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30. Oktober 2016

Geklärt



Echtzeit! 5. November 2014


Ich hatte heute ein langes Gespräch mit Dr. B. - sie haben uns noch fest im Blick und es läuft viel im Hintergrund. Das ist gut! Wir waren uns einig, dass wir wieder einen festeren Rhythmus für Viannes Kontrolluntersuchungen brauchen. Aber sie wollen uns auch ein Höchstmaß an Lebensqualität gönnen, das so wenig wie möglich mit Krankenhausterminen und -aufenthalten belastet ist, gerade weil sie nicht wissen, wo Viannes Weg hinführt - auch wenn sie noch immer auf Heilung aus sind. Es war ein offenes und ehrliches Gespräch, und es tat gut. Zudem gibt es Neuigkeiten: Es wird in Erwägung gezogen, Vianne in Essen als erste Patienten kraniospinal mit Protonen zu bestrahlen. In rund zwei Wochen soll eine Entscheidung getroffen werden. Derzeit werden ihre Daten geprüft. Der Start wäre dann Anfang Dezember. Ich weiß nicht, ob es eine Chance ist? Aber ich finde es gut, dass unsere Ärzte es als Alternative zur Photonenbestrahlung erwägen, um vielleicht doch jeden Millimeter gesunden Hirngewebes zu schonen. 
Vianne war heute den ganzen Tag fieberfrei. Sie tanzte mit Ada über den Wohnzimmerteppich. Zur Sicherheit sollen morgen ihre Blutwerte untersucht werden. Ich persönlich glaube, dass sie den Infekt überwunden hat.

Unsere zuckerfreie bzw. zuckerreduzierte Ernährung entfacht äußerst raffinierte Züge und "kriminelle"  Energien bei unseren Kindern: als wir die  selbstgebackenen Bananen-Apfel-Muffins (zuckerfrei) mit etwas Lebensmittelfarbe (zuckerhaltig) verzieren wollten, ertappte ich Ada und Vianne dabei, wie sie sich in einem scheinbar unbeobachteten Moment die komplette Tube in den Mund pressten... 




Jesse versucht es eher mit der Mitleidsmasche: "Seit Taaagen ist der Kühlschrank leeeeer! Oh, Mama, jetzt kauf doch mal wieder was Vernünftiges! Ich wäre so toll, mittags mal wieder satt zu werden." Luke hat eher die hinterhältige Masche drauf: "Hmmm, die Möhren schmecken echt lecker, Mama." (Sein Gesichtsausdruck sagt etwas ganz anderes) "Ach, kannst du mir bitte, bitte eine Packung belgische Pralinen vom Einkaufen mitbringen? BITTE!"


Erklärung und Erkältung



Echtzeit!  4. November 2014


Wir haben noch immer keine Rückmeldung aus Dortmund. Wir wissen nicht, wie es weitergeht. Warten unsere Onkologen selber auf eine Antwort oder haben sie so viele andere Dinge zu tun, dass sie Vianne aus dem Blick verloren haben? Wenn wir anscheinend so viel Zeit haben, warum dann vorher so eine Hektik? Oder passiert gerade ganz viel im Hintergrund, was wir nur nicht mitbekommen? Diese Gedanken beschäftigen mich derzeit. Wir mussten allerdings in letzter Zeit so viel von uns aus in die Wege leiten, beispielsweise den nächsten MRT-Termin, dass ich schon etwas skeptisch bin. Hätten die Dortmunder selber daran gedacht, dass bald acht Wochen seit Viannes Rücken-OP vergangen sind und die nächste Bildgebung ansteht? Ich weiß es nicht. Ihnen sollte doch am ehesten bewusst sein, dass es schwer ist, kurzfristig ein MRT anzumelden. Als ich unseren Arzt auf das anstehende MRT ansprach, meinte er, ich solle es über die Sekretärin anmelden lassen. Und die hatte in der Tat ein Problem, noch einen Termin für uns zu bekommen. Auch nach der ersten Blutuntersuchung nach Temodal-Gabe hat niemand angerufen, um die Ergebnisse mitzuteilen. Letztendlich habe ich nachgefragt und mir die Werte durchgeben lassen. Mittlerweile weiß ich schon, welche Leukos, Thrombos ganz gut sind. Ich weiß letztendlich aber nicht, was sie braucht, um in die nächste Runde zu gehen. Ich habe keine Ahnung, ob überhaupt irgendjemand darauf geschaut hat. Es gab auch keine körperliche Untersuchung, kein Abhorchen, kein "In-den-Rachen-schauen". Ich weiß nicht, ob so etwas vonnöten ist, aber wir verabreichen ihr schließlich keine schnöden Nasentropfen, sondern ein Chemotherapeutikum. Was ist mit den sechswöchigen neurologischen Untersuchungen, die vor den Rezidiven regelmäßig anstanden? Gilt das für uns nun nicht mehr, weil wir nicht mehr nach der ursprünglichen Studie behandelt werden? Je mehr ich hier meine Gedanken aufschreibe und ordne, desto wütender werde ich und und desto mehr reift der Entschluss, all diese Fragen morgen mal anzusprechen.

Nun aber zur Hauptperson: Vianne geht es zum Glück nach wie vor anscheinend gut. Ada hatte sich zum Ende der Woche einen fiebrigen Infekt mit Heiserkeit und Halsschmerzen eingefangen. Gestern Abend bekam Vianne Fieber und hatte die gleichen Symptome. Richtig besorgt bin ich nicht, das Fieber ist auch schon wieder weg, aber natürlich mache ich mir bei ihr mehr Gedanken als bei den anderen Kindern. Gestern kam sie ganz stolz zu mir: "Mama, ich weiß, was Pferd auf Englisch heißt." "Na was denn?", wollte ich neugierig wissen. "Horst!", kam es triumphierend. Ich musste so laut lachen. Gestern war überhaupt ein spannender Tag: Ada und Vianne hatten ihr Schulspiel. Immer zwei Kinder gingen gemeinsam mit einer Lehrerin mit, um kleine Aufgaben zu meistern. Hand in Hand wagten sich meine Mädels zusammen vor. Sie waren so herrlich aufgeregt und voller Vorfreude. Es war schön (und traurig) zugleich. Wird Vianne überhaupt nächstes Jahr die erste Klasse besuchen können? An sich ist die Einschulung so eine wunderbare Sache - bei uns wird sie überschattet von der Angst vor Viannes Zukunft. Diese widersprüchlichen Gefühle sind so schmerzhaft. Dabei ist sie so ehrgeizig. Das ist auch der Lehrerin sofort aufgefallen. Ich bin so stolz auf meine Mädels – sie haben die Aufgaben (jede im Rahmen ihrer Möglichkeiten) gut gemeistert. Vianne hat etwas Nachholbedarf im Bereich der visumotorischen Koordination und der Raum-Lage-Erfassung, ansonsten ist sie aber fit. Diese Defizite kommen wahrscheinlich daher, dass die Feinmotorik ihrer rechten Hand etwas eingeschränkt ist und sie nun die linke Hand zum schreiben, schneiden und für weitere feinere Tätigkeiten benutzt, obwohl sie von Natur aus Rechtshänderin ist. Ich finde es erstaunlich, dass sie trotz drei schwerer Operationen, einer "Hammer"-Chemotherapie und einer Bestrahlung insgesamt so fit ist. Es ist einfach bemerkenswert, dass sie so gut mitgemacht hat, obwohl sie bereits den Infekt in sich hatte und daneben derzeit unter einer - wenn auch sanfteren - Chemo steht. Wenn jemand meinen uneingeschränkten Respekt hat, dann Vianne, diese wunderbare kleine Kämpferin. Aber ich bin auch unglaublich stolz auf Ada, Jesse und Luke, die trotz der mentalen Belastung immer wieder gute Ergebnisse erzielen.


