Gesamtzahl der Seitenaufrufe

30. Oktober 2016

Lokalrezidiv versus Metastase



Rückblick:  15. bis 22. Juli 2014


Auch von dieser zweiten mehrstündigen Hirn-Operation erholte sich Vianne erstaunlich schnell. Am ersten Tag schlief sie noch sehr viel. Von den hohen Cortison-Gaben und dem Narkosemittel war sie so verschwitzt, dass wir sie mehrmals täglich umziehen mussten. 





Sie hatte erstaunlicherweise keine Kopfschmerzen - sagte sie zumindest. Deshalb setzten die Ärzte das Schmerzmittel zügig ab. Das postoperative MRT, das sie übrigens wieder ohne Narkose schaffte, bestätigte Prof. S. erste Einschätzung: wieder einmal konnte der Tumor komplett entfernt werden. Wir schnauften abermals durch.

Bereits zwei Tage nach dem Eingriff war Vianne schon wieder auf den Beinen: "Ich will ins Spielzimmer!". Auf wackligen Beinchen machte sie sich an meiner Hand auf den Weg über den Flur. Die Schwestern schauten uns mit großen Augen hinterher. Ich hielt sie ganz fest, weil ich Angst hatte, dass sie hinfällt. Wir spielten wieder intensiv mit den beiden Handpuppen - dem Kasper und der Prinzessin. Später am Nachmittag kam Andi mit den übrigen Kindern vorbei. Minutenlang lagen sich Ada und Vianne in den Armen, schmusten und genossen sich gegenseitig. Auch wenn sie sich manchmal fast die Augen auskratzen, vermissen sie sich in Trennungsphasen schrecklich. Vianne blühte sichtlich auf. Ada kuschelte sich neben sie ins Bett. Luke war fürsorglich wie immer und Jesse musste man hoch anrechnen, dass er mitgekommen war - er hasste Krankenhäuser. Ich konnte sehen, wie sehr er sich zusammenriss. Ich war stolz auf ihn. Wir hielten den Besuch kurz, um Vianne zu schonen, denn nach diesem langen aktionsreichen Tag wirkte sie wieder müde.

Micha und ich wechselten uns bei der Betreuung ab. Es tat gut, zwischendurch nach Hause zu kommen. Oma und Opa besuchten uns am Donnerstag. Vianne wollte raus - in die Sonne. Wir nahmen einen "Fahrstuhl" mit - Vianne meinte damit den Rollstuhl. Sie fand es klasse, geschoben zu werden. Ich musste immer mit ihr Slalom um die Poller fahren. Sie kicherte ausgelassen. Auf dem Klinik-Spielplatz angekommen, sollte ich sie auf die Schaukel heben. Ich schaute sie völlig perplex an. Schaukeln? Vier Tage nach der Operation? Ich sagte ihr, das sei wegen der Wunde am Kopf zu gefährlich, sie dürfe nicht darauf fallen. Vianne schmollte, bettelte. Ich gab nach und hob sie vorsichtig auf den Sitz. Ganz sanft gab ich ihr Anschwung, wobei ich gefühlte 10.000 Mal sagte, sie solle sich gut festhalten. "Höher", rief sie ungeduldig. "Mach endlich höher!" Nachdem sie noch eine Rutsche erklommen und sich von Opa im Dreh-Kreisel um die eigene Achse hatte wirbeln lassen, erlöste sie uns gnädigerweise und verließ wohl gelaunt den Spielplatz. Wir waren nass geschwitzt. Sie war glücklich und verspeiste genüsslich ein Eis. 

Tagtäglich ging es ihr besser. Wir unternahmen ausgedehnte Ausflüge mit dem "Fahrstuhl" und entfernten uns vom Klinikgelände. Ein paar Stunden verbrachten wir im Grugapark im Bällebad, im Tropen- und im Waldhaus. Auf der Station hatte ich meine Handy-Nummer hinterlegt. Die Visite fand sowieso meistens am Nachmittag statt. Besonders gerührt war ich von dem Besuch von Viannes Kindergärtnerinnen. Essen liegt nicht mal "eben um die Ecke". Trotzdem kamen sie vorbei, im Gepäck ein selbstgestaltetes Grußbuch mit einem Foto von den Kindergartenkindern und weiteren niedlichen Geschenken. Vianne hat sich riesig darüber gefreut. Sie brachte ein Stück Normalität in die Klinikwelt. DANKE!

Auf uns wirkte Vianne nach der Operation wie befreit. Sie bewegte sich "runder", benutzte von sich aus vermehrt die rechte Hand und erlernte auf einmal neue Bewegungsmuster. So konnte sie sich plötzlich selber Anschwung geben beim Schaukeln. Irgendwie schien es, als hätte sie dieser Tumor behindert, als hätte ihr Körper die ganze Zeit gemerkt: da ist noch etwas...

Auszug aus dem Arztbrief: "Emma Vianne hat die Operation gut überstanden und konnte zügig unter krankengymnastischer Anleitung mobilisiert werden. Sie war im weiteren Verlauf ohne neues neurologisches Defizit mobil, verspielt und vergnügt."

Am Morgen des 22. Juli durften wir die Uniklinik verlassen. Am Abend zuvor kam die Expertin für Rezidive zu mir, um das weitere Vorgehen zu skizzieren. Ruhig und zugleich sehr professionell teilte sie mir auf etwas verschlungenen Pfaden mit, dass es verdammt übel um Vianne steht - sie wählte natürlich andere Worte. Nach einem Lokalrezidiv (der Tumor kommt an derselben Stelle wieder) sinken die Chancen schon beträchtlich, beim Auftreten einer oder mehrerer Metastase(n) fallen sie noch tiefer. Viannes Rückfall wurde als metastasiertes Rezidiv eingeordnet, da es zu weit vom Primärtumor entfernt lag. Die Tumorzellen hatten sich über das Hirnwasser ausgesät: 10 Prozent Überlebenschancen geisterten durch den Raum, wabberten haltlos in der Luft, verflüchtigten sich, um Platz zu machen für eine schwarze Wand von Therapieangeboten mit verheerenden Folgen. Ich war wie betäubt. Viannchen ging es doch gerade so gut, sie erholte sich doch so rasch, wie konnte sie andererseits todkrank sein. Das passte nicht übereinander. Der Nebel wurde immer undurchdringlicher und nahm mir die Luft. Prof. F. zeichnete mehrere mögliche Wege auf: nicht behandeln und abwarten, eine orale Chemotherapie, eine cranio-spinale Bestrahlung oder eine Kombination aus beiden Therapien. Vianne malte konzentriert. Ich glaube, sie wollte sich unsichtbar machen, sich raushalten. Sie plapperte nicht ein einziges Mal dazwischen. Sie wusste genau, dass es ernst war. Später, als sie schlief, rief ich Micha an, Tränen liefen meine Wangen hinab, ohne dass ein Laut aus meinem Mund drang. Es waren große, stille Tränen. Mir war so übel. Mir war so übel wie damals in Kiel, als wir die Diagnose Hirntumor erhielten. Welch große Chance Vianne da noch hatte - im Vergleich zu unserer jetzigen Situation. Die Chance auf Heilung, die Chance auf ein relativ normales Leben. Ich trank wieder einen Kamillentee. Die Nacht war schrecklich. Ich telefonierte mit Andi. Sie kam am nächsten Morgen in die Klinik und passte auf Vianne auf, während Micha und ich noch ein weiteres Gespräch mit der Expertin führten. Sie sagte einen Satz, der mir wieder etwas hoch half: Es gebe diese Prozentzahlen, andererseits habe sie keine fünf Kinder wie Vianne gehabt (Lage des Primärtumors plus singuläre Metastase ohne Nachweis von Tumorzellen im Liquor, zweimalige komplette Resektion,...). "Bei bestimmten Erkrankungen versuche ich, die Eltern von einer bestimmten Therapie zu überzeugen, von der ich weiß, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Heilung führen wird. Das kann ich hier aber nicht", ergänzte sie. Micha und ich zeigten zum Glück eine ähnliche Reaktion auf das Angebot der cranio-spinalen Bestrahlung: "Auf gar keinen Fall!"

Dienstag wurden wir entlassen, Donnerstag wurden Viannes Fäden gezogen, Freitag fuhren wir nach Cuxhaven. Ursprünglich (vor Viannes Rückfall) hatten wir bereits am Wochenende zuvor in den Urlaub fahren wollen. Der "Elterntreff für tumor- und leukämiekranke Kinder Dortmund", wo wir seit Viannes Erkrankung Mitglied sind, hatte uns eine schön gelegene Ferienwohnung unmittelbar hinter dem Deich angeboten. Jetzt hatten wir zumindest noch eine gute Woche am Meer vor uns. Da nach der Rezidivdiagnose unsere Urlaubsplanung auf wackligen Füßen stand, hatte Jesse von lieben Freunden das Angebot bekommen, mit ihnen eine Woche am Gardasee mit Surfen und Mountainbike-Tour zu verbringen. Er nahm hocherfreut an, erkundigte sich zuvor jedoch etliche Male bei uns, ob es okay für uns sei. In Cuxhaven hätte sich unser Großer sicherlich sowieso gelangweilt... Ich freute mich für ihn. Er hatte sich diesen tollen Italien-Urlaub mehr als verdient. Eigentlich hatten Micha und ich mit ihm - ohne seine jüngeren Geschwister - zum Ferienbeginn ein Wochenende in Berlin verbringen wollen. Aber dann kam Viannes OP dazwischen. Jesse verzichtete ohne zu Murren, ohne sich selbst zu bemitleiden. Ich ziehe meinen Hut vor ihm...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen