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26. August 2016

Fäden ziehen



Echtzeit!  26. September 2014


Am heutigen Tag jagte ein Termin den nächsten, aber ich bin froh, dass wir diese vielen wichtigen Dinge so kurzfristig hintereinander bekommen haben. Ich bin all unseren medizinischen Experten sehr dankbar, dass sie so schnell und unbürokratisch Zeit für uns haben. Die Absprachen mit den Dortmundern erfolgten überwiegend per Email. Prof. S. hat uns fast immer umgehend Rückmeldung gegeben und Termine/ Maßnahmen in die Wege geleitet. Für uns Laien erschließt sich oftmals nicht, wie viele Fäden im Hintergrund gezogen werden. Das Engagement unserer Ärzte ist beeindruckend - zumal auch die zwischenmenschliche Ebene stimmt. Klar, wir sind nicht immer einer Meinung und führen das ein oder andere Mal erbitterte Diskussionen, aber ich glaube, jeder weiß den jeweils anderen und seine Kritik/ seine Anregung zu schätzen.
Bereits um 10 Uhr hatte ich mit Vianne in der Essener Uniklinik einen Termin zur Blutabnahme und zum Fäden ziehen - beides notwendig, aber ebenso schmerzhaft. Ada war zur Unterstützung mitgekommen. Sie ist wirklich die "große" Schwester und ich bin unglaublich stolz auf sie und ihr unverfälschtes Naturell. Bereits bei der Blutabnahme - Vianne war nicht mehr ganz so panisch wie beim letzten Mal - tätschelte sie sanft Viannes Hand und sprach mit beruhigender und zugleich ernster Stimme auf sie ein: "Es ist ganz gleich vorbei, Vianne!". Sie ist ein Engel! Dann hat sie ihr immer den Schnulli in den Mund geschoben, wenn Vianne danach geschrien hat. Ich hatte alle Hände damit zu tun, sie fest im Arm zu halten, damit der Arzt die Vene beim ersten Versuch trifft. "Vianne, ganz ruhig, schau mich an!" Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz heute gesagt habe. Aber ich erreiche sie, sie konzentriert sich auf mich, trotz all der Angst. Der Arzt hat wirklich nur einen Versuch gebraucht. Gut!!! Der erste Teil war geschafft, eine Kugel Eis hatten Ada und Vianne schon sicher. Jetzt ging es an die Fäden. "Vianne, die Hälfte ist schon raus", motivierten Ada und ich gemeinsam. Zum Glück ließen sie sich wirklich gut ziehen. Die Fäden sind raus! Danach wanderten wir zur Eingangsebene und kauften das versprochene Eis. Die Damen handelten noch zwei Kuscheltierhunde aus - hätte ich mehr Bargeld dabei gehabt, hätte ich meinen tapferen Heldinnen auch noch
die Katzen, die Eulen, die Äffchen, die Giraffen,.... gekauft. Geschafft! Sogar die Vollsperrung auf der A40 konnten wir gut umfahren. Für mich fing der Tag eigentlich gut an!
Nachmittags hatten wir dann einen Gesprächstermin mit den Dortmundern, um zu klären, wann und vor allen Dingen welche Therapien wir starten. Vianne sollte mitkommen, damit sich Dr. B. und Prof. S. ein aktuelles Bild von ihr machen konnten. Ada wollte gerne in den Kita-Schwimmkurs. Gemeinsam brachten wir sie um 14 Uhr dorthin. Vianne hielt sich tapfer. Doch als sie viele ihrer kleinen Freundinnen und Freunde im Wasser sah und auch noch die Erzieher so liebevoll auf sie zugingen, brach sie in Tränen aus. Sie liebt den Schwimmkurs, sie liebt das Wasser. Ich erklärte ihr, dass heute und morgen noch kein Wasser an ihre Wunde darf, dass sie aber bald wieder mit den anderen schwimmen dürfte. Es ist gemein! Am meisten ärgerte es sie, dass die anderen bereits Fortschritte machten, sie aber nicht weiter üben konnte. Sie ist so ehrgeizig. Das hilft ihr einerseits und spornt sie immer wieder an, aber es führt eben manchmal auch zu großem Verdruss. Ich versprach ihr, dass wir beide auch einen unterhaltsamen Tag haben würden. Auf dem Weg zur Kinderklinik holten wir Micha aus dem Büro ab. Zu Viannes großer Freude gab es im Wartezimmer eine
Playmobil-Pyramide samt Kamelen, Grabräubern und Sphinx. Micha, Vianne und ich spielten ausgiebig, bis unsere Ärzte kamen. Am Montag werden wir mit Temodal starten, einem Langzeit-Chemotherapeutikum in Tablettenform. Unsere Ärzte befürworten unseren bevorstehenden Mallorca-Urlaub (O-Ton Prof. S.: "Vianne hat sich diesen Urlaub mehr als verdient! Wir müssen Vianne bei Laune halten für die bevorstehende Therapie, sie muss mitmachen wollen", so die absolut gesunde Einschätzung der Dortmunder). Sie wollen aber auch so früh wie möglich mit der Behandlung beginnen. Wir wissen alle, wie rasch und aggressiv der letzte Tumor gewachsen ist. Uns allen wird es gut tun, vorher noch einmal durchzuatmen. Insofern haben wir grünes Licht für den Urlaub. Allerdings
wollen die Ärzte am Dienstag noch ein Kontroll-MRT des Schädels: zum einen, da Viannes Pupillen nach wie vor ungleich sind (das zeigte sich das erste Mal einige Tage nach der Operation und könnte theoretisch auf einen neuen Tumor im Köpfchen hindeuten, könnte allerdings auch nur eine Reizung des Sympathikus sein), zum anderen, um vor Beginn der medikamentösen Behandlung einen Ist-Zustand zu haben. Wäre beim nächsten MRT in acht Wochen ein Tumor sichtbar, wäre es unmöglich zu beurteilen, ob er unter Temodal gewachsen ist (was bedeuten würde, dass sie nicht auf diese Therapie anspricht) oder ob er vielleicht schon vorher vorhanden war. Wir lassen das MRT machen, aber ohne Narkose. Vianne ist bereit dazu, es wieder wach gemeinsam mit Micha durchzustehen.
Die Planungen für die cranio-spinale Bestrahlung laufen. Sie soll nach unserem Urlaub starten, zusätzlich zur Temodal-Gabe, solange Viannes Körper diese Doppelbelastung aushält. Dann haben wir noch einen "Trumpf" im Ärmel. Die Ergebnisse aus Heidelberg, aus der molekularbiologischen Untersuchung, sind da. Sie haben bei Viannes Tumor vier Signalwege entdeckt. Diese beschreiben genauer, wie der Tumor funktioniert, welche Wege er nutzt, um zu wachsen, um den natürlichen Zelltod zu umgehen, um sich an die Blutgefäße zu koppeln und mit Sauerstoff versorgt zu werden, etc... Fest steht, dass diese entdeckten Signalwege zu ihrem "ungünstigen klinischen Verlauf" beitragen. Fest steht aber
auch, dass es Medikamente gibt, die diese Signalwege blockieren. Sie sind allerdings noch in der Erprobungsphase und nur für "Einzelheilversuche" zugelassen. Diesen Einzelheilversuch wollen wir starten.
Sie bekommt wahrscheinlich ebenfalls ab Montag das Medikament Vorinostat, falls eine Apotheke gefunden wird, die es zeitnah besorgen kann. Denn in Deutschland ist dieses Mittel noch nicht zugelassen. Falls wir es also wirklich in den Urlaub schaffen, wird Vianne diese beiden Medikamente schon zu sich nehmen - auch im Ausland. Unsere Ärzte haben uns gefragt, ob wir uns das zutrauen, Vorinostat vor der Reise zu starten, weisen zugleich aber auch auf die Dringlichkeit eines frühen Therapiestarts mit "Doppelangriff-Strategie" hin. Beim Temodal müsste Vianne eigentlich erst nach unserer Rückkehr ins Zelltief (verminderte Abwehrkräfte, herabgesetzte Blutgerinnung, erniedrigter Sauerstofftransport im Blut) fallen. Wir sollten aber zur Sicherheit auf Mallorca nach einer Woche eine Blutuntersuchung machen lassen. Sie suchen gerade entsprechende deutsche Ärzte heraus (klasse, oder?!). Über die Nebenwirkungen von Vorinostat wissen wir noch weniger. Aber Mallorca sei auch nicht allzu weit entfernt, bekräftigen sie uns. Ich persönlich finde diese Einstellung gut. Natürlich habe ich Angst, dass es während unseres Auslandsaufenthaltes zu Komplikationen kommen könnte, aber Garantien gibt es nicht - diese schmerzhafte Lektion haben wir gelernt. Wir haben Vianne diesen Urlaub versprochen und wir werden alles daran setzen, zu fliegen, trotz gewisser Risiken und Unwägbarkeiten, trotz gewisser Ängste. Scheiß darauf! Wir haben es versprochen! Dieser Urlaub ist mein persönliches Ziel, mehr will ich (erst einmal) gar nicht!



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