Echtzeit! 14. September 2014
Die
Koffer sind gepackt, Spielzeug- und Maltasche stehen bereit - aber ich bin
nicht bereit. Micha auch nicht. Und Vianne? Schwer zu sagen. Mal bricht sie
innerhalb kürzester Zeit wegen irgendeiner Kleinigkeit in Tränen aus, mal ist
sie ganz unbeschwert und tobt mit Ada herum, mal ist sie sehr schmusebedürftig
und anhänglich, mal "rockt" sie nach wilder Punkmusik im Auto ab.
"Lauter, macht lauter!" Eigentlich wollten wir noch einmal ein
schönes Wochenende verbringen, bevor es morgen früh mit den Voruntersuchungen,
den OP- und Anästhesiegesprächen losgeht. Es hat nicht wirklich funktioniert.
Wir sind so
angespannt. Gestern hatte ich schon nach dem Aufstehen schlechte Laune. Ich
habe die Kinder angebrüllt, Micha stand ebenfalls in der Schusslinie, ich habe
Türen geknallt und "Sch..." geschrieen. Ich habe Vianne angemeckert,
sie solle endlich ihre rechte Hand mehr benutzen. Sie solle lernen, sich
schneller anzuziehen.
Ich habe Angst, dass nach der Operation übermorgen auch die linke eingeschränkt
ist. Deshalb habe ich sie so getrieben. Vianne ist in Tränen ausgebrochen. Ich
fühlte mich hundeelend.
Nachmittags
haben wir uns mit Oma und Opa auf der Montgolfiade getroffen. Vianne sollte die
vielen bunten Heißluftballons zu sehen bekommen (Ada natürlich auch, Luke
kannte das schon). Erst lief es gut: wir schauten uns eine riesige Ballonhülle
von innen an, durften in den Korb steigen. Die Kinder gingen auf das große
Trampolin, auf dem man mit Gurten hoch in die Luft gezogen wird. Micha
und Luke stiegen in einen Flugsimulator, Ada und Vianne auf die
Karussell-Pferde. Aber meine Anspannung wich keinen Zentimeter, obwohl sich Oma
und Opa so rührend kümmerten. Irgendwann starteten die unzähligen bunten
Ballone. Wir durften auf der Behinderten-Tribüne stehen, Vianne hat einen
Ausweis. Dann wurde es Ada zu langweilig, andauernd lief sie zwischen den
Leuten umher, quetschte sich überall durch, rempelte. Ich ermahnte sie. Vianne
quengelte. Sie wollte Zuckerwatte, Schoko-Früchte, Mandeln, Lebkuchenherzen. Es
wurde zunehmend lauter, hektischer, enger, Musik dröhnte über den Platz, alles
drehte sich schneller, an meiner Hand zwei nörgelnde Kinder... Ich ließ mich
überreden und Opa kaufte für Ada und Vianne mit Schokolade überzogene Bananen,
Luke bekam einen grellroten Zuckerapfel. Dabei wollten wir doch Zucker so gut
wie möglich vermeiden. Zucker war pure Energie für den Tumor. Aber sollten wir
Vianne vor der Operation nicht so viel Freude wie möglich machen? Auf der
anderen Seite rebellierte mein schlechtes Gewissen
wegen dieses Zucker-Schocks. Vianne quengelte weiter, die Banane schmecke
nicht, sie wolle etwas anderes von der Süßigkeitenbude. Gereizt meckerte ich
sie an, dass der ganze Zucker sowieso reiner Mist und absolut schädlich und
krankmachend sei und sie nichts bekommen werde, erst recht nichts Neues, und
dass.... Ich konnte mich selbst nicht mehr hören, konnte aber auch nicht
aufhören. Ich war außer mir, verzweifelt, Vianne brach in Tränen aus, meine
Eltern waren geschockt von meinem Ausbruch, machten sich Sorgen um uns alle.
Luke ließ Vianne mitfühlend an seinem Zuckerapfel lecken. Jetzt pflaumte ich
auch noch Ada und Luke an, sie sollten ihre Sachen bitte sofort wegpacken.
Alles landete letztendlich im Müll. Auf der Heimfahrt waren alle sehr still.
Heute
ging es etwas besser. Wir haben meinen Schwager beim Mountainbike-Rennen
angefeuert. Es tat gut, meine Familie und auch gute Freunde vorher noch einmal
zu sehen. Oma und Opa verwöhnten uns nach Strich und Faden - mit zuckerfreiem
Apfelkuchen. Am Abend ließen wir die Zwillinge noch lange auf dem Trampolin
toben. Ich stand davor und beobachtete die beiden. Meine Augen wurden feucht.
Würde Vianne nach übermorgen jemals wieder Trampolin springen können. Plötzlich
stand Luke weinend neben mir – er hatte den gleichen Gedankengang. Ich drückte
ihn ganz fest und sprach ruhig mit ihm. Dann kletterten Luke und ich zu den
Mädels aufs Trampolin und alberten mit ihnen gemeinsam herum. Wir waren die
"Katzen", die mit geschlossenen Augen Ada und Vianne auf dem
Trampolin fangen mussten. Wir kullerten und purzelten übereinander
und lachten und kicherten. Es tat gut. Danach spielten wir mehrere Runden
Kinder-Uno, bevor es eine letzte ausführliche gemeinsame Gute-Nacht-Geschichte
gab. Wir sollten die Operation übermorgen als Chance sehen! Das Scheißding muss
raus! Am besten komplett! Ohne Schädigung des Rückenmarks! Und jetzt muss ich
alle weiteren Gedanken aus meinem Kopf verbannen, damit ich nicht durchdrehe.
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