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17. Juli 2016

Countdown



Echtzeit!  14. September 2014

Die Koffer sind gepackt, Spielzeug- und Maltasche stehen bereit - aber ich bin nicht bereit. Micha auch nicht. Und Vianne? Schwer zu sagen. Mal bricht sie innerhalb kürzester Zeit wegen irgendeiner Kleinigkeit in Tränen aus, mal ist sie ganz unbeschwert und tobt mit Ada herum, mal ist sie sehr schmusebedürftig und anhänglich, mal "rockt" sie nach wilder Punkmusik im Auto ab. "Lauter, macht lauter!" Eigentlich wollten wir noch einmal ein schönes Wochenende verbringen, bevor es morgen früh mit den Voruntersuchungen, den OP- und  Anästhesiegesprächen losgeht. Es hat nicht wirklich funktioniert. Wir sind so angespannt. Gestern hatte ich schon nach dem Aufstehen schlechte Laune. Ich habe die Kinder angebrüllt, Micha stand ebenfalls in der Schusslinie, ich habe Türen geknallt und "Sch..." geschrieen. Ich habe Vianne angemeckert, sie solle endlich ihre rechte Hand mehr benutzen. Sie solle lernen, sich schneller anzuziehen. Ich habe Angst, dass nach der Operation übermorgen auch die linke eingeschränkt ist. Deshalb habe ich sie so getrieben. Vianne ist in Tränen ausgebrochen. Ich fühlte mich hundeelend.

Nachmittags haben wir uns mit Oma und Opa auf der Montgolfiade getroffen. Vianne sollte die vielen bunten Heißluftballons zu sehen bekommen (Ada natürlich auch, Luke kannte das schon). Erst lief es gut: wir schauten uns eine riesige Ballonhülle von innen an, durften in den Korb steigen. Die Kinder gingen auf das große Trampolin, auf dem man mit Gurten hoch in die Luft gezogen wird. Micha und Luke stiegen in einen Flugsimulator, Ada und Vianne auf die Karussell-Pferde. Aber meine Anspannung wich keinen Zentimeter, obwohl sich Oma und Opa so rührend kümmerten. Irgendwann starteten die unzähligen bunten Ballone. Wir durften auf der Behinderten-Tribüne stehen, Vianne hat einen Ausweis. Dann wurde es Ada zu langweilig, andauernd lief sie zwischen den Leuten umher, quetschte sich überall durch, rempelte. Ich ermahnte sie. Vianne quengelte. Sie wollte Zuckerwatte, Schoko-Früchte, Mandeln, Lebkuchenherzen. Es wurde zunehmend lauter, hektischer, enger, Musik dröhnte über den Platz, alles drehte sich schneller, an meiner Hand zwei nörgelnde Kinder... Ich ließ mich überreden und Opa kaufte für Ada und Vianne mit Schokolade überzogene Bananen, Luke bekam einen grellroten Zuckerapfel. Dabei wollten wir doch Zucker so gut wie möglich vermeiden. Zucker war pure Energie für den Tumor. Aber sollten wir Vianne vor der Operation nicht so viel Freude wie möglich machen? Auf der anderen Seite rebellierte mein schlechtes Gewissen wegen dieses Zucker-Schocks. Vianne quengelte weiter, die Banane schmecke nicht, sie wolle etwas anderes von der Süßigkeitenbude. Gereizt meckerte ich sie an, dass der ganze Zucker sowieso reiner Mist und absolut schädlich und krankmachend sei und sie nichts bekommen werde, erst recht nichts Neues, und dass.... Ich konnte mich selbst nicht mehr hören, konnte aber auch nicht aufhören. Ich war außer mir, verzweifelt, Vianne brach in Tränen aus, meine Eltern waren geschockt von meinem Ausbruch, machten sich Sorgen um uns alle. Luke ließ Vianne mitfühlend an seinem Zuckerapfel lecken. Jetzt pflaumte ich auch noch Ada und Luke an, sie sollten ihre Sachen bitte sofort wegpacken. Alles landete letztendlich im Müll. Auf der Heimfahrt waren alle sehr still.

Heute ging es etwas besser. Wir haben meinen Schwager beim Mountainbike-Rennen angefeuert. Es tat gut, meine Familie und auch gute Freunde vorher noch einmal zu sehen. Oma und Opa verwöhnten uns nach Strich und Faden - mit zuckerfreiem Apfelkuchen. Am Abend ließen wir die Zwillinge noch lange auf dem Trampolin toben. Ich stand davor und beobachtete die beiden. Meine Augen wurden feucht. Würde Vianne nach übermorgen jemals wieder Trampolin springen können. Plötzlich stand Luke weinend neben mir – er hatte den gleichen Gedankengang. Ich drückte ihn ganz fest und sprach ruhig mit ihm. Dann kletterten Luke und ich zu den Mädels aufs Trampolin und alberten mit ihnen gemeinsam herum. Wir waren die "Katzen", die mit geschlossenen Augen Ada und Vianne auf dem Trampolin fangen mussten. Wir kullerten und purzelten übereinander und lachten und kicherten. Es tat gut. Danach spielten wir mehrere Runden Kinder-Uno, bevor es eine letzte ausführliche gemeinsame Gute-Nacht-Geschichte gab. Wir sollten die Operation übermorgen als Chance sehen! Das Scheißding muss raus! Am besten komplett! Ohne Schädigung des Rückenmarks! Und jetzt muss ich alle weiteren Gedanken aus meinem Kopf verbannen, damit ich nicht durchdrehe.











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