatte sich gelöst, die umwickelten Schenkel und die Eintrittsstelle waren pitschnass - natürlich an einem Freitag-Nachmittag, so dass wir so schnell keinen Arzt erreichen konnten. Wir desinfizierten die Stellen und verpackten alles trocken und möglichst steril. Zum Glück hatte ich immer entsprechendes Material dabei. Am folgenden Montag berichtete ich den Ärzten reumütig. Doch auch in diesem Fall reagierten sie sehr entspannt und meinten, das Infektionsrisiko sei mittlerweile gering, da die Muffe (an der Eintrittsstelle) gut eingewachsen sei und somit wenig Keime durchkämen. Anschließend spülten sie beide Broviak-Schenkel ausgiebig, und damit war die Sache erledigt.

Wir besuchten den Rheinfall in Schaffhausen und die Blumeninsel Mainau am Bodensee, wir stiegen auf Burgen, ließen uns von der Strömung mit und ohne Boot im sauberen Rhein treiben, beobachteten Flusskrebse, machten eine aufregende Wanderung durch einen Teil der Wutach-Schlucht, schlenderten durch Zürich, gingen im "Hexentopf" baden (ein Fluss, der natürliche Badebecken in die Felsen gewaschen hatte - ein Geheimtipp unserer Vermieterin). Wir schlemmten Eis und Kuchen, speisten vorzüglich in Restaurants, spielten Minigolf und Tischtennis oder fütterten Rehe und Wildschweine im Wildgehege. Abends saßen wir gemütlich bei einem Glas Rotwein auf unserem Atom-Balkon. 


 "Hexenkessel"

