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26. August 2016

Abgründe

Echtzeit! 29. September 2014 

Bereits mittags habe ich Vianne darauf vorbereitet, dass sie heute Abend eine Tablette nehmen muss, damit der "freche Wicht" nicht wiederkommt. Sie sagte daraufhin nicht viel, aber dieser nachdenkliche Ausdruck in ihren Augen machte mir zu schaffen. Auch ich fühle mich bei dem Gedanken nicht wohl, dass wir wieder mit einer Chemotherapie starten. Wieder! Aber haben wir eine Wahl? Trotzdem will ich dieses Zeug nicht in ihr. Eigentlich müsste sie eine Kapsel schlucken. Sie ist zu groß. Einfach zu groß! Wir dürfen sie in Orangensaft auflösen. Zum Öffnen müssen wir Handschuhe anziehen. Ich will das Zeug nicht in ihr! Als Dr. B. heute Nachmittag anrief, fragte ich ihn nach weiteren Vorsichtsmaßnahmen. Ich sagte ihm, dass ich mir Sorgen um Vianne mache. "Muss ich sie die Nacht überwachen?" Er verneinte und beruhigte mich. Es sei nur ein leichtes Chemotherapeutikum. Schlimme Nebenwirkungen seien nicht zu erwarten. Wir ließen die Zwillinge frühzeitig zu Abend essen, da das Temodal  frühestens eine Stunde nach der letzten Mahlzeit gegeben werden darf. Micha mischte es an. Vianne saß an mich gelehnt im Bett, Ada daneben. Ich las etwas vor Hundegeschichten. Micha kam mit dem Becher. Wir erklärten ihr noch mal, dass sie den "Saft" trinken müsse. Wir waren nervös. Sie nahm den ersten Schluck. Dann die Erkenntnis. "Es schmeckt so eklig, Mama". "Schatz, es ist doch im Orangensaft aufgelöst, trink noch mal einen Schluck." Sie trank tapfer, schüttelte sich, weinte. "'Es ist so eklig, Mama, probier du doch mal." "Ich darf nicht, mein Engel." Meine Kehle schnürte sich zu. "Ich würde dir sofort alles abnehmen, aber ich kann es nicht. Bitte Schatz, nur noch einen kleinen Schluck", bettelte ich. Wieder setzte ich ihr den Becher an. Sie würgte. Sie weinte. "Es ist wichtig", flehten Micha und ich. "Der freche Wicht darf nicht wiederkommen!" Ich kam mir vor wie Harry Potter, der Dumbledore zwingen musste, die Flüssigkeit aus der Schale zu trinken, trotz großer Qualen. Bis auf den letzten Tropfen. Es ist so abartig. Michas und meine Tränen kamen gleichzeitig. Wir holten ihr Wasser zum Nachspülen. Vianne schluchzte, war außer sich. Ich konnte nicht mehr, verzweifelt bat ich sie, nur noch einen letzten großen Schluck zu machen. Von Schluchzern geschüttelt sagte sie: "Ich habe doch schon so viel ertragen...wie piksen,..." Micha und ich brachen in diesem Moment  innerlich zusammen, wir sahen es gegenseitig in unseren Augen. Es war noch immer ein Schluck im Becher. Wir versuchten noch einmal, uns zusammenzureißen, suchten nach einer Lösung. Strohhalm? Lolli zum Nachlutschen? Ada weinte, versteckte sich unter ihrer Decke. Was muten wir unseren Kindern nur zu? Ein ganz kleiner Rest blieb übrig. Ich weiß nicht, wie wir das Zeug noch viermal in sie rein kriegen sollen. Es reicht!!!! Keine Schmerzen mehr, keine Ängste mehr, keine Überwindung mehr. Wir wollen nur noch Ruhe für unseren Schatz - Lachen, Freude, Ausgelassenheit. Es reicht!!!! Es zerreißt uns, sie leiden zu sehen, ihre Angst zu sehen, ihren Widerwillen. Sie schläft jetzt - völlig erschöpft. In der Nacht hat sie mehrmals erbrochen. 
 

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