Alternative Wege



Rückblick:  August 2014


Die Essener Professorin war mit ihrer Empfehlung zur weiteren Behandlung sehr zurückhaltend gewesen. Die Dortmunder sprachen sich hingegen ziemlich klar aus: sofortige orale Chemotherapie mit Temodal und dazu die cranio-spinale Bestrahlung. Wir fragten und hinterfragten, argumentierten, diskutierten. Micha und ich konnten der Empfehlung dieses Mal nicht folgen - für Vianne standen zu hohe Nebenwirkungen und Folgeschäden auf dem Plan, insbesondere durch die Bestrahlung. Beim ersten Mal hatten wir doppelt Glück gehabt, weil Vianne mit Protonen bestrahlt worden ist (für das umliegende Gewebe schonender als Photonen) und weil keine sensiblen Bereiche in der Strahlenbahn lagen. Bei der cranio-spinalen Bestrahlung hingegen bot sich laut herkömmlicher Meinung keine Protonentherapie an, weil das komplette Hirnwasser-System behandelt werden muss. Nach der Einnahme von Temodal war es bei einigen Patienten zu akutem Leberversagen gekommen. Andererseits konnte uns niemand versprechen, dass die angebotenen Therapien Viannes Krebszellen aufhalten. Temodal wirkt bei circa 25 Prozent der Patienten. Die Daten über die Bestrahlung gehen auseinander: Franzosen und Amerikaner versprechen sich Erfolge, die Deutschen weniger.

Es musste doch eine Alternative geben. Wir stürzten uns in die Homöopathie und lasen uns in anthroposophische Schriften ein, wir besorgten uns etliche Fachliteratur zur Ernährung und zur Visualisierung/Meditation. Wir wollten unseren eigenen Weg finden. Meine Schwester entdeckte im Netz die "Gesellschaft für biologische Krebsabwehr". Wir ließen uns diverse Schriften schicken, machten mit den dort tätigen Ärzten einen telefonischen Beratungstermin aus. Wir arbeiteten uns Tag und Nacht in die alternativen Möglichkeiten zur Krebsbekämpfung - abseits der Schulmedizin - ein. Wir setzten all unsere Hoffnung in das Beratungsgespräch mit dem Herdecker Anthroposoph und Onkologe. Er sagte uns, wir kämen um eine chemotherapeutische Behandlung nicht herum - und würde er auf sein Bauchgefühl hören, wäre das noch zu wenig. Sogar er riet zu den beiden aggressiven Therapien: Chemo und craniospinale Bestrahlung. Wir saßen nach diesem Gespräch im Auto und  heulten. Alles in uns sperrte sich gegen diese Behandlungen. Nein, wir wollten sie Vianne nicht zumuten. Es ging ihr doch gerade so gut: die Narbe war bereits blasser geworden, die Haare wuchsen. Vianne war voller Energie, besuchte wieder den Kindergarten. Wir gingen schwimmen, fuhren zum Wakeboarden an den See, trafen uns mit Freunden.


Ich wollte einen anderen Weg gehen. Zuerst änderten wir im Laufe der kommenden Woche unsere Ernährung, denn gewisse Stoffe - wie Industriezucker – stehen im Verdacht, die Entstehung/Vermehrung von Tumorzellen zu begünstigen, andere wiederum schützen unseren Organismus davor. Gemeinsam mit den Kindern beschlossen wir, gewisse Lebensmittel zu verbannen, untersuchten gemeinsam, wo und in welchen Mengen Zucker und andere schädliche Zusatzstoffe vorhanden sind - und waren erschrocken. Wir begannen, Brot selber zu backen. Die nächste Zeit war ich hauptsächlich mit Einkauf und Essenszubereitung beschäftigt. Ich meldete Ada und Vianne vom Kindergartenessen ab, erläuterte den Erzieherinnen unsere neue Ernährungsweise und bat sie, darauf Rücksicht zu nehmen. Auch hier unterstützten sie uns wieder vorbehaltlos. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten (und Murren) gewöhnten sich alle Familienmitglieder an die neue Situation. Es klappte erstaunlich gut. Aber wir machten auch Ausnahmen, zum Beispiel, wenn die Kinder auf einem Kindergeburtstag eingeladen waren. Fast jeden Abend führte ich mit Vianne im Bett eine Visualisierung durch. Wir stellten uns vor, wie das Sternenlicht ihr Köpfchen durchdringt und seine wohltuende Wirkung entfaltet, alle Hirnzellen gesund hält,

sie stark und kräftig macht. Die Sternenlichter planschen im "Hirnwassersee", spielen in den entlegensten Hirnschlingen und -furchen verstecken oder lassen sich im "Hirnwasserfluss" außen an der Schädeldecke entlang treiben. Überall trafen sie auf gesunde Zellen, die in ihrem heilenden Licht schimmerten. Leider vergaßen wir die Wirbelsäule...

Ich glaubte so sehr an "unseren" Heilungsweg, Micha allerdings war nicht so sehr davon überzeugt, trug es aber erst einmal mit. Wir einigten uns, zumindest das nächste MRT abzuwarten, um dann den weiteren Weg erneut zu überdenken. Es gab so viele Spontanheilungen, die sich die Schulmediziner nicht erklären konnten. Warum sollte Vianne nicht auch ihre Selbstheilungskräfte entfalten können? Ich bin nicht im herkömmlichen Sinne gläubig. Aber ich glaube an gewisse Kräfte im Universum, in den uns umgebenden Elementen, an ein gewisses Zusammenspiel, das sich nicht erklären lässt.

Der zweite Rückfall kam rund acht Wochen später, am 9. September 2014. An der Wirbelsäule. Am Rückenmark. Nicht nur der Rückfall an sich nahm mich mit, sondern auch das Gefühl, versagt zu haben.


Hier schließt sich nun der Kreis, ihr treuen Leser. Dieses war der letzte fehlende "Rückblick": Vergangenheit und Echtzeit haben zueinander gefunden - auch wenn die meisten "Echtzeit-Einträge" nun auch schon wieder der Vergangenheit angehören . Welch faszinierende Sache diese Zeit doch ist... Ich gönne mir nun

eine Auszeit - bis zur nächsten Echtzeit!




Verwirrt



Echtzeit!  2. November 2014

Ich komme gerade von einer Party. Ich habe getanzt, gefeiert, gelacht, genossen. Ehrlicher wie heute Abend werden meine Blog-Einträge nicht. Ich hatte Spaß - richtig Spaß, aber zwischendurch habe ich mir Viannes Fotos auf meinem Handy angeguckt. Egal was ich mache, egal wo ich bin - ich bin in Gedanken bei meiner Tochter, weil diese Liebe zu ihr so tief geht, dass ich immer an sie denken muss. Ich bin nicht immer traurig, wenn ich an sie denke. Mal zaubern Gedanken an sie ein Schmunzeln in mein Gesicht, mal stöhne ich genervt auf. Ich möchte sie nicht verlieren, weil sie bezaubernd ist, weil sie Vianne ist. Luke hat heute um sie geweint. Er ist zu weit für sein Alter. Er weiß zu sehr um die Gefahr, in der sie schwebt. Ich habe ihn ganz fest in die Arme genommen, ihn gedrückt und getröstet. Ich kann ihm die Zuversicht schenken, die ich selbst zu oft nicht spüre. Ich bin verwirrt. Trotz allen Widrigkeiten liebe ich das Leben. Wie gern würde ich Vianne ein erfülltes Leben schenken - aber es liegt nicht in meiner Macht.

Cuxhaven - Kopf freipusten



Rückblick: 25. Juli - 2. August 2014


Vor genau einem Jahr waren wir in der Schweiz, mitten in der erfolgversprechenden Protonentherapie. Daran musste ich denken, als wir Richtung Nordsee aufbrachen. Aber wir wollten gar nicht so viel nachdenken. Die Woche in Cuxhaven sollte dazu dienen, kurz abzuschalten. Wir wollten uns am Meer den Kopf kräftig freipusten lassen. Diesen Luxus wollten wir uns allen gönnen. Erstaunlicherweise klappte es - das Meer hat immer wieder diese beruhigende, reinigende Wirkung auf uns. Wir wanderten durch das Watt, die Kinder suhlten sich im Schlick oder badeten im Meer, wenn es da war. Wir unternahmen schöne Fahrradtouren, fuhren mitten durch Kühe und Schafe, beobachteten die riesigen Containerschiffe, futterten Fisch und Meeresfrüchte, besuchten eine Reptilienschau, spielten Adventure-Golf und ließen uns von diversen Kleinkünstlern in den Bann ziehen. 







Auf unserer Heimreise machten wir einen Abstecher nach Spiekeoog - wir erwischten gerade eben noch die letzte Fähre, um einen wunderbaren Nachmittag auf der Insel zu verbringen. Natürlich mussten wir wieder einen kleinen Spurt einlegen, bevor die Heckklappe hochgezogen wurde. Manche Dinge ändern sich nie im Leben. Wir erlebten zum Abschluss nochmals einen wunderschönen Sonnentag. Vianne, Luke und Ada meinten einstimmig: "Endlich mal wieder im 'richtigen' Meer baden!" Die Wellen waren toll...

Wir weigerten uns bis zur letzten Urlaubsminute, weiter in die Zukunft zu blicken.... Auch wenn wir gerne wollten - weglaufen ging nicht. Zuhause angekommen nahmen wir Kontakt zu den Dortmundern auf, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Sie waren etwas "angesäuert", weil sie seit der Operation nichts mehr von uns gehört hatten. Aber das spricht ja auch für sie. Wir hatten sie in der ganzen Aufregung schlichtweg vergessen.

Lokalrezidiv versus Metastase



Rückblick:  15. bis 22. Juli 2014


Auch von dieser zweiten mehrstündigen Hirn-Operation erholte sich Vianne erstaunlich schnell. Am ersten Tag schlief sie noch sehr viel. Von den hohen Cortison-Gaben und dem Narkosemittel war sie so verschwitzt, dass wir sie mehrmals täglich umziehen mussten. 





Sie hatte erstaunlicherweise keine Kopfschmerzen - sagte sie zumindest. Deshalb setzten die Ärzte das Schmerzmittel zügig ab. Das postoperative MRT, das sie übrigens wieder ohne Narkose schaffte, bestätigte Prof. S. erste Einschätzung: wieder einmal konnte der Tumor komplett entfernt werden. Wir schnauften abermals durch.

Bereits zwei Tage nach dem Eingriff war Vianne schon wieder auf den Beinen: "Ich will ins Spielzimmer!". Auf wackligen Beinchen machte sie sich an meiner Hand auf den Weg über den Flur. Die Schwestern schauten uns mit großen Augen hinterher. Ich hielt sie ganz fest, weil ich Angst hatte, dass sie hinfällt. Wir spielten wieder intensiv mit den beiden Handpuppen - dem Kasper und der Prinzessin. Später am Nachmittag kam Andi mit den übrigen Kindern vorbei. Minutenlang lagen sich Ada und Vianne in den Armen, schmusten und genossen sich gegenseitig. Auch wenn sie sich manchmal fast die Augen auskratzen, vermissen sie sich in Trennungsphasen schrecklich. Vianne blühte sichtlich auf. Ada kuschelte sich neben sie ins Bett. Luke war fürsorglich wie immer und Jesse musste man hoch anrechnen, dass er mitgekommen war - er hasste Krankenhäuser. Ich konnte sehen, wie sehr er sich zusammenriss. Ich war stolz auf ihn. Wir hielten den Besuch kurz, um Vianne zu schonen, denn nach diesem langen aktionsreichen Tag wirkte sie wieder müde.

Micha und ich wechselten uns bei der Betreuung ab. Es tat gut, zwischendurch nach Hause zu kommen. Oma und Opa besuchten uns am Donnerstag. Vianne wollte raus - in die Sonne. Wir nahmen einen "Fahrstuhl" mit - Vianne meinte damit den Rollstuhl. Sie fand es klasse, geschoben zu werden. Ich musste immer mit ihr Slalom um die Poller fahren. Sie kicherte ausgelassen. Auf dem Klinik-Spielplatz angekommen, sollte ich sie auf die Schaukel heben. Ich schaute sie völlig perplex an. Schaukeln? Vier Tage nach der Operation? Ich sagte ihr, das sei wegen der Wunde am Kopf zu gefährlich, sie dürfe nicht darauf fallen. Vianne schmollte, bettelte. Ich gab nach und hob sie vorsichtig auf den Sitz. Ganz sanft gab ich ihr Anschwung, wobei ich gefühlte 10.000 Mal sagte, sie solle sich gut festhalten. "Höher", rief sie ungeduldig. "Mach endlich höher!" Nachdem sie noch eine Rutsche erklommen und sich von Opa im Dreh-Kreisel um die eigene Achse hatte wirbeln lassen, erlöste sie uns gnädigerweise und verließ wohl gelaunt den Spielplatz. Wir waren nass geschwitzt. Sie war glücklich und verspeiste genüsslich ein Eis. 

Tagtäglich ging es ihr besser. Wir unternahmen ausgedehnte Ausflüge mit dem "Fahrstuhl" und entfernten uns vom Klinikgelände. Ein paar Stunden verbrachten wir im Grugapark im Bällebad, im Tropen- und im Waldhaus. Auf der Station hatte ich meine Handy-Nummer hinterlegt. Die Visite fand sowieso meistens am Nachmittag statt. Besonders gerührt war ich von dem Besuch von Viannes Kindergärtnerinnen. Essen liegt nicht mal "eben um die Ecke". Trotzdem kamen sie vorbei, im Gepäck ein selbstgestaltetes Grußbuch mit einem Foto von den Kindergartenkindern und weiteren niedlichen Geschenken. Vianne hat sich riesig darüber gefreut. Sie brachte ein Stück Normalität in die Klinikwelt. DANKE!

Auf uns wirkte Vianne nach der Operation wie befreit. Sie bewegte sich "runder", benutzte von sich aus vermehrt die rechte Hand und erlernte auf einmal neue Bewegungsmuster. So konnte sie sich plötzlich selber Anschwung geben beim Schaukeln. Irgendwie schien es, als hätte sie dieser Tumor behindert, als hätte ihr Körper die ganze Zeit gemerkt: da ist noch etwas...

Auszug aus dem Arztbrief: "Emma Vianne hat die Operation gut überstanden und konnte zügig unter krankengymnastischer Anleitung mobilisiert werden. Sie war im weiteren Verlauf ohne neues neurologisches Defizit mobil, verspielt und vergnügt."

Am Morgen des 22. Juli durften wir die Uniklinik verlassen. Am Abend zuvor kam die Expertin für Rezidive zu mir, um das weitere Vorgehen zu skizzieren. Ruhig und zugleich sehr professionell teilte sie mir auf etwas verschlungenen Pfaden mit, dass es verdammt übel um Vianne steht - sie wählte natürlich andere Worte. Nach einem Lokalrezidiv (der Tumor kommt an derselben Stelle wieder) sinken die Chancen schon beträchtlich, beim Auftreten einer oder mehrerer Metastase(n) fallen sie noch tiefer. Viannes Rückfall wurde als metastasiertes Rezidiv eingeordnet, da es zu weit vom Primärtumor entfernt lag. Die Tumorzellen hatten sich über das Hirnwasser ausgesät: 10 Prozent Überlebenschancen geisterten durch den Raum, wabberten haltlos in der Luft, verflüchtigten sich, um Platz zu machen für eine schwarze Wand von Therapieangeboten mit verheerenden Folgen. Ich war wie betäubt. Viannchen ging es doch gerade so gut, sie erholte sich doch so rasch, wie konnte sie andererseits todkrank sein. Das passte nicht übereinander. Der Nebel wurde immer undurchdringlicher und nahm mir die Luft. Prof. F. zeichnete mehrere mögliche Wege auf: nicht behandeln und abwarten, eine orale Chemotherapie, eine cranio-spinale Bestrahlung oder eine Kombination aus beiden Therapien. Vianne malte konzentriert. Ich glaube, sie wollte sich unsichtbar machen, sich raushalten. Sie plapperte nicht ein einziges Mal dazwischen. Sie wusste genau, dass es ernst war. Später, als sie schlief, rief ich Micha an, Tränen liefen meine Wangen hinab, ohne dass ein Laut aus meinem Mund drang. Es waren große, stille Tränen. Mir war so übel. Mir war so übel wie damals in Kiel, als wir die Diagnose Hirntumor erhielten. Welch große Chance Vianne da noch hatte - im Vergleich zu unserer jetzigen Situation. Die Chance auf Heilung, die Chance auf ein relativ normales Leben. Ich trank wieder einen Kamillentee. Die Nacht war schrecklich. Ich telefonierte mit Andi. Sie kam am nächsten Morgen in die Klinik und passte auf Vianne auf, während Micha und ich noch ein weiteres Gespräch mit der Expertin führten. Sie sagte einen Satz, der mir wieder etwas hoch half: Es gebe diese Prozentzahlen, andererseits habe sie keine fünf Kinder wie Vianne gehabt (Lage des Primärtumors plus singuläre Metastase ohne Nachweis von Tumorzellen im Liquor, zweimalige komplette Resektion,...). "Bei bestimmten Erkrankungen versuche ich, die Eltern von einer bestimmten Therapie zu überzeugen, von der ich weiß, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Heilung führen wird. Das kann ich hier aber nicht", ergänzte sie. Micha und ich zeigten zum Glück eine ähnliche Reaktion auf das Angebot der cranio-spinalen Bestrahlung: "Auf gar keinen Fall!"

Dienstag wurden wir entlassen, Donnerstag wurden Viannes Fäden gezogen, Freitag fuhren wir nach Cuxhaven. Ursprünglich (vor Viannes Rückfall) hatten wir bereits am Wochenende zuvor in den Urlaub fahren wollen. Der "Elterntreff für tumor- und leukämiekranke Kinder Dortmund", wo wir seit Viannes Erkrankung Mitglied sind, hatte uns eine schön gelegene Ferienwohnung unmittelbar hinter dem Deich angeboten. Jetzt hatten wir zumindest noch eine gute Woche am Meer vor uns. Da nach der Rezidivdiagnose unsere Urlaubsplanung auf wackligen Füßen stand, hatte Jesse von lieben Freunden das Angebot bekommen, mit ihnen eine Woche am Gardasee mit Surfen und Mountainbike-Tour zu verbringen. Er nahm hocherfreut an, erkundigte sich zuvor jedoch etliche Male bei uns, ob es okay für uns sei. In Cuxhaven hätte sich unser Großer sicherlich sowieso gelangweilt... Ich freute mich für ihn. Er hatte sich diesen tollen Italien-Urlaub mehr als verdient. Eigentlich hatten Micha und ich mit ihm - ohne seine jüngeren Geschwister - zum Ferienbeginn ein Wochenende in Berlin verbringen wollen. Aber dann kam Viannes OP dazwischen. Jesse verzichtete ohne zu Murren, ohne sich selbst zu bemitleiden. Ich ziehe meinen Hut vor ihm...

Photonen, Pinzette, Pille, Prinzessinnenparty



Echtzeit!  30. Oktober 2014


Wir sind noch immer in Wartestellung bezüglich der Bestrahlung. Die  Düsseldorfer haben nun eine erste Zusage gegeben, zumindest für eine partielle Bestrahlung. Aber sie prüfen noch. Ich habe das Gefühl, dass alle wieder etwas zurückrudern, weil eine umfassende cranio-spinale Bestrahlung wahrscheinlich zu starke Folgeschäden verursachen würde. Es soll nun anscheinend versucht werden, vorrangig die Bereiche, in denen die Rezidive aufgetaucht sind, zu bestrahlen und die weiteren Hirnwasserwege soweit wie möglich einzubeziehen, ohne dass man das primäre Tumorgebiet trifft. Eine Region, die schon einmal bestrahlt worden ist, darf in der Regel nicht noch einmal bestrahlt werden. Die Dortmunder Radiologen wollen es nach wir vor nicht machen, "es müsste auf breiteren Schultern getragen werden". Im Klartext heißt das: Wir haben Angst vor möglichen rechtlichen Schritten. Die "breiteren Schultern" wären die Unikliniken. Ich kann diese Entscheidung sogar nachvollziehen. Aber ich habe auch immer Dr. Bs Worte in den Ohren. "Sie (Anm.:die Radiologen) machen sich Sorgen, dass Vianne taub werden könnte, aber wenn sie stirbt, kann sie auch nichts mehr hören." Bin ich innerlich schon so abgehärtet? Natürlich sind diese Worte makaber, aber sie lösen bei mir keinen Heulkrampf mehr aus. In solchen Momenten habe ich das Gefühl, wir unterhalten uns über irgendein Kind, nicht über meine Tochter. Auch die Protonenbestrahlung in Essen (nicht die herkömmliche Bestrahlung mit Photonen, da sind momentan ja keine Kapazitäten vorhanden) ist wieder im Gespräch. Unsere Ärzte wollen deswegen noch abwarten, bevor sie den Düsseldorfern zusagen.

Der Faden, der in Viannes Rücken vergessen wurde, hat sich am Wochenende natürlich prompt entzündet - zum Glück war die Stelle nur gerötet und leicht vereitert. Weil sie derzeit wieder die orale Chemotherapie bekommt, war uns die Sache zu heikel. Die Dortmunder haben den Faden - unter allergrößtem Protestgebrüll - am Dienstag mit einer Pinzette entfernt. Zum Glück waren die Klinik-Clowns wieder auf Station. Sie zauberten letztendlich die Tränen hinfort und ein Lächeln in Viannes Gesicht. Das wurde noch breiter, als sie von den beiden eine Häkelmaus geschenkt bekam. Anschließend hat sie zusammen mit K. eine weitere Gipsmaske erstellt. Aus dem ersten Abdruck hat sie einen wunderschönen "Glitzer-Bambi" einschließlich Geweih und hellen Tupfen gestaltet.

Die Temodal-Gaben (Chemo) klappen jetzt gut. Die Einnahme ist kein Problem mehr. Vianne wirkt fit und agil. Vier Pillen hat sie schon geschafft, morgen folgt die fünfte, die letzte Gabe. Dann haben wir wieder zwei Wochen Pause, bevor es weitergeht - sofern ihr Körper mitspielt. Wir haben den 2. Therapiezyklus zu spät gestartet - es lag nicht an uns. Wir hatten eine verkehrte Rückmeldung. Solche Dinge bringen uns nicht mehr aus der Fassung. Es ist auch nicht weiter schlimm. Ich glaube nicht, dass deswegen ein neues Rezidiv entsteht. Wenn es kommt, kommt es eh. Schlimmer wäre es gewesen, wenn wir zu früh weitergemacht und sie sozusagen eine Überdosierung bekommen hätte. Wir geben nicht auf - das ist es nicht - aber wir sind demütiger geworden. Zu oft haben wir gemerkt, dass wir es nicht in der Hand haben, wie diese Erkrankung verläuft, auch wenn wir nach bestem Wissen (und Gewissen) Entscheidungen getroffen haben.

Heute war ein toller Tag! Lilli hatte extra für Ada und Vianne eine nachträgliche Prinzessinnen-Party "geschmissen" - so liebenswert. Zu ihrer eigentlichen Geburtstagsparty konnten Ada und Vianne nicht kommen, da Vianne gerade am Rückenmark operiert worden war. Rosa war heute die dominierende Farbe. Neben Tanz und Topfschlagen haben sich die Mädels mit Begeisterung ihre Nägel lackiert - natürlich in - naaaa? - ROSA. Danke K., danke Lilli für diesen wunderschönen zuckersüßen Tag....

Intensivstation – so blass



Rückblick: 14. Juli 2014


Sie war so blass, so unglaublich ungesund blass. Das war das Erste, was mir auffiel. Sie hatte unter der Operation eine Bluttransfusion benötigt. Sie hatte einen Schlauch in der Nase - falls sie erbrechen sollte, konnten sie leichter absaugen. Sie hatte einen Blasen-Katheter. Sie hatte einen Schlauch im Kopf. Die Ärzte wollten ihn vorerst dort belassen, damit Wundwasser abfließen kann. Sie bekam hoch dosiert Kortison, um eine mögliche Hirnschwellung zu vermeiden. Aber sie lebte! Sie hatte keine Schäden von der Operation davongetragen! Und der Tumor war draußen, komplett. Wieder einmal hatten wir Glück gehabt. Bei vielen Kindern mit Ependymom kann der Tumor schon beim ersten Mal nicht komplett entfernt werden. Meistens tritt er im 4. Ventrikel auf und verwächst mit dem Hirnstamm, welcher für solch lebenswichtige Funktionen wie die Atmung verantwortlich ist.

Vianne schien keine großen Schmerzen zu haben. Aber sie hatte Durst und forderte etwas zu trinken. Wir mussten warten. Der Intensivmediziner hatte uns vorgewarnt, dass es von dem Narkosemittel häufig zu Erbrechen kommen würde. Das kannten wir aus Kiel nicht. Wir nahmen es nicht ernst. Vianne durfte allerdings ein blaues Wassereis lutschen, weil ihr Mund von der Beatmung so trocken war. Sie hatte davon eine blau gefärbte Zunge. Irgendwann gaben wir nach und sie trank ein Glas Wasser. Kurz darauf erbrach sie sich schrecklich. In der Nacht überredete sie den Pfleger, den Blasenkatheter zu ziehen - meine kleine Kämpferin. Sie kuschelte mit ihrem Äffchen, dass sie sich so sehr gewünscht hatte. Ada hatte das gleiche bekommen. Gegen 4 Uhr in der Nacht löste mich Micha ab. Ich schlich auf die Station und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf bis zum nächsten Morgen. Vianne durfte die Intensivstation verlassen. Zuvor waren ihre Kaliumwerte noch etwas erniedrigt gewesen (es hätte zu Herzrhythmusstörungen kommen können), aber auch die hatten sich im Laufe des Morgens normalisiert. Zurück im Krankenhauszimmer machte sich erst einmal Erleichterung breit. Wir hatten es wieder einmal geschafft. Sie hatte es wieder einmal geschafft.

Erneute Hirn-OP



Rückblick:  14. Juli 2014


Für diesen Tag war die Operation angesetzt. Doch bis dahin warfen wir uns - voller Angst vor der Zukunft - voll ins Leben und unternahmen mit Vianne ganz viele, viele schöne Dinge! Jeder Tag sollte ein Highlight für sie sein. Wir fuhren in den Zoo, gingen reiten und "Motorrad fahren", wir verputzten Unmengen Eis, wir versammelten unsere Familie um uns, wir besuchten eine Indoor-Spielhalle.

Für Montag war die Operation angesetzt, den Freitag zuvor fanden Vorgespräche/OP-Aufklärung statt. Der Neurochirurg führte sogar ein kindgerechtes Gespräch mit Vianne. Sie hörte ihm vertrauensvoll zu. Er war begeistert von ihren tollen Locken und versprach ihr, nur gaaaanz wenige Haare für die anstehende Operation zu entfernen. Netterweise durften wir für das Wochenende noch einmal nach Hause. Andi und Ralf übernahmen wieder die Betreuung der übrigen Kinder für die ersten drei Krankenhaus-Tage, so dass Micha und ich gemeinsam bei Vianne bleiben konnten.

Unaufhaltsam nahte der OP-Tag. Am Montagmorgen sollte es ganz früh losgehen. Sonntagabend reisten wir an. Wir schauten gemeinsam das WM-Finalspiel. Deutschland gewann. Wir waren in unserer eigenen Welt. Andi hatte mehrere Überraschungen für Vianne mitgegeben. Jeden Tag durfte sie ein Päckchen öffnen – das erste am Tag vor der OP. Sie freute sich so sehr: Das erste Geschenk war ein echtes Hufeisen von Andis Pferd Winni.

Es darf immer nur eine Betreuungsperson pro Kind aufgenommen werden. Und wir hatten kein Einzelzimmer. Aber Micha und ich wollten uns nicht trennen vor der Operation. Die Stationsschwestern waren wirklich süß und ermöglichten uns, zusammen zu bleiben. Micha durfte die erste Nacht im Spielzimmer auf einem Klappbett verbringen. Danach kam er in einem Haus für Angehörige in  Kliniknähe unter, dass vom Elternverein für krebskranke Kinder in Essen getragen wird. Immer mehr weiß ich diese Vereine zu schätzen!

Die Operation dauerte mehrere Stunden. Wir vergingen vor Angst, vor Ungewissheit. Dann kam der erlösende Anruf von Prof. S.: OP gelungen, Tumor komplett entfernt, keine Komplikationen. Es dauerte noch weitere drei! Stunden, bis wir zu unserer Tochter durften, da sie erst extubiert werden sollte, sobald sie aufwachte. Sie schlief lange. Mir war es egal, ob sie intubiert oder extubiert war - den Ärzten aber nicht. Sie kannten uns halt nicht. Irgendwann meinte ich, es sei mir scheißegal, ob sie noch beatmet werden würde, ich würde jetzt, genau jetzt, zu ihr wollen! In diesem Moment kam der Anruf aus der Intensivstation. Vianne sei wach und extubiert und wir sollten kommen. Wir rannten. 

Wer operiert?



Rückblick:  Anfang Juli 2014

Der neue Hirntumor musste raus. Zum Glück war er gut operabel. Er lag im linken Seitenventrikel. Das ist ein Hohlraum, in dem das Hirnwasser (Liquor) produziert wird. Das Hirnwasser fließt durch die beiden Seitenventrikel und den 3. und 4. Ventrikel, umspült den Kopf und fließt den Rückenmarkskanal entlang. Die jetzige Tumorlage war operationstechnisch insofern günstig, da sich im Seitenventrikel keine Hirnmasse befindet, die geschädigt werden kann. Nur der Weg dorthin war schwierig, weil der Seitenventrikel tief im Kopf liegt. Unsere behandelnden Ärzte hatten uns ein Zeitfenster gegeben, in dem wir entscheiden sollten, wo und von wem wir operieren lassen wollen. Unser Herz hing an Prof. N., der Vianne in Kiel operiert hatte. Leider war er dort nicht mehr tätig, er hatte erst wenige Tage zuvor, zum 1. Juli (während unseres Schreckens-MRT) seine neue Stelle an einer Privatklinik in Hannover angetreten. Seit unserer ersten Begegnung 2012 standen wir regelmäßig in Kontakt, und Prof. N. hatte uns schon im Frühjahr informiert, dass er in Kiel aufhören würde. Wir nahmen trotzdem Kontakt zu ihm auf. Es tat gut, ihn zu hören, er hatte noch immer diese beruhigende Wirkung auf uns. Er nahm sich viel Zeit für uns (trotz seines
Arbeitsplatzwechsels), wir führten etliche Telefonate. Er stellte uns in Aussicht, Vianne erneut zu operieren. Zuvor hatte er mit seinem neuen Arbeitgeber alle Formalitäten abgeklärt und "grünes Licht" für die Operation bekommen. Was für ein feiner Mensch: auch für den Fall, dass Vianne nicht privat versichert wäre (er wusste es nicht mehr genau), hatte er mit seinem Chef besprochen, sie trotzdem operieren zu dürfen. Er verwies aber auch die Vorteile einer heimatnahen OP an. Damals in Kiel hatte er als Option Prof. S. an der Essener Uniklinik erwähnt. Ich fand die Anregung, heimatnah operieren zu lassen, gut, allein schon wegen der Logistik. Ich treffe zwar viele Entscheidungen mit dem Herzen, ich habe aber auch eine pragmatische Seite. Mein Herz schlug zwar für eine von Prof. N. durchgeführte OP, mein Verstand sagte jedoch, dass wir Prof. S. als Alternative in Betracht ziehen sollten, zumal in Essen auch die Expertin für Rezidive bei Ependymomen (Studienleitung) sitzt. Mit der OP allein war es ja leider nicht getan, wir mussten schließlich auch die weiterführende onkologische Beratung und Betreuung im Blick behalten. Die Dortmunder hatten zudem noch den Kontakt zu ihrem Neurochirurgen hergestellt. Dieser hatte vor kurzem den kleinen Jungen aus unserer Umgebung operiert, der ebenfalls ein Ependymom hat. Seine Eltern waren sehr zufrieden gewesen. Wir hatten also drei Optionen. Mit dem Dortmunder Neurochirurgen sprachen wir am 4. Juli. Aber er hat weder Micha noch mich überzeugen können. Am 7. Juli hatten wir ein Gespräch mit Prof. S. in Essen. Er hinterließ einen wirklich kompetenten und selbstbewussten Eindruck, und der menschliche Faktor kam trotz allem nicht zu kurz. Er erklärte sehr bildlich und präzise und scheute sich auch nicht, an Michas Kopf zu demonstrieren, welchen Zugang er wählen würde und warum. Er beherrscht den "interhemisphärischen transcallosalen Zugang". Dabei nutzt er den natürlichen Spalt zwischen rechter und linker Hirnhälfte, wobei er anschließend den "Balken" (zuständig für den Austausch/ der Kommunikation zwischen rechter und linker Hirnhälfte) durchstoßen muss, um in den linken Seitenventrikel vorzudringen. Dabei wollte er von der gegenüberliegenden (der rechten) Seite vorgehen, um einen besseren Zugangswinkel zu haben. Der interhemisphärische Zugang hat den Vorteil, dass der Operateur nicht durch gesundes Hirngewebe muss. Allerdings läuft die Hauptarterie, zuständig für die Blutversorgung des Hirns, durch diesen natürlichen Spalt zwischen den Hirnhälften. Wird diese geschädigt, kann das einen Schlaganfall auslösen – mit verheerenden Folgen. Prof. N. und auch der Dortmunder Neurochirurg hätten den Weg durch den Frontallappen (durch den Stirnbereich) genommen, um zum linken Seitenventrikel vorzudringen. Im Frontallappen liegen allerdings viele Persönlichkeitsmerkmale des Menschen. Wir vertrauten Prof. N. und waren irritiert, warum er einen anderen Weg wählte als sein Essener Kollege. Er erklärte uns, dass beide Wege gut wären und im Normalfall zu keiner Schädigung führen würden, wenn man behutsam vorging. Er beteuerte, dass Prof. S. den interhemisphärisch transcallosalen Zugang sehr gut beherrschen würde. Auch uns erschien dieser Weg - rein von der Logik her - sinnvoller. Auch stimmten die Rahmenbedingungen in Essen: der Chirurg konnte zeitnah operieren (der neue Tumor war in drei Monaten - oder weniger - 1,5 Zentimeter gewachsen), die Intensivstation war im selben Gebäude, sie konnten gewährleisten, dass eine Gewebeprobe entsprechend präpariert zum Deutschen Krebsforschungszentrum nach Heidelberg geht, wo sie molekularbiologisch untersucht werden sollte, um mehr Detailinfos bezüglich möglicher Tumor-Signalwege zu erhalten, die später eventuell im Rahmen einer individuelleren Therapie unterbrochen werden können.
Wir hatten uns gerade schweren Herzens zu einer Entscheidung für Essen durchgerungen, da rief Prof. N. an und meinte, er hätte sich mit seiner Frau besprochen (die ihm die Situation aus Sicht einer Mutter nahegelegt habe). Sie meinte, sie würde einen Arzt, zu dem sie einmal vertrauen gefasst habe, trotz ungünstiger Rahmenbedingungen (weite Anfahrt, Logistik) immer vorziehen. Aber wir dürften auch nicht vergessen, dass es mit der Operation allein nicht getan wäre. Oh Hilfe, was sollten wir nur tun? Ich wollte Prof. N. nicht absagen. Er genoss wahrlich mein vollstes Vertrauen. Ich war so dermaßen überfordert. Er meinte noch am Telefon, dass es dieses Mal so gemein wäre, eine Entscheidung zu treffen. Damals hatten wir nicht so viel Zeit zum Nachdenken, da eine Verlegung zu gefährlich gewesen wäre. Er wüsste auch, dass wir uns nicht gegen ihn, sondern für eine gut machbare Durchführung entscheiden würden, auch im Hinblick auf die Geschwisterkinder. Was für ein feiner Mensch. Am nächsten Tag sagten wir ihm ab - ich kam mir wie eine Verräterin vor. Er genießt für alle Zeiten unsere Anerkennung als hervorragender Neurochirurg - und als Mensch!

Spinales MRT



Rückblick: 2. Juli 2014


Vianne war großartig. Sie hatte keine Einwände gegen ein weiteres MRT, eine weitere Narkose. Sie wirkte mental am Stabilsten von uns allen. Wir hatten ihr erzählt, dass die Dortmunder noch einmal "Fotos" von ihrem Rücken machen müssen. "Okay", sagte sie. "Kriege ich dann wieder ein Heft vom Kiosk?" Andi begleitete uns. Wir mussten Ewigkeiten warten, bis wir dran kamen. Es war wieder ein Notfall dazwischen gekommen. Vianne musste natürlich wieder nüchtern bleiben. Je länger wir warteten, desto angespannter wurde ich. Falls die Radiologen etwas im Spinalkanal entdecken sollten, konnte es sein, dass die Chirurgen sie sofort operieren müssen, je nachdem, ob und wie stark irgendetwas auf das Rückenmark drückt. Andi und ich lasen Vianne abwechselnd vor oder spielten etwas mit ihr. Zwischendurch hielt ich es nicht mehr auf den Stühlen im Spielzimmer aus und wanderte ruhelos den Krankenhausflur rauf und runter. Eine weitere Stunde verging. Verdammt! Ich spürte die Wut in mir. Vianne war zufrieden, entspannt, fast gut gelaunt. Meine Wut steigerte sich, meine Wut auf diese Scheiß-Krankheit, meine Wut über diese ewige Warterei, meine Wut über diese Ungerechtigkeit, dass Vianne nicht zu den Kindern gehörte, die tumorfrei bleiben. Die Wut breitete sich aus und irgendwann überschritt sie einen Punkt, an dem ich sie kaum noch kontrollieren konnte. Ich platzte. Ich sprang auf. Ich trat einen Stuhl um. Jetzt weiß ich, was "im Affekt" bedeutet. Ich war vor mir selbst erschrocken. Aber jetzt ging es mir besser. Auszug aus dem vorläufigen Befund:

"Kein Hinweis auf eindeutige Abtropfmetastasen. Unveränderte knotenförmige Kontrastmittelanreicherung dorsolateral linksseitig angrenzend am Myelon auf Höhe von BWK 11, am ehesten einem Gefäß entsprechend."

Gut! Keine Metastase(n) in der Wirbelsäule. Auch das Ergebnis der parallel durchgeführten Lumbalpunktion ließ etwas hoffen: Kein Nachweis von Tumorzellen im Liquor! Im Kopf war etwas, im Rücken und im Hirnwasser nicht. Das war unsere neue Ausgangssituation.

Schock und Unglaube



Rückblick: 1. Juli 2014

Unser Prof. fragte mich im Nachhinein, ob ich es geahnt hätte. Ich wäre am MRT-Tag ganz anders als sonst gewesen. Ja, hatte ich. Ich weiß nicht wieso und warum, aber ich hatte in den letzten Tagen vor diesem MRT ein "Scheiß-Gefühl". Die Rahmenbedingungen waren gar nicht schlecht am 1. Juli. Lilli war mit ihrer Mama zeitgleich in der Klinik und machte den MRT-Tag um einiges bunter. Vianne hatte sich dieses Mal gegen den Schlafsaft ("der smeckt so eeekliiig!") und für das Zäpfchen entschieden, was entsprechend besser klappte. Wir kamen frühzeitig dran. Micha und ich vertrieben uns die Wartezeit mit einem Latte Macchiato. Anschließend düste Micha zum Wakeboarden, um den Kopf wieder etwas frei zu bekommen. Vianne erwachte sehr unruhig aus der Narkose und weinte bereits auf dem Weg zurück zur Kinderstation - aber das ging vorüber.
Zuhause warteten Oma und Opa auf uns und versorgten uns mit leckerem Mittagessen. Dann kam der Anruf. Dr. B. war am Telefon. Was machte Dr. B. am Telefon? Er konnte doch unmöglich schon das Ergebnis haben. So früh war er - glaube ich - noch nie gewesen. Sicher wollte er eine andere Sache absprechen. Aber eigentlich brauchte ich mir nichts weiter vormachen. Ich hörte es gleich an seiner Stimme. "Sie müssen noch einmal kommen. Geht es jetzt gleich?" Diese Worte haben sich in mein Hirn gebrannt. Meine Stimme überschlug sich. "Was ist los?", fragte ich atemlos und verzog mich mit dem Telefon ins Schlafzimmer. "Wir haben etwas gefunden. Nicht an derselben Stelle, tiefer." "Nein, nein, nein", schrie es unaufhörlich in meinem Kopf. Jetzt war also der Moment da, vor dem ich mich die ganze Zeit über gefürchtet hatte. Vianne hatte ein Rezidiv. "Wir müssen gleich ein Narkose-Aufklärungsgespräch machen, ich möchte mir morgen die Wirbelsäule im MRT ansehen", sagte er. Ich teilte meinen Eltern kurz und knapp mit, dass ich noch einmal nach Dortmund in die Klinik müsse, dass die Ärzte "etwas" gesehen hätten. Meine Eltern waren verwirrt, sprachlos. Ich bat sie, auf die anderen Kinder Acht zu geben. Dann rief ich Micha an. Er ließ sein Wakeboard fallen und kam aus Hamm zurück zur Klinik, wo wir uns treffen wollten. Ich funktionierte - irgendwie. Dann schnappte ich mir Vianne und erklärte ihr, dass wir noch einmal zu Dr. B. müssten. Seltsamerweise hatte sie gar keine Einwände und kam ohne zu Bocken mit. Ich fuhr wie ein Zombi über die Autobahn. Keine Tränen, nur Eis. Dr. B. und ich machten Vianne in der Klinik in einem freien Zimmer den Fernseher an. Ich wollte nicht, dass sie bei unserem ersten Gespräch dabei ist. Dr. B. zeigte mir auf dem Monitor diesen grauen Knubbel tief in ihrem Köpfchen, im linken Seitenventrikel. Es war kein Lokalrezidiv, die ursprüngliche Tumorregion war weiterhin unauffällig. Die Krebszellen waren gewandert. "So ein Mist", hörte ich mich hölzern und emotionslos sagen. "Hallo! Was sagte ich da überhaupt?", schoss es mir in dem Moment durch den Kopf, als die Worte meinen Mund verließen. "Ich glaube 'Mist' ist dafür zu schwach", meinte Dr. B. Aber ich fühlte nichts. Doch: Leere. Ich hörte mich an wie ein verdammter Roboter. Ich folgte konzentriert den medizinischen Ausführungen unseres Arztes, so, als ob es nicht um meine Tochter gehen würde. Dann kam Micha. Seine Augen schauten schrecklich. Das brachte einen ersten Riss in meine dicke Eisdecke. Wir vereinbarten für den nächsten Tag den MRT-Termin und fuhren mit Vianne nach Hause. Es gab auch nicht viel mehr zu sagen. Meine Eltern waren verstört, besorgt und machten sich Vorwürfe, dass einer von ihnen nicht mit mir nach Dortmund gefahren war. Aber das war überhaupt nicht nötig gewesen. Die beiden fuhren irgendwann nach Hause - ebenso geschockt wie wir. Ich sagte Andi und Ralf Bescheid. Sie kamen am Abend zu uns, drückten uns, trösteten. Mittlerweile flossen meine Tränen. Ich war komplett verquollen. Meine Eisschicht bröckelte. Nachdem Andi und Ralf uns schweren Herzens allein gelassen hatten, kam schließlich der Zusammenbruch. Micha und ich saßen im Schlafzimmer auf dem Bett. Alle Kinder schliefen bereits. Dann fing ich an zu schreien...

Wunderbarer Alltag -



Rückblick: Dezember 2013 - Juni 2014

Es ging natürlich nicht von heute auf morgen, aber wir schafften es im Laufe der Monate, wieder in ein "normales Leben" einzutauchen mit regelmäßigen Kindergartenbesuchen und noch regelmäßigerem morgendlichem Rumgezicke, Zahnarztterminen, Ballettstunden, Spielplatzbesuchen. Eine Freundin meinte später einmal, wir hätten langsam aber stetig in den Alltag zurückgefunden.
Zwar musste ich weiterhin mit Vianne einmal wöchentlich zur Krankengymnastik und später zur Ergotherapie, um die Feinmotorik ihrer rechten Hand zu verbessern, und wir hatten unsere Kontrolltermine (onkologische Ambulanz, Augenarzt, Ohrenarzt, MRT) und Viannes umfassende Abschlussuntersuchung (Sono, EEG, EKG,...), ansonsten unterschied sich unser Leben aber nicht mehr so sehr von dem anderer Familien aus unserem Umfeld. Zur psychischen Verarbeitung nahmen Ada und Vianne vorsorglich an der Kunsttherapie bei K. teil - beide Mädchen freuten sich bereits immer Tage im vorraus auf diese Stunde.
Der Alltag erschien so leicht. Wir trauten uns sogar langsam wieder, Pläne zu machen, für Urlaube, Wochenendverabredungen, Geburtstagsfeiern. Über Weihnachten fuhren wir kurzfristig mit meiner Schwester und meinem Schwager in den Skiurlaub. Ada und Vianne lernten Skifahren. Im Skikurs Zillertaler Berge Wer Vianne nicht kannte konnte nicht glauben, dass sie ein Jahr Intensivtherapie und eine schwere Hirn-OP hinter sich hatte. Wir unternahmen viele tolle Dinge, reisten und saugten voller Inbrunst die bunten Farben des Lebens in uns auf. Im Frühjahr besuchte ich mit Luke, Ada und Vianne meine liebe U. Wir lachten im Auto herzhaft über die Känguru-Chroniken und paddelten im Holzruderboot bei herrlichem Wetter auf der Außenalster. Wenig später erkundeten Micha, die Kinder und ich das Elsass, machten eine Stippvisite in Strasbourg und auf dem "Affenberg". Anschließend trafen wir uns mit Freunden in St. Leon Roth zum Wakeboarden und Zelten. Dann stand im Mai noch ein Nachtreffen in der Nähe von Weimar mit all denjenigen Familien an, die wir während der Sylt-Reha schätzen gelernt hatten. Im Juni kam U. mit ihren Kindern für ein paar Tage zu uns - es war mal wieder ein Highlight. Wir saßen abends lange bei einem leckeren Getränk zusammen, fuhren in die Zoom-Erlebniswelt und verbrachten dort einen unbeschwerten Tag. Dann verschlug es uns wieder in die Nähe von Heidelberg, wo wir ein entspanntes (und essenstechnisch spannendes) Wochenende bei Michas Nichte, ihrem Mann und Kind verlebten. Sie führten uns in die "vitalstoffreiche zuckerfreie Vollwertkost" ein. Wir hatten schon so lange vorgehabt, die drei zu besuchen. Nun machten wir Nägel mit Köpfen.
Freunde unserer Kinder konnten wieder uneingeschränkt zu uns kommen, da Vianne nicht mehr so immungeschwächt war. Zwar dümpelten ihre Leukozyten noch immer im Grenzbereich, aber das war nach der schweren zehnmonatigen Chemotherapie vorauszusehen. Ihr Körper brauchte jetzt einfach Zeit, sich zu erholen. Zur Stärkung ihres Organismus holten wir uns Ratschläge bei den Anthroposophen und unterstützten mit Scleron und Formica, später mit Echinacea.
Ada und Vianne feierten im April ausgiebig Kindergeburtstag im Beisein der Familie und zahlreicher kleiner Freunde. Die Mäuse hatten sich für die Kinderparty einen Pferdegeburtstag gewünscht. Kein Problem! Alle Kinder bastelten sich ein Steckenpferd - und Micha ritt auf seinem silbernen Schimmel vorneweg. Mir lief ein Schauer über den Rücken, als wir am Abend ihres 5. Geburtstages einen Maikäfer auf unserer Terrasse fanden - ein Prachtexemplar. Erinnert ihr euch: bereits zu Ada und Viannes Geburt entdeckte ich abends einen Maikäfer auf dem Krankenhaus-Balkon. Ich sah es als gutes Omen. (Im Nachhinein frage ich mich, ob der Maikäfer nicht ein Vorbote war der uns sagen wollte, dass sich Viannes Lebenskreis schließt.)
Wir genossen diese Monate in vollen Zügen. Anfangs war es zwar etwas ungewohnt, keine Therapien mehr zu erhalten und wir mussten uns zur inneren Ruhe ermahnen und unsere Angst vor einem Rückfall auf Eis legen, jetzt, wo wir nicht mehr aktiv gegen die Krebszellen vorgingen. Aber auch das lernten wir. Allerdings schlotterten uns vor jedem MRT die Knie und wir waren die Tage davor und danach kaum zu gebrauchen. Aber die Befunde der Januar- und April-Aufnahmen 2014 zeigten weiterhin keinen Hinweis auf ein Rezidiv. Unsere Zuversicht wuchs. Kurze Zeit später mussten wir erfahren, mit was für einer tückischen Erkrankung wir es zu tun haben. Denn noch halb im Verborgenen wuchs heimlich, still und leise der "freche Wicht" heran... Als man im Nachhinein wusste, auf welche Stelle man genauer hätte gucken müssen, stellte sich Heraus, dass er seine kleinen gierigen Finger bereits im April ausgestreckt hatte - als der Maikäfer kam...

In der Warteschleife



Echtzeit!  26. Oktober 2014

Es kommen so viele neue Informationen bezüglich Viannes weiterer Behandlung zusammen, und trotzdem geht es nicht richtig voran. Es stört mich einerseits nicht, weil ich diese Schonzeit genieße und Angst vor den kommenden Behandlungen habe. Vianne geht es ja augenscheinlich gut. Aber wir wissen schließlich, dass das trügerisch sein kann - das ist das "andererseits". Am Freitag nahm Vianne gemeinsam mit Ada das erste Mal nach der Wirbelsäulen-OP am Kindergarten-Schwimmkurs teil. Sie war stolz und glücklich. Beim Ausziehen bemerkte ich allerdings, dass ihre Narbe im unteren Nackenbereich entzündet ist. Die Essener hatten nun schon das zweite Mal einen Faden übersehen. Arghhhh! Das war uns! vor einer Woche aufgefallen. Die Dortmunder schauten sich die Stelle an und meinten, der Faden wäre schon sehr verwachsen, da müsse man wohl mit dem Skalpell ran. Wir entschieden gemeinsam, dass der Faden erst entfernt wird, wenn sie das nächste Mal eine Narkose bekommt. Allerdings war die Stelle da noch komplett reizlos. Mist! Am nächsten Dienstag sind wir sowieso wieder in der Klinik, dann sehen wir weiter.
Unsere Ärzte haben uns mitgeteilt, dass sie nun doch keinen Widerspruch bei der Krankenkasse wegen der abgelehnten Vorinostat-Behandlung einlegen werden. Es gibt nämlich neue Erkenntnisse von einer internationalen Tagung in Toronto, auf der auch einer unserer Ärzte ist. Die neuesten Datenauswertungen belegen, dass eine Re-Bestrahlung bei einem rezidierten Ependymom doch signifikant bessere Heilungschancen zeigt als bisher angenommen. Somit steht die Bestrahlungsoption wieder an erster Stelle. Zudem sollten wir unser "Pulver nicht (vorzeitig) verschießen" und uns die Aussicht auf eine spätere (von der
Krankenkasse bezahlte) Vorinostat-Behandlung offenhalten, falls die Bestrahlung versagt. Okay. Ich mische mich da nicht mehr ein. Ich glaube, das hat mit dem tiefen Vertrauen zu unserem Dortmunder Duo zu tun, das sich im Laufe der letzten zwei Jahre immer weiter gefestigt hat. Sie haben aber auch sehr viel dafür getan, unser Vertrauen zu gewinnen. Sie haben sich immer für uns eingesetzt (trotz eines sicherlich hohen Arbeitspensums), waren auch außerhalb der Arbeitszeiten oder während Tagungen im Ausland erreichbar und haben auf Nachfrage zeitnah Rückmeldung gegeben. Auch die neuesten Erkenntnisse aus Toronto ließ Prof. S. uns weiterleiten, noch während er vor Ort war. Ich glaube, wir sind ein gutes Team und ziehen gemeinsam an einem Strang. Das merken wir auch bezüglich der Frage, wer bestrahlen wird. Während Dr. B. nochmals in Essen wegen der Photonenbestrahlung nachhakte, hat Prof. S. zeitgleich mit Prof. T. in Toronto über die Möglichkeit der Protonenbestrahlung in Viannes Fall (trotz des cranio-spinalen Feldes) gesprochen. Daneben hat Dr. B. Kontakt zur Düsseldorfer Strahlenklinik aufgenommen, die sich derzeit Viannes Bestrahlungsplan anschaut. Jeder ist aktiv, jeder ist bemüht, zu helfen. Alles andere liegt - wie gesagt – nicht in unserer Hand, ganz gleich ob wir uns einmischen oder nicht.
Am letzten Donnerstag und Freitag waren wir vormittags bei unserer lieben Kunsttherapeutin, die mit Vianne spielerisch die Maskenanpassung für die Bestrahlung proben wollte. Am Donnerstag war Vianne eingeschüchtert und wollte nicht. Wir waren auch schon länger nicht mehr bei K. gewesen. Sie brauchte Zeit, sich zu akklimatisieren. Die haben wir ihr gegeben. Vianne und ich haben in dieser Stunde gemeinsam ein wunderbares Bild mit Wasserfarbe gemalt. Wir haben es Waldspaziergang getauft. Am Freitag durfte K. dann doch mit der Gipsmaske beginnen, nachdem sie mir zuvor auf Viannes Wunsch mein Kinn eingegipst hatte. Ich sah wirklich lustig aus. Allerdings weigerte Vianne sich, sich bei der Maskenanpassung hinzulegen. Das Hinlegen hat für sie noch immer etwas mit "sich hingeben", "sich ausliefern" zu tun, und damit hat sie verständlicherweise Probleme. Also legte K. die Gipsbinden im Sitzen auf, während ich Vianne "Wir Kinder aus Bullerbü" vorlas. Sie hielt ganz ruhig. K. und ich waren gleichermaßen stolz auf die Maus. Nachdem sie erlebt hat, dass das Anfertigen der Gipsmaske nichts Gefährliches ist, legte sie sich zum Ende der Stunde doch einmal probehalber hin. Am Dienstag wollen wir dann einen neuen Versuch komplett im Liegen starten. Ich bin zuversichtlich