Echtzeit! 20. Oktober 2014
Ich
trinke Kamillentee. Er wärmt und kommt doch nicht gegen die Kälte an, die hoch kriecht.
Wir sind wieder in unserer "Tumorwelt" angekommen. Ich selbst benutze
nicht die Beschreibung "frecher Wicht", die ist nur für die beiden
Mädels. Ich schreibe dem Tumor auch keine Charaktereigenschaften zu, es sind
lediglich Zellen,
die sich unkontrolliert vermehren. Es sind Viannes Zellen! Ich hege keinen
persönlichen Groll gegen diese Zellen - aber ich hadere mit dem Schicksal. Gibt
es so etwas wie Schicksal? Kann ich es verändern? Ich bin nicht der passive
Typ. Ich werde alles Menschenmögliche tun, für Vianne, für mich, für unsere
Familie. Ich lasse mir nicht einfach den Boden unter den Füßen wegziehen. Egal
von wem oder was.
Heute
wurde Viannes Blut untersucht. Ergebnisse haben wir noch nicht. Wir müssen
schauen, inwieweit das Temodal ihre Blutwerte "in den Keller fallen"
lässt. Wir brauchen die Ergebnisse, um nächste Woche mit dem 2.
Chemotherapie-Zyklus beginnen zu dürfen. Vianne ist leicht erkältet, hustet,
ist aber ansonsten gut drauf. Wir haben bei Dr. B. und Prof. S. nachgefragt,
wie es weitergeht. Mit der Kunsttherapeutin proben wir Ende der Woche
spielerisch die Maskenanfertigung im Wachzustand für die Bestrahlung - anhand
einer Gipsmaske. Der Bestrahlungsplan von dem Experten aus Leipzig ist
eingetroffen. Den Dortmunder Radiologen ist dieser Plan zu komplex, sprich: sie
trauen sich nicht daran. Dr. B. ist der Meinung, wenn man "mit dem Rücken
zur Wand
steht" (so seine Worte), dürfe man sich keine großen Gedanken mehr über
die Gefahr einer möglichen Schwerhörigkeit oder Produktionseinstellung der
Hirnanhangdrüse machen. Ich lenke ein, dass es legitim sei zuzugeben, dass es
die eigenen Fähigkeiten übersteigt. Aber es ist auch erschreckend, dass an sich
erfahrene Radiologen eine Behandlung wegen der erheblichen möglichen Folgen
nicht ausführen wollen. "Alle drei Monate ist ein neues Rezidiv
aufgetreten...", wirft Dr. B. ein. Wir wissen das. Es ist trotzdem schwer,
sich diese nackte Tatsache zu vergegenwärtigen. Unsere Dortmunder Onkologen
haben nun Kontakt zu den Essener Radiologen aufgenommen. Derzeit beantragen sie
auch die Kostenübernahme für den Einzelheilversuch mit einem Medikament, das
zwar in den USA, nicht aber in Europa zugelassen ist. Die Heidelberger Experten
vom Deutschen Krebsforschungszentrum, die Viannes Gewebe molekularbiologisch untersucht
haben, befürworten diesen Einzelheilversuch. Unsere Krankenkasse hat eine
umfangreiche Stellungnahme von unseren behandelnden Ärzten erbeten. Prof. S.
hat den Vordruck ausgefüllt. Ich kenne seine
Antworten. Ich kannte sie auch vorher. Aber es ist so schwer, sie schwarz auf
weiß zu sehen, zu lesen, zu begreifen...
2.)
Liegt bei Emma Vianne eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich
verlaufende Erkrankung vor oder droht der Eintritt einer irreversiblen
schwerwiegenden Behinderung?
Prof.
S.: "Ja " (Er hat "regelmäßig tödlich" unterstrichen....)
2.6.)
Besteht eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine
spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf durch die Verabreichung
des Arzneimittels? Wenn ja, bitten wir um die Quellenangabe und ggf. Benennung
entsprechender Veröffentlichungen.
Prof.
S.: "Ja, Erfahrungen bei anapl. Hirntumoren des ??? (kann ich nicht lesen)
und am DKFZ (Deutsches Krebsforschungszentrum) Heidelberg."
3.)
Aussagen über Prognose und Krankheitsfolgen, die bei Nichtanwenden des
Arzneimittels bei Emma Vianne zu erwarten sind:
Prof.
S.: "es ist mit einem Folgerezidiv und dem Tod im nächsten Jahr zu rechnen!"
Das
ist mein Versprechen an dich, meine süße Vianne, an dich, Micha, an euch, Ada,
Luke und Jesse und ich wiederhole es noch einmal: "Ich werde alles
Menschenmögliche tun, für Vianne, für mich, für unsere Familie. Ich lasse mir
(und euch) nicht einfach den Boden unter den Füßen wegziehen. Egal von wem oder
was!" Erst recht nicht von irgendwelchen Prognosen...
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