Echtzeit! 17. November 2014
Am
Wochenende ist meine Strategie des "Nichts-wissen-wollen(s)" sehr gut
aufgegangen - besser unwissend, als das Wissen in mir zu tragen, dass ein neuer
Tumor auf das Rückenmark meiner Tochter drückt. Diese Schonzeit wollte ich mir,
wollte ich uns geben. Ich verbot es mir, am Freitag in der Klinik anzurufen.
Sollten sie sich doch melden, wenn es etwas Neues gibt. Wenn es dringend ist,
würden wir es sowieso bald erfahren. Lassen wir den Dingen doch einfach mal
ihren natürlichen Lauf. Wie herrlich es ist, die Gedanken beiseite zu schieben,
wie befreiend es ist, nicht aktiv einzuwirken. Aber ich kann mich nicht selbst
täuschen, jedenfalls nicht längerfristig. Bereits Sonntagabend bröckelte diese
Phase der Inaktivität. Ich wäre auch nicht ich, wenn diese Fassade keine Risse
bekommen hätte. Meine Finger huschten abends eifrig über die Laptop-Tastatur, als
ich versuchte, mich wiederholt in die Ependymome und speziell in die
Molekularbiologie einzuarbeiten, um Viannes Tumorzellen besser verstehen zu
können. Um begreifen zu können, wie sie das Immunsystem überlisten, wie sie
sich über den natürlichen Zelltod hinwegsetzen, wo genau der Bruchstückverlust auf dem Chromosomenfaden
ist, was genau die Aufgabe dieser fehlenden Proteine ist. Natürlich kapierte
ich nur einen Bruchteil und ich kann aus dem Verständnis von RELA-Fusion und
homozygoter Deletion von CDKN2A noch keine wirklichen Rückschlüsse ziehen, aber
ich begreife im Ansatz, dass wir an mehreren Fronten kämpfen müssen, um den
Tumorzellen Herr zu werden. Leider hat sie an sehr wichtigen Schaltstellen Zugewinne
bzw. Verluste, die das Tumorwachstum begünstigen. Aber nur wer seinen Gegner
kennt, weiß, welche Schwächen er hat. Das Problem an der Sache ist nur, dass
auch die schlauesten Köpfe noch nicht im Detail wissen, was da vor sich geht
bzw. wie sie dem entgegenwirken können.
Heute
Morgen fühlte ich mich wie gelähmt. Ich tat unnötige Dinge, um mich abzulenken,
schielte andauernd auf's Telefon. Ich versuchte mir vorzumachen, ich könnte
weiter nichts wissen wollen. Aber mein Unterbewusstsein sagte mir kräftig die
Wacht an. Ich fühlte mich nur noch matt und zerschlagen von dieser auferzwungenen
Passivität. Bis halb drei redete ich mir ein, sowieso keinen Arzt wegen
Mittagspause und anschließender Konferenz erreichen zu können. Um drei griff
ich zum Telefon. Dr. B. sei gerade im Gespräch, er würde mich zurückrufen. Ich
bekam zumindest die Blutwerte: sie waren gut. Ich freute mich darüber.
Gleichzeitig schoss mir durch den Kopf, dass ich bei diesen Werten keine
Ausrede hatte, um das Chemotherapeutikum noch eine Woche nach hinten zu
verschieben. Heute Abend mussten wir wieder starten.
Ich ging mit Ada und
Vianne in den Garten, ein bisschen aufräumen, Blätter aufsammeln, Farnbüschel abschneiden...
Die Mädchen waren so laut, stritten ausdauernd, machten nur Blödsinn, rannten
ständig rein und wieder raus und irgendwann weg. Ich schimpfte. Dr. B. rief an.
"Es ist unscharf!" Was? Das Ergebnis? Die Bilder? Die Ansichten?
WAS???? Vianne habe sich zu sehr bewegt (sie hat gezuckt, als sie im MRT eingeschlafen
ist und leider ist man im Schlaf nicht so richtig Herr über seine Bewegungen).
"Ein Bereich hat Kontrastmittel angereichert, da sehen wir einen Schatten.
Auf der Schichtaufnahme ist dieser Schatten aber nicht da." Und nun? Wir
sollten eventuell ein neues MRT machen. "Ein Radiologe meint, er würde einen
neuen Tumor sehen, der Kinderradiologe meint, der Fleck sei ein
Aufnahmefehler", erklärte Dr. B. Ich versuchte, klar zu denken. Machte
eine neue Aufnahme Sinn? Dr. B. schlug ein erneutes MRT unter Narkose vor. Ich hingegen
schlug vor, eine Teilaufnahme des unsicheren Bereichs - ohne Narkose - zu
machen. Ich hörte ihm an, dass er ebenso unentschlossen bezüglich des weiteren
Vorgehens war wie ich. Oder sollten wir die Aufnahmen abwarten, die sowieso vor
der anstehenden Bestrahlung gemacht würden? Er wolle noch einmal Rücksprache mit
dem befundenden Kinderradiologen halten. Jetzt wussten wir auch, warum wir
dieses Mal erst so spät ein "Ergebnis" bekommen hatten: weil es kein
Ergebnis gab. Die Experten hatten lange diskutiert, ohne eine eindeutige
Aussage treffen zu können. Scheiß Schwebezustand. Zum Glück fiel mir während
des Telefonats noch ein, dass wir dringend neue Rezepte für zwei Medikamente
gegen die Übelkeit durch die Chemo
bräuchten. Ich setzte an: "Äh, bevor ich es vergesse, wir brauchen
noch...." Dr. B. fiel mir ins Wort: "Akazienhonig?", fragte er
verschmitzt. Ich hatte ihm damals erzählt, dass Vianne das Temodal immer mit Akazienhonig
nimmt. Ich musste lauthals loslachen - trotz des trüben Himmels, trotz der
schmierigen verwelkten
Blätter zu meinen Füßen, trotz des Regens, der mittlerweile auf mich nieder tröpfelte,
trotz dieser unscharfen Ergebnisse.
Auch
hinsichtlich der anstehenden Bestrahlung, ob in Düsseldorf oder doch in Essen
mit Protonen, gab es noch kein klares Bild. Am Abend erfuhren wir dann, dass
auch das Protonentherapie-Zentrum einen Rückzieher gemacht hat. Sie würden es
dieses Jahr nicht mehr schaffen, insbesondere nicht, da es sich um ein Pilotprojekt
handeln würde. Die Physiker müssten erst noch weitere Berechnungen anstellen.
Dann gab es wohl angeblich noch die Aussage, dass sie bei einem
Pilotversuch nicht mit so einem schwierigen Fall wie Vianne starten
sollten. Okay. Ich kann es nicht beurteilen. Dann auf nach Düsseldorf! Morgen
sollen wir Kontakt aufnehmen. "Die Zeit drängt", betonen die
Dortmunder. Ich muss aber erst noch ein paar Mal tief durchatmen... Meine
Gedanken hinsichtlich der Bestrahlung sind - unscharf.
Wir
werden das MRT in den nächsten Tagen wiederholen.
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