 Schluchsee


 Schlüchtsee
 R(h)einfall
Dom St. Blasien



 Mainau








Zürich



Rückblick:  Juli 2013


Bevor Andi nach einer Woche mit dem Zug die Heimreise antrat, hatten wir noch mit Vianne einen Termin im Kinderspital in Zürich. Das Klinikum arbeitet eng mit dem PSI zusammen und stellt unter anderem das Anästhesieteam. Alle zwei Wochen sollten wir mit Vianne zur (Blut-)Untersuchung kommen. Auch hier zeigte sich wieder einmal, wie tiefenentspannt die Schweizer sind. Wir sollten frühestens um 14 Uhr vorbeikommen, zuvor wäre Mittagspause (wenn es 15 Uhr werden würde, wäre es auch nicht schlimm, sollten wir noch später kommen, sollten wir kurz Bescheid geben). Wir drei machten uns am Freitag nach Viannes Bestrahlung auf den Weg in das rund 70 Kilometer entfernte Zürich. Es herrschten bereits 30 Grad Celsius. Es machte Spaß, mehr von der Schweizer Landschaft und den urigen Dörfli zu sehen. Die Schweizer hatten uns bereits vorgewarnt, dass es schwer werden würde, das Kinderspital zu finden. Ach, wir hatten doch ein Navi, was sollte also groß passieren. Wie naiv! Mein Navi führte uns natürlich genau durch die Züricher Altstadt. Eigentlich empfinde ich mich als sicheren Autofahrer, der auch in Großstädten überhaupt kein Problem hat. Zürich aber brachte mich an meine Grenzen. So oft wie dort bin ich noch nie aus Versehen in der Busspur/ Tramspur gelandet. Mein Navi kam in dem engen Gassengewirr nicht mehr nach. Ich sollte links abbiegen, es ging aber nur geradeaus oder rechts. Ich fing an zu schwitzen. Andi holte den Stadtplan hervor. Nachdem wir gefühlte 30 Mal im Kreis gefahren waren und jegliche Orientierung verloren hatten, erreichten wir irgendwann - einiges später als 14 Uhr - das Kinderspital. Die nächste Herausforderung war, einen entsprechenden Parkplatz zu finden. Ziemlich abgehetzt kamen wir auf der Station an. "Grüezi miteinand“, du musst Emma (nein! Vianne!) sein", wurden wir gewohnt herzlich empfangen. Wir entschuldigten unsere Verspätung. "Ach, das geht allen so, die zum ersten Mal zu uns kommen", sagte die Schwester lachend, Zürich sei verkehrstechnisch eine echte Herausforderung. Wie wahr! Wir wurden ins Wartezimmer geleitet. Was war das? Wo waren die anderen Patienten? Aus Dortmund kannten wir nur volle Wartebereiche. Bereits nach wenigen Minuten wurde Vianne gewogen und vermessen, dann kam auch schon der Arzt, horchte sie ab, schaute in ihre Pupillen, prüfte Reflexe. Wir bekamen noch einen Parkausweis ausgehändigt und eine Liste mit Notfallnummern. Dann teilten uns die Ärzte die Blutwerte mit. Hä? Wie konnte das sein? Wir hatten Viannes Blutproben vor gerade einmal 15 Minuten im Labor abgegeben. Das Blut war bereits morgens am PSI abgenommen worden, wir hatten es in einer entsprechenden Kühlbox nach Zürich gebracht. In Dortmund mussten wir mindestens drei Stunden auf das Ergebnis warten. Beeindruckend, wie gut hier alle Abteilungen Hand in Hand arbeiteten. Viannes Werte waren soweit in Odnung. Wir konnten gehen. Wir fuhren mit der Tram zum Zürichsee und unternahmen eine schöne erfrischende Bootsrundfahrt. Bei mittlerweile 34 Grad Außentemperatur machten wir uns auf den Weg zurück nach Waldshut. Wir waren alle müde, die Kinder stritten und quengelten. Natürlich verfuhren wir uns wieder. Irgendwann schrie ich Ada und Vianne an - und übersah einen Blitzer. Scheiße! In der Schweiz geblitzt zu werden ist verdammt teuer. Dann stritt ich mich auch noch mit Andi. Es war alles zuviel: die Lautstärke, das ständige Verfahren, die nörgelnden Kinder, die Anspannung... Ich warf meiner Schwester ziemlich gemeine Sachen an den Kopf. Den Rest der Fahrt schwiegen alle. Taurig und ausgebrannt kamen wir in Waldshut an. Später am Abend entschuldigte ich mich bei meiner Schwester - es kam alles wieder ins Lot. Wir alle waren in dieser ersten Woche angespannter, als wir uns eingestehen wollten. Dabei ging es Vianne wirklich gut - kein Vergleich zu der Zeit der intensiven Chemotherapie. Sie vertrug die ständigen Narkosen und war nachmittags unsagbar fit. Unser Streit hatte auch etwas Gutes. Er war befreiend und reinigend. Andi und ich haben ein sehr vertrautes Verhältnis, das auch mal einen handfesten Streit aushält. Zum Glück! Am Samstag brachten wir meine Schwester zum Zug. Wir waren traurig und vermissten sie schon jetzt. Aber am nächsten Tag sollte Micha mit den Jungs anreisen. Darauf freuten wir uns wahnsinnig! Endlich konnten wir gemeinsam Zeit verbringen. Die ständigen Trennungen während der Chemotherapiezeit waren so schwer gewesen.



Fäden ziehen



Echtzeit!  26. September 2014


Am heutigen Tag jagte ein Termin den nächsten, aber ich bin froh, dass wir diese vielen wichtigen Dinge so kurzfristig hintereinander bekommen haben. Ich bin all unseren medizinischen Experten sehr dankbar, dass sie so schnell und unbürokratisch Zeit für uns haben. Die Absprachen mit den Dortmundern erfolgten überwiegend per Email. Prof. S. hat uns fast immer umgehend Rückmeldung gegeben und Termine/ Maßnahmen in die Wege geleitet. Für uns Laien erschließt sich oftmals nicht, wie viele Fäden im Hintergrund gezogen werden. Das Engagement unserer Ärzte ist beeindruckend - zumal auch die zwischenmenschliche Ebene stimmt. Klar, wir sind nicht immer einer Meinung und führen das ein oder andere Mal erbitterte Diskussionen, aber ich glaube, jeder weiß den jeweils anderen und seine Kritik/ seine Anregung zu schätzen.
Bereits um 10 Uhr hatte ich mit Vianne in der Essener Uniklinik einen Termin zur Blutabnahme und zum Fäden ziehen - beides notwendig, aber ebenso schmerzhaft. Ada war zur Unterstützung mitgekommen. Sie ist wirklich die "große" Schwester und ich bin unglaublich stolz auf sie und ihr unverfälschtes Naturell. Bereits bei der Blutabnahme - Vianne war nicht mehr ganz so panisch wie beim letzten Mal - tätschelte sie sanft Viannes Hand und sprach mit beruhigender und zugleich ernster Stimme auf sie ein: "Es ist ganz gleich vorbei, Vianne!". Sie ist ein Engel! Dann hat sie ihr immer den Schnulli in den Mund geschoben, wenn Vianne danach geschrien hat. Ich hatte alle Hände damit zu tun, sie fest im Arm zu halten, damit der Arzt die Vene beim ersten Versuch trifft. "Vianne, ganz ruhig, schau mich an!" Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz heute gesagt habe. Aber ich erreiche sie, sie konzentriert sich auf mich, trotz all der Angst. Der Arzt hat wirklich nur einen Versuch gebraucht. Gut!!! Der erste Teil war geschafft, eine Kugel Eis hatten Ada und Vianne schon sicher. Jetzt ging es an die Fäden. "Vianne, die Hälfte ist schon raus", motivierten Ada und ich gemeinsam. Zum Glück ließen sie sich wirklich gut ziehen. Die Fäden sind raus! Danach wanderten wir zur Eingangsebene und kauften das versprochene Eis. Die Damen handelten noch zwei Kuscheltierhunde aus - hätte ich mehr Bargeld dabei gehabt, hätte ich meinen tapferen Heldinnen auch noch
die Katzen, die Eulen, die Äffchen, die Giraffen,.... gekauft. Geschafft! Sogar die Vollsperrung auf der A40 konnten wir gut umfahren. Für mich fing der Tag eigentlich gut an!
Nachmittags hatten wir dann einen Gesprächstermin mit den Dortmundern, um zu klären, wann und vor allen Dingen welche Therapien wir starten. Vianne sollte mitkommen, damit sich Dr. B. und Prof. S. ein aktuelles Bild von ihr machen konnten. Ada wollte gerne in den Kita-Schwimmkurs. Gemeinsam brachten wir sie um 14 Uhr dorthin. Vianne hielt sich tapfer. Doch als sie viele ihrer kleinen Freundinnen und Freunde im Wasser sah und auch noch die Erzieher so liebevoll auf sie zugingen, brach sie in Tränen aus. Sie liebt den Schwimmkurs, sie liebt das Wasser. Ich erklärte ihr, dass heute und morgen noch kein Wasser an ihre Wunde darf, dass sie aber bald wieder mit den anderen schwimmen dürfte. Es ist gemein! Am meisten ärgerte es sie, dass die anderen bereits Fortschritte machten, sie aber nicht weiter üben konnte. Sie ist so ehrgeizig. Das hilft ihr einerseits und spornt sie immer wieder an, aber es führt eben manchmal auch zu großem Verdruss. Ich versprach ihr, dass wir beide auch einen unterhaltsamen Tag haben würden. Auf dem Weg zur Kinderklinik holten wir Micha aus dem Büro ab. Zu Viannes großer Freude gab es im Wartezimmer eine
Playmobil-Pyramide samt Kamelen, Grabräubern und Sphinx. Micha, Vianne und ich spielten ausgiebig, bis unsere Ärzte kamen. Am Montag werden wir mit Temodal starten, einem Langzeit-Chemotherapeutikum in Tablettenform. Unsere Ärzte befürworten unseren bevorstehenden Mallorca-Urlaub (O-Ton Prof. S.: "Vianne hat sich diesen Urlaub mehr als verdient! Wir müssen Vianne bei Laune halten für die bevorstehende Therapie, sie muss mitmachen wollen", so die absolut gesunde Einschätzung der Dortmunder). Sie wollen aber auch so früh wie möglich mit der Behandlung beginnen. Wir wissen alle, wie rasch und aggressiv der letzte Tumor gewachsen ist. Uns allen wird es gut tun, vorher noch einmal durchzuatmen. Insofern haben wir grünes Licht für den Urlaub. Allerdings
wollen die Ärzte am Dienstag noch ein Kontroll-MRT des Schädels: zum einen, da Viannes Pupillen nach wie vor ungleich sind (das zeigte sich das erste Mal einige Tage nach der Operation und könnte theoretisch auf einen neuen Tumor im Köpfchen hindeuten, könnte allerdings auch nur eine Reizung des Sympathikus sein), zum anderen, um vor Beginn der medikamentösen Behandlung einen Ist-Zustand zu haben. Wäre beim nächsten MRT in acht Wochen ein Tumor sichtbar, wäre es unmöglich zu beurteilen, ob er unter Temodal gewachsen ist (was bedeuten würde, dass sie nicht auf diese Therapie anspricht) oder ob er vielleicht schon vorher vorhanden war. Wir lassen das MRT machen, aber ohne Narkose. Vianne ist bereit dazu, es wieder wach gemeinsam mit Micha durchzustehen.
Die Planungen für die cranio-spinale Bestrahlung laufen. Sie soll nach unserem Urlaub starten, zusätzlich zur Temodal-Gabe, solange Viannes Körper diese Doppelbelastung aushält. Dann haben wir noch einen "Trumpf" im Ärmel. Die Ergebnisse aus Heidelberg, aus der molekularbiologischen Untersuchung, sind da. Sie haben bei Viannes Tumor vier Signalwege entdeckt. Diese beschreiben genauer, wie der Tumor funktioniert, welche Wege er nutzt, um zu wachsen, um den natürlichen Zelltod zu umgehen, um sich an die Blutgefäße zu koppeln und mit Sauerstoff versorgt zu werden, etc... Fest steht, dass diese entdeckten Signalwege zu ihrem "ungünstigen klinischen Verlauf" beitragen. Fest steht aber
auch, dass es Medikamente gibt, die diese Signalwege blockieren. Sie sind allerdings noch in der Erprobungsphase und nur für "Einzelheilversuche" zugelassen. Diesen Einzelheilversuch wollen wir starten.
Sie bekommt wahrscheinlich ebenfalls ab Montag das Medikament Vorinostat, falls eine Apotheke gefunden wird, die es zeitnah besorgen kann. Denn in Deutschland ist dieses Mittel noch nicht zugelassen. Falls wir es also wirklich in den Urlaub schaffen, wird Vianne diese beiden Medikamente schon zu sich nehmen - auch im Ausland. Unsere Ärzte haben uns gefragt, ob wir uns das zutrauen, Vorinostat vor der Reise zu starten, weisen zugleich aber auch auf die Dringlichkeit eines frühen Therapiestarts mit "Doppelangriff-Strategie" hin. Beim Temodal müsste Vianne eigentlich erst nach unserer Rückkehr ins Zelltief (verminderte Abwehrkräfte, herabgesetzte Blutgerinnung, erniedrigter Sauerstofftransport im Blut) fallen. Wir sollten aber zur Sicherheit auf Mallorca nach einer Woche eine Blutuntersuchung machen lassen. Sie suchen gerade entsprechende deutsche Ärzte heraus (klasse, oder?!). Über die Nebenwirkungen von Vorinostat wissen wir noch weniger. Aber Mallorca sei auch nicht allzu weit entfernt, bekräftigen sie uns. Ich persönlich finde diese Einstellung gut. Natürlich habe ich Angst, dass es während unseres Auslandsaufenthaltes zu Komplikationen kommen könnte, aber Garantien gibt es nicht - diese schmerzhafte Lektion haben wir gelernt. Wir haben Vianne diesen Urlaub versprochen und wir werden alles daran setzen, zu fliegen, trotz gewisser Risiken und Unwägbarkeiten, trotz gewisser Ängste. Scheiß darauf! Wir haben es versprochen! Dieser Urlaub ist mein persönliches Ziel, mehr will ich (erst einmal) gar nicht!



Protonentherapiestart



Rückblick:  14. - 21. Juli 2013

Eine Woche vor Beginn der Sommerferien fuhren Andi und ich mit Vianne und Ada in die Schweiz. Die Bestrahlung war auf sechs bis sieben Wochen ausgerichtet - jeweils fünf Tage die Woche. Das Wochenende sollte frei sein. Micha blieb vorerst zuhause, da die Jungs noch Schule hatten. Er arbeitete die Woche etwas weniger und übernahm an manchen Tagen ab dem Nachmittag die Kinderbetreuung, ansonsten sprangen meine Eltern und Freunde ein. Einen Tag arbeitete er von Zuhause aus. So waren die Jungs nie lange allein. Und Vianne, Ada und ich hatten unsere Andi an unserer Seite.
Bereits am Sonntagvormittag brachen wir auf Richtung Waldshut. Wir hatten in Deutschland direkt an der Grenze zur Schweiz eine Ferienwohnung auf dem Martiburhof gebucht. Von dort aus dauerte die Fahrt rund 20 Minuten zum Paul-Scherrer-Institut (PSI) in Villingen/ Aargau. Die Ferienwohnungen sowie die Lebenshaltungskosten in der Schweiz waren für uns über solch einen langen Zeitraum einfach zu hoch. Wir hatten Glück mit der Wahl unserer Ferienwohnung: sie war schön hell, sauber, gut ausgestattet und geräumig, lag in einem Neubau, direkt neben dem eigentlichen Bauernhof, in dem die Vermieter wohnten. Es gab zwei drollige Ziegen, ein Trampolin im Garten, Schaukel und Rutsche, einen riesigen Kuhstall mit Kühen und niedlichen Kälbern, Blindschleichen, einen Sandkasten, in dem zwei Monster-Spinnen wohnten, zwei kleine Ponys (auf denen unsere Kinder reiten durften und die in den kommenden Wochen beinahe zu Tode gestreichelt wurden) und Frau T., eine überaus nette Vermieterin. Einmal die Woche veranstaltete sie für alle Gäste einen gemeinsamen Grillabend mit anschließendem Stockbrotbraten. Bei ihr - sie war übrigens Krankenschwester - waren schon einige Patienten untergekommen, die am PSI bestrahlt wurden. Zeitgleich mit uns wohnte eine Familie mit drei netten Kindern auf dem Hof. Der Jüngste war in Behandlung. Andi, Vianne und ich fühlten uns hier auf Anhieb wohl. Die Rahmenbedingungen waren somit schon mal gut, die Wetteraussichten versprachen strahlenden Sonnenschein und hochsommerliche Temperaturen für die kommende Woche. Abends saßen Andi und ich auf dem "Balkon" und genossen den Blick auf den Rhein und die Schweizer Berge. Bei klarer Sicht konnten wir sogar die schneebedeckten Viertausender sehen. Nur eine "Kleinigkeit" trübte diesen tollen Ausblick. Hinter dem Hügel rechts stiegen regelmäßig Wasserdampfwolken auf, zwar etliche Kilometer entfernt, aber dennoch gut sichtbar. Die Schweizer hatten kurz hinter der Grenze zu Deutschland ein mittlerweile in die Jahre gekommenes Atomkraftwerk gebaut. Irgendwie pervers: rechts und links idyllische Landschaft, grasende Kühe, ein träge fließender Rhein, hinter uns das riesige Naturschutzgebiet Schwarzwald - und in unmittelbarer Nachbarschaft ein Atomkraftwerk. Wir mussten uns erst daran gewöhnen. Aber hey, was sollte es, ab morgen würde meine Tochter mehr als 30 Tage mit Strahlen bombardiert. Da empfindet man so ein Atomkraftwerk zwar noch als befremdlich, aber nicht mehr als bedrohlich. Ab dem ersten Tag hieß der Balkon bei uns nur noch „Atombalkon". Es gab auch noch einen zweiten Balkon.
Früh am nächsten Morgen überquerten wir drei das erste Mal die Grenze zur Schweiz, den Rhein, und fuhren zum PSI. Es war ein fast schon vertrautes Wiedersehen mit den beiden Sekretärinnen. Wir spielten kurz im Spielzimmer, dann wurden wir auch schon in den Vorbereitungsraum geleitet. Vianne ging etwas zögerlich an meiner Hand mit. Als erstes bekam sie eine leere Perlenschnur überreicht. Die Anästhesistin holte ein wunderschönes Holzkästchen hervor, aus dem sie drei Perlen nahm, die Vianne auf ihre Kette auffädeln durfte. Diese Kette sollte Vianne täglich vor Augen halten, wie viel sie bereits geschafft hatte – eine Schweizer Mutperlenkette. Dann schlief Vianne wieder ganz sanft auf meinem Arm ein. Die Narkose wurde über ihren Broviak-Katheter eingeleitet. Dabei fragten die Ärzte sie, was später auf den steril umwickelten Broviak-Schenkel draufgeklebt werden solle: sie waren wirklich gut mit der Schere: mal zauberten sie auf Viannes Wunsch hin aus dem bunten Verbandsmaterial einen "Hello Kitty"- Aufkleber, mal ein Pony. Das Einhorn allerdings brachte sie kurzzeitig an ihre Grenzen. Vianne registrierte kaum, dass derweil Narkosemittel in sie floss. Ich verließ anschließend erstaunlich entspannt den Vorbereitungsraum. Eine gute Stunde sollte die Behandlung dauern. Die Bestrahlung an sich umfasst nur wenige Minuten. Zeitaufwendiger hingegen ist die Anbringung des "Beißblocks" für die millimetergenaue Lagerung. Da Vianne in leichter Seitenlage bestrahlt wurde, hatte sich Dr. G. anstelle der Helmtechnik für die Fixierung mittels Beißblock entschieden, der bereits vor zwei Wochen während der Vorbereitung angefertigt worden war. Dabei wurde - ähnlich wie beim Zahnarzt - ein Abdruck vom Gebiss genommen. Das daraus entstandene Mundstück wurde unter der Narkose eingesetzt und mit Unterdruck festgesaugt. Das Mundstück ist über einen Haltearm befestigt, so dass sich Viannes Kopf bei jeder Behandlung in exakt der gleichen Lage befindet. Zur weiteren Absicherung wird vor jeder Bestrahlung ein Lagerungs-CT durchgeführt. Stimmen die Daten mit den Daten aus der Planungsaufnahme überein, beginnt die vorsichtige Fahrt auf der ferngesteuerten Behandlungsliege hin zum Gantry (Protonenbestrahler).
Angekommen im Gantry, wird die Behandlungsliege an das Bestrahlungsgerät angekoppelt. Dann müssen alle den Raum verlassen und der "Operator" übernimmt von außerhalb. Der Boden unter der angedockten Behandlungsliege wird automatisch abgesenkt. Anschließend fährt die mehrere Tonnen schwere Maschine um Vianne herum, bis die Öffnung, aus der der eigentliche  Protonenstrahl kommt, in der richtigen Position ist. Das alles nimmt den Großteil der Zeit in Anspruch.
Andi und ich überbrückten die Zeit derweil mit einem Latte Macchiato und einem Frühstück im gegenüberliegenden Bistro. Noch vor Ablauf der Zeit kehrten wir ins Spielzimmer zurück. Schließlich holte uns die Anästhesistin in den Aufwachraum. Dort lag unsere Maus in ihrem Bett, wärmende Luft wurde unter ihre Decke gepustet. Vianne schlief sich jedes Mal richtig lange aus. Danach musste ich noch etliche Bücher vorlesen, bis sie sich bereiterklärte, aufzustehen. Andi hielt derweil Ada bei Laune. Das Schöne war, dass wir immer alle in den Aufwachraum durften, einschließlich Ada. Anschließend gingen wir mit den Kindern ins Bistro, wo Vianne tüchtig zulangte. Aufgrund der Narkose musste sie morgens immer nüchtern bleiben. Gegen 13 Uhr waren wir meistens wieder in der Ferienwohnung. Vianne war erstaunlich fit. Die Nachmittage hatten sogar etwas von Urlaub.