Rückblick: 14. - 21. Juli 2013
Eine
Woche vor Beginn der Sommerferien fuhren Andi und ich mit Vianne und Ada in die
Schweiz. Die Bestrahlung war auf sechs bis sieben Wochen ausgerichtet - jeweils
fünf Tage die Woche. Das Wochenende sollte frei sein. Micha blieb vorerst zuhause, da die Jungs noch Schule hatten. Er arbeitete die Woche etwas weniger
und übernahm an manchen Tagen ab dem Nachmittag die Kinderbetreuung, ansonsten
sprangen meine Eltern und Freunde ein. Einen Tag arbeitete er von Zuhause aus.
So waren die Jungs nie lange allein. Und Vianne, Ada und ich hatten unsere Andi
an unserer Seite.
Bereits
am Sonntagvormittag brachen wir auf Richtung Waldshut. Wir hatten in
Deutschland direkt an der Grenze zur Schweiz eine Ferienwohnung auf dem
Martiburhof gebucht. Von dort aus dauerte die Fahrt rund 20 Minuten zum
Paul-Scherrer-Institut (PSI) in Villingen/ Aargau. Die Ferienwohnungen sowie
die Lebenshaltungskosten
in der Schweiz waren für uns über solch einen langen Zeitraum einfach zu hoch. Wir
hatten Glück mit der Wahl unserer Ferienwohnung: sie war schön hell, sauber,
gut ausgestattet und geräumig, lag in einem Neubau, direkt neben dem
eigentlichen Bauernhof, in dem die Vermieter wohnten. Es gab zwei drollige
Ziegen, ein Trampolin im Garten, Schaukel und Rutsche, einen riesigen Kuhstall
mit Kühen und niedlichen Kälbern, Blindschleichen, einen Sandkasten, in dem zwei
Monster-Spinnen wohnten, zwei
kleine Ponys (auf denen unsere Kinder reiten durften und die in den kommenden
Wochen beinahe zu Tode gestreichelt wurden) und Frau T., eine überaus nette
Vermieterin. Einmal die Woche veranstaltete sie für alle Gäste einen gemeinsamen
Grillabend mit anschließendem Stockbrotbraten. Bei ihr - sie war übrigens Krankenschwester
- waren schon einige Patienten untergekommen, die am PSI bestrahlt wurden.
Zeitgleich mit uns wohnte eine Familie mit drei netten Kindern auf dem Hof. Der
Jüngste war in Behandlung. Andi, Vianne und ich fühlten uns hier auf Anhieb
wohl. Die Rahmenbedingungen waren somit schon mal gut, die Wetteraussichten
versprachen strahlenden Sonnenschein und hochsommerliche Temperaturen für die
kommende Woche. Abends saßen Andi und ich auf dem "Balkon" und
genossen den Blick auf den Rhein und die Schweizer Berge. Bei klarer Sicht
konnten wir sogar die schneebedeckten Viertausender sehen. Nur eine
"Kleinigkeit" trübte diesen tollen Ausblick. Hinter dem Hügel rechts
stiegen regelmäßig Wasserdampfwolken auf, zwar etliche Kilometer entfernt, aber
dennoch gut sichtbar. Die Schweizer hatten kurz hinter der Grenze zu Deutschland
ein mittlerweile in die Jahre gekommenes Atomkraftwerk gebaut. Irgendwie
pervers: rechts und links idyllische Landschaft, grasende Kühe, ein träge
fließender Rhein, hinter uns das riesige Naturschutzgebiet
Schwarzwald - und in unmittelbarer Nachbarschaft ein Atomkraftwerk. Wir mussten
uns erst daran gewöhnen. Aber hey, was sollte es, ab morgen würde meine Tochter
mehr als 30 Tage mit Strahlen bombardiert. Da empfindet man so ein
Atomkraftwerk zwar noch als befremdlich, aber nicht mehr als bedrohlich. Ab dem
ersten Tag hieß der Balkon bei uns nur noch „Atombalkon". Es gab auch noch
einen zweiten Balkon.
Früh
am nächsten Morgen überquerten wir drei das erste Mal die Grenze zur Schweiz,
den Rhein, und fuhren zum PSI. Es war ein fast schon vertrautes Wiedersehen mit
den beiden Sekretärinnen. Wir spielten kurz im Spielzimmer, dann wurden wir
auch schon in den Vorbereitungsraum geleitet. Vianne ging etwas zögerlich an meiner
Hand mit. Als erstes bekam sie eine leere Perlenschnur überreicht. Die
Anästhesistin holte ein wunderschönes Holzkästchen hervor, aus dem sie drei
Perlen nahm, die Vianne auf ihre Kette auffädeln durfte. Diese Kette sollte
Vianne täglich vor Augen halten, wie viel sie bereits geschafft hatte – eine Schweizer
Mutperlenkette. Dann schlief Vianne wieder ganz sanft auf meinem Arm ein. Die
Narkose wurde über ihren Broviak-Katheter eingeleitet. Dabei fragten die Ärzte
sie, was später auf den steril umwickelten Broviak-Schenkel draufgeklebt werden
solle: sie waren wirklich gut mit der Schere: mal zauberten sie auf Viannes
Wunsch hin aus dem bunten Verbandsmaterial einen "Hello Kitty"-
Aufkleber, mal ein Pony. Das Einhorn allerdings brachte sie kurzzeitig an ihre
Grenzen. Vianne registrierte kaum, dass derweil Narkosemittel in sie floss. Ich
verließ anschließend erstaunlich entspannt den Vorbereitungsraum. Eine gute Stunde
sollte die Behandlung dauern. Die Bestrahlung an sich umfasst nur wenige
Minuten. Zeitaufwendiger hingegen ist die Anbringung des "Beißblocks"
für die millimetergenaue Lagerung. Da Vianne in leichter Seitenlage bestrahlt
wurde, hatte sich Dr. G. anstelle der Helmtechnik für die Fixierung mittels
Beißblock entschieden, der bereits vor zwei Wochen während der Vorbereitung
angefertigt worden war. Dabei wurde - ähnlich wie beim Zahnarzt - ein Abdruck
vom Gebiss genommen. Das daraus entstandene Mundstück wurde unter der Narkose
eingesetzt und mit Unterdruck festgesaugt. Das Mundstück ist über einen
Haltearm befestigt, so dass sich Viannes Kopf bei jeder Behandlung in exakt der
gleichen Lage befindet. Zur weiteren Absicherung wird vor jeder Bestrahlung ein
Lagerungs-CT durchgeführt. Stimmen die Daten mit den Daten aus der
Planungsaufnahme überein, beginnt die vorsichtige Fahrt auf der ferngesteuerten
Behandlungsliege hin zum Gantry (Protonenbestrahler).
Angekommen
im Gantry, wird die Behandlungsliege an das Bestrahlungsgerät angekoppelt. Dann
müssen alle den Raum verlassen und der "Operator" übernimmt von
außerhalb. Der Boden unter der angedockten Behandlungsliege wird automatisch
abgesenkt. Anschließend fährt die mehrere Tonnen schwere Maschine um Vianne
herum, bis die Öffnung, aus der der eigentliche Protonenstrahl kommt, in der richtigen
Position ist. Das alles nimmt den Großteil der Zeit in Anspruch.
Andi
und ich überbrückten die Zeit derweil mit einem Latte Macchiato und einem
Frühstück im gegenüberliegenden Bistro. Noch vor Ablauf der Zeit kehrten wir
ins Spielzimmer zurück. Schließlich holte uns die Anästhesistin in den
Aufwachraum. Dort lag unsere Maus in ihrem Bett, wärmende Luft wurde unter ihre
Decke gepustet. Vianne schlief sich jedes Mal richtig lange aus. Danach musste
ich noch etliche Bücher vorlesen, bis sie sich bereiterklärte, aufzustehen.
Andi hielt derweil Ada bei Laune. Das Schöne war, dass wir immer alle in den
Aufwachraum durften, einschließlich Ada. Anschließend gingen wir mit den
Kindern ins Bistro, wo Vianne tüchtig zulangte. Aufgrund der Narkose musste sie
morgens immer nüchtern bleiben. Gegen 13 Uhr waren wir meistens wieder in der
Ferienwohnung. Vianne war erstaunlich fit. Die Nachmittage hatten sogar etwas
von Urlaub.
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