Donnerstag, 23.
April - nachmittags:
Im
schlimmsten Fall habe ich mir ausgemalt, dass der Resttumor im Kopf in der
Zwischenzeit gewachsen ist, schließlich haben wir dort nicht therapeutisch
behandelt, während der kleine Bereich am Rücken bestrahlt wurde. Aber ich
erhoffte mir zumindest eine kleine Wirkung durch den energetischen Heiler. Dass
aber nicht nur der Resttumor merklich größer geworden ist, sondern sich zudem
in diesem kurzen Zeitraum drei weitere Tumore gebildet haben, hat mich förmlich
umgehauen. Wie geht man mit so einer Nachricht um: gar nicht. Ich war dermaßen
schockiert, dass ich kaum handlungsfähig war. Die Psychologin betreute Vianne,
während ich mir die verheerenden MRT-Bilder am Monitor anschaute. Wie groß die
grauen Flecken bereits aussahen, wie deutlich sie zu erkennen waren. Sie müssen
seit Februar gewachsen sein. "Wir haben gerade einmal April", fuhr es
mir durch den Kopf. So schnell! So viele! Wir wollten ins Legoland, wir wollten
Geburtstag feiern und uns erst am Montag (also heute) der MRT-Wahrheit
stellen. Und nun? "Wenn sie wollen, können sie ruhig fahren", sagte
Dr. B. Aktuell sei Vianne nicht gefährdet. Ich konnte es kaum glauben und
fragte deshalb noch mal nach. Ich hatte mich nicht verhört. Ja, wir wollten
dorthin und ich war ehrlich gesagt erleichtert, dass von medizinischer Seite
keine Einwände bestanden.
Dr.
B. nahm sich unglaublich viel Zeit, Zeit, die ich dringend brauchte, um auch
nur ansatzweise das Gehörte zu verdauen. Vianne spielte scheinbar unbekümmert
mit der Psychologin im Spielzimmer. Ich saß da mit Tränen in den Augen, mit
Tränen auf den Wangen, mit verrotzter Nase - in einem Zustand, in dem man nicht
unbedingt gesehen werden will, in dem man sich am besten ganz tief unter der
Bettdecke verkriechen möchte. Aber eigentlich war es so egal.... Irgendwie kann
ich mich nur noch schleierhaft an diese paar Stunden am Nachmittag erinnern.
Ich weiß noch, dass ich nach Zeit fragte. Wie viel Zeit wir hätten, wann es mit
den richtig üblen Auswirkungen losgehen würde, was wir zu erwarten hätten?
Irgendwas von sechs bis acht Wochen geistert mir durch den Kopf, Dinge wie
"es kann sein, dass sie irgendwann ihre Spucke nicht mehr schlucken kann." "Ich weiß nicht, ob ich das aushalten kann", stöhnte ich auf -
mehrmals. Die Tür ging auf, Vianne hüpfte in den Raum. "Mama, guck mal, ich
habe mir einen bunten Saft gemixt", rief sie erfreut. "Möchtest du
auch einen?" Sie schaute mich erwartungsfroh an. Das
"Fruchtalarm-Team" war gerade auf Station. "Welche Sorten magst
du?", wollte sie wissen. Ich dachte nach, welche Fruchtsorte ich
eigentlich mochte. Mir fiel keine ein. Ich nannte ihr irgendeine. Mir war
schlecht. Die Tür schloss sich wieder. Wir sollten noch am selben Tag mit dem
neuen Medikament beginnen: Erivedge. Die Krankenkasse hatte sich noch nicht
abschließend zur Kostenübernahme geäußert, der Verein "Ein Herz für
Kinder" wollte im Falle einer Absage erst einmal übernehmen. Aber wir hatten
ja noch keine Absage. Dr. B. leitete alles in die Wege, klärte, telefonierte -
ich hätte nicht mehr die Kraft dazu gehabt. Am Abend konnten wir das Medikament
aus unserer Apotheke abholen. Zudem spannte das Klinikum ein Hilfsnetzwerk um
uns. Über den sozialen Dienst wird eine Kinderkrankenschwester organisiert, die
zu einem nach Hause kommt und anleitet und unterstützt, später dann ein
Palliativdienst. Das Sterben mit all seinen Begleitern rückt plötzlich so nahe.
Zu nah. Mein erster Gedanke war, dieses Netzwerk abzuweisen. Nicht, weil wir es
nicht brauchen, nicht, weil wir es nicht gut finden, sondern weil wir es
einfach nicht ertragen, weil wir den Gedanken an das wohl Kommende nicht
ertragen.
Irgendwann
machte ich mich auf den Heimweg. Vianne wirkte so normal. Ich fand es an der
Zeit, mit ihr zu sprechen. Sie wurde in wenigen Tagen sechs Jahre alt. Wenn
jemand ein Anrecht auf die Wahrheit hat, dann sie. Sie hatte mich verzweifelt
gesehen - was sollte ich ihr auch vormachen? Ich sagte, dass ich unglaublich traurig
sei, weil nicht nur der Resttumor in ihrem Kopf gewachsen sei, sondern noch ein
paar weitere. "Hat der freche Wicht Kinder gekriegt?", wollte sie
wissen. "Ja, viele", antwortete ich. Ich fragte sie, ob sie noch einmal
ein Medikament ausprobieren wolle, mit dem wir den frechen Wicht vielleicht
noch etwas aufhalten und im besten Fall sogar besiegen können. Mir war es
wichtig, sie in die Entscheidung einzubeziehen. Sie hatte schon beim Temodal
geschrien, dass wir sie nicht dazu zwingen können, die Tablette zu schlucken. "Nein,
ich will nicht", sagte sie bestimmt. Ich erklärte, dass es aber sehr
wichtig sei, das Medikament auszuprobieren.
"Warum?", fragte sie. "Weil du sonst sehr wahrscheinlich sterben wirst", sagte ich
äußerlich betont ruhig, aber innerlich nach Fassung ringend. Sie hingegen
wirkte vollkommen gefasst. "Gut, dann überlege
ich es mir noch einmal." Während der restlichen Fahrt war sie sehr ruhig, nicht wirklich beunruhigt, sie schien
nur sehr nachdenklich. "Und?", hakte ich später nach mit dem Hinweis,
dass wir wenn noch heute starten müssten. "Na gut", meinte sie leicht
genervt. "Komm, wir schaffen das, wir geben nicht auf", keimte kurz
der gewohnte Kampfgeist in mir auf, "ich will nicht, dass der freche Wicht
gewinnt. "Mama, das wollte ich nur von dir hören", grinste mich die
Maus an.
Micha
hatte zu Hause die Stellung gehalten, als ich in der Klinik war. Er ahnte
schon, was kommen würde. Ich erzählte ihm schweren Herzens von den neuen
Ergebnissen. Wir sagten allen Kindern die ganze Wahrheit - dass Vianne
wahrscheinlich sterben wird. Um sie zu schützen - vor dem, