Gesamtzahl der Seitenaufrufe

1. November 2016

Unscharf



Echtzeit! 17. November 2014


Am Wochenende ist meine Strategie des "Nichts-wissen-wollen(s)" sehr gut aufgegangen - besser unwissend, als das Wissen in mir zu tragen, dass ein neuer Tumor auf das Rückenmark meiner Tochter drückt. Diese Schonzeit wollte ich mir, wollte ich uns geben. Ich verbot es mir, am Freitag in der Klinik anzurufen. Sollten sie sich doch melden, wenn es etwas Neues gibt. Wenn es dringend ist, würden wir es sowieso bald erfahren. Lassen wir den Dingen doch einfach mal ihren natürlichen Lauf. Wie herrlich es ist, die Gedanken beiseite zu schieben, wie befreiend es ist, nicht aktiv einzuwirken. Aber ich kann mich nicht selbst täuschen, jedenfalls nicht längerfristig. Bereits Sonntagabend bröckelte diese Phase der Inaktivität. Ich wäre auch nicht ich, wenn diese Fassade keine Risse bekommen hätte. Meine Finger huschten abends eifrig über die Laptop-Tastatur, als ich versuchte, mich wiederholt in die Ependymome und speziell in die Molekularbiologie einzuarbeiten, um Viannes Tumorzellen besser verstehen zu können. Um begreifen zu können, wie sie das Immunsystem überlisten, wie sie sich über den natürlichen Zelltod hinwegsetzen, wo genau der  Bruchstückverlust auf dem Chromosomenfaden ist, was genau die Aufgabe dieser fehlenden Proteine ist. Natürlich kapierte ich nur einen Bruchteil und ich kann aus dem Verständnis von RELA-Fusion und homozygoter Deletion von CDKN2A noch keine wirklichen Rückschlüsse ziehen, aber ich begreife im Ansatz, dass wir an mehreren Fronten kämpfen müssen, um den Tumorzellen Herr zu werden. Leider hat sie an sehr wichtigen Schaltstellen Zugewinne bzw. Verluste, die das Tumorwachstum begünstigen. Aber nur wer seinen Gegner kennt, weiß, welche Schwächen er hat. Das Problem an der Sache ist nur, dass auch die schlauesten Köpfe noch nicht im Detail wissen, was da vor sich geht bzw. wie sie dem entgegenwirken können.

Heute Morgen fühlte ich mich wie gelähmt. Ich tat unnötige Dinge, um mich abzulenken, schielte andauernd auf's Telefon. Ich versuchte mir vorzumachen, ich könnte weiter nichts wissen wollen. Aber mein Unterbewusstsein sagte mir kräftig die Wacht an. Ich fühlte mich nur noch matt und zerschlagen von dieser auferzwungenen Passivität. Bis halb drei redete ich mir ein, sowieso keinen Arzt wegen Mittagspause und anschließender Konferenz erreichen zu können. Um drei griff ich zum Telefon. Dr. B. sei gerade im Gespräch, er würde mich zurückrufen. Ich bekam zumindest die Blutwerte: sie waren gut. Ich freute mich darüber. Gleichzeitig schoss mir durch den Kopf, dass ich bei diesen Werten keine Ausrede hatte, um das Chemotherapeutikum noch eine Woche nach hinten zu verschieben. Heute Abend mussten wir wieder starten. 
Ich ging mit Ada und Vianne in den Garten, ein bisschen aufräumen, Blätter aufsammeln, Farnbüschel abschneiden... Die Mädchen waren so laut, stritten ausdauernd, machten nur Blödsinn, rannten ständig rein und wieder raus und irgendwann weg. Ich schimpfte. Dr. B. rief an. "Es ist unscharf!" Was? Das Ergebnis? Die Bilder? Die Ansichten? WAS???? Vianne habe sich zu sehr bewegt (sie hat gezuckt, als sie im MRT eingeschlafen ist und leider ist man im Schlaf nicht so richtig Herr über seine Bewegungen). "Ein Bereich hat Kontrastmittel angereichert, da sehen wir einen Schatten. Auf der Schichtaufnahme ist dieser Schatten aber nicht da." Und nun? Wir sollten eventuell ein neues MRT machen. "Ein Radiologe meint, er würde einen neuen Tumor sehen, der Kinderradiologe meint, der Fleck sei ein Aufnahmefehler", erklärte Dr. B. Ich versuchte, klar zu denken. Machte eine neue Aufnahme Sinn? Dr. B. schlug ein erneutes MRT unter Narkose vor. Ich hingegen schlug vor, eine Teilaufnahme des unsicheren Bereichs - ohne Narkose - zu machen. Ich hörte ihm an, dass er ebenso unentschlossen bezüglich des weiteren Vorgehens war wie ich. Oder sollten wir die Aufnahmen abwarten, die sowieso vor der anstehenden Bestrahlung gemacht würden? Er wolle noch einmal Rücksprache mit dem befundenden Kinderradiologen halten. Jetzt wussten wir auch, warum wir dieses Mal erst so spät ein "Ergebnis" bekommen hatten: weil es kein Ergebnis gab. Die Experten hatten lange diskutiert, ohne eine eindeutige Aussage treffen zu können. Scheiß Schwebezustand. Zum Glück fiel mir während des Telefonats noch ein, dass wir dringend neue Rezepte für zwei Medikamente gegen die Übelkeit durch die Chemo bräuchten. Ich setzte an: "Äh, bevor ich es vergesse, wir brauchen noch...." Dr. B. fiel mir ins Wort: "Akazienhonig?", fragte er verschmitzt. Ich hatte ihm damals erzählt, dass Vianne das Temodal immer mit Akazienhonig nimmt. Ich musste lauthals loslachen - trotz des trüben Himmels, trotz der schmierigen verwelkten Blätter zu meinen Füßen, trotz des Regens, der mittlerweile auf mich nieder tröpfelte, trotz dieser unscharfen Ergebnisse.

Auch hinsichtlich der anstehenden Bestrahlung, ob in Düsseldorf oder doch in Essen mit Protonen, gab es noch kein klares Bild. Am Abend erfuhren wir dann, dass auch das Protonentherapie-Zentrum einen Rückzieher gemacht hat. Sie würden es dieses Jahr nicht mehr schaffen, insbesondere nicht, da es sich um ein Pilotprojekt handeln würde. Die Physiker müssten erst noch weitere Berechnungen anstellen. Dann gab es wohl angeblich noch die Aussage, dass sie bei einem Pilotversuch nicht mit so einem schwierigen Fall wie Vianne starten sollten. Okay. Ich kann es nicht beurteilen. Dann auf nach Düsseldorf! Morgen sollen wir Kontakt aufnehmen. "Die Zeit drängt", betonen die Dortmunder. Ich muss aber erst noch ein paar Mal tief durchatmen... Meine Gedanken hinsichtlich der Bestrahlung sind - unscharf.

Wir werden das MRT in den nächsten Tagen wiederholen.




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen