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30. Oktober 2016

Wer operiert?



Rückblick:  Anfang Juli 2014

Der neue Hirntumor musste raus. Zum Glück war er gut operabel. Er lag im linken Seitenventrikel. Das ist ein Hohlraum, in dem das Hirnwasser (Liquor) produziert wird. Das Hirnwasser fließt durch die beiden Seitenventrikel und den 3. und 4. Ventrikel, umspült den Kopf und fließt den Rückenmarkskanal entlang. Die jetzige Tumorlage war operationstechnisch insofern günstig, da sich im Seitenventrikel keine Hirnmasse befindet, die geschädigt werden kann. Nur der Weg dorthin war schwierig, weil der Seitenventrikel tief im Kopf liegt. Unsere behandelnden Ärzte hatten uns ein Zeitfenster gegeben, in dem wir entscheiden sollten, wo und von wem wir operieren lassen wollen. Unser Herz hing an Prof. N., der Vianne in Kiel operiert hatte. Leider war er dort nicht mehr tätig, er hatte erst wenige Tage zuvor, zum 1. Juli (während unseres Schreckens-MRT) seine neue Stelle an einer Privatklinik in Hannover angetreten. Seit unserer ersten Begegnung 2012 standen wir regelmäßig in Kontakt, und Prof. N. hatte uns schon im Frühjahr informiert, dass er in Kiel aufhören würde. Wir nahmen trotzdem Kontakt zu ihm auf. Es tat gut, ihn zu hören, er hatte noch immer diese beruhigende Wirkung auf uns. Er nahm sich viel Zeit für uns (trotz seines
Arbeitsplatzwechsels), wir führten etliche Telefonate. Er stellte uns in Aussicht, Vianne erneut zu operieren. Zuvor hatte er mit seinem neuen Arbeitgeber alle Formalitäten abgeklärt und "grünes Licht" für die Operation bekommen. Was für ein feiner Mensch: auch für den Fall, dass Vianne nicht privat versichert wäre (er wusste es nicht mehr genau), hatte er mit seinem Chef besprochen, sie trotzdem operieren zu dürfen. Er verwies aber auch die Vorteile einer heimatnahen OP an. Damals in Kiel hatte er als Option Prof. S. an der Essener Uniklinik erwähnt. Ich fand die Anregung, heimatnah operieren zu lassen, gut, allein schon wegen der Logistik. Ich treffe zwar viele Entscheidungen mit dem Herzen, ich habe aber auch eine pragmatische Seite. Mein Herz schlug zwar für eine von Prof. N. durchgeführte OP, mein Verstand sagte jedoch, dass wir Prof. S. als Alternative in Betracht ziehen sollten, zumal in Essen auch die Expertin für Rezidive bei Ependymomen (Studienleitung) sitzt. Mit der OP allein war es ja leider nicht getan, wir mussten schließlich auch die weiterführende onkologische Beratung und Betreuung im Blick behalten. Die Dortmunder hatten zudem noch den Kontakt zu ihrem Neurochirurgen hergestellt. Dieser hatte vor kurzem den kleinen Jungen aus unserer Umgebung operiert, der ebenfalls ein Ependymom hat. Seine Eltern waren sehr zufrieden gewesen. Wir hatten also drei Optionen. Mit dem Dortmunder Neurochirurgen sprachen wir am 4. Juli. Aber er hat weder Micha noch mich überzeugen können. Am 7. Juli hatten wir ein Gespräch mit Prof. S. in Essen. Er hinterließ einen wirklich kompetenten und selbstbewussten Eindruck, und der menschliche Faktor kam trotz allem nicht zu kurz. Er erklärte sehr bildlich und präzise und scheute sich auch nicht, an Michas Kopf zu demonstrieren, welchen Zugang er wählen würde und warum. Er beherrscht den "interhemisphärischen transcallosalen Zugang". Dabei nutzt er den natürlichen Spalt zwischen rechter und linker Hirnhälfte, wobei er anschließend den "Balken" (zuständig für den Austausch/ der Kommunikation zwischen rechter und linker Hirnhälfte) durchstoßen muss, um in den linken Seitenventrikel vorzudringen. Dabei wollte er von der gegenüberliegenden (der rechten) Seite vorgehen, um einen besseren Zugangswinkel zu haben. Der interhemisphärische Zugang hat den Vorteil, dass der Operateur nicht durch gesundes Hirngewebe muss. Allerdings läuft die Hauptarterie, zuständig für die Blutversorgung des Hirns, durch diesen natürlichen Spalt zwischen den Hirnhälften. Wird diese geschädigt, kann das einen Schlaganfall auslösen – mit verheerenden Folgen. Prof. N. und auch der Dortmunder Neurochirurg hätten den Weg durch den Frontallappen (durch den Stirnbereich) genommen, um zum linken Seitenventrikel vorzudringen. Im Frontallappen liegen allerdings viele Persönlichkeitsmerkmale des Menschen. Wir vertrauten Prof. N. und waren irritiert, warum er einen anderen Weg wählte als sein Essener Kollege. Er erklärte uns, dass beide Wege gut wären und im Normalfall zu keiner Schädigung führen würden, wenn man behutsam vorging. Er beteuerte, dass Prof. S. den interhemisphärisch transcallosalen Zugang sehr gut beherrschen würde. Auch uns erschien dieser Weg - rein von der Logik her - sinnvoller. Auch stimmten die Rahmenbedingungen in Essen: der Chirurg konnte zeitnah operieren (der neue Tumor war in drei Monaten - oder weniger - 1,5 Zentimeter gewachsen), die Intensivstation war im selben Gebäude, sie konnten gewährleisten, dass eine Gewebeprobe entsprechend präpariert zum Deutschen Krebsforschungszentrum nach Heidelberg geht, wo sie molekularbiologisch untersucht werden sollte, um mehr Detailinfos bezüglich möglicher Tumor-Signalwege zu erhalten, die später eventuell im Rahmen einer individuelleren Therapie unterbrochen werden können.
Wir hatten uns gerade schweren Herzens zu einer Entscheidung für Essen durchgerungen, da rief Prof. N. an und meinte, er hätte sich mit seiner Frau besprochen (die ihm die Situation aus Sicht einer Mutter nahegelegt habe). Sie meinte, sie würde einen Arzt, zu dem sie einmal vertrauen gefasst habe, trotz ungünstiger Rahmenbedingungen (weite Anfahrt, Logistik) immer vorziehen. Aber wir dürften auch nicht vergessen, dass es mit der Operation allein nicht getan wäre. Oh Hilfe, was sollten wir nur tun? Ich wollte Prof. N. nicht absagen. Er genoss wahrlich mein vollstes Vertrauen. Ich war so dermaßen überfordert. Er meinte noch am Telefon, dass es dieses Mal so gemein wäre, eine Entscheidung zu treffen. Damals hatten wir nicht so viel Zeit zum Nachdenken, da eine Verlegung zu gefährlich gewesen wäre. Er wüsste auch, dass wir uns nicht gegen ihn, sondern für eine gut machbare Durchführung entscheiden würden, auch im Hinblick auf die Geschwisterkinder. Was für ein feiner Mensch. Am nächsten Tag sagten wir ihm ab - ich kam mir wie eine Verräterin vor. Er genießt für alle Zeiten unsere Anerkennung als hervorragender Neurochirurg - und als Mensch!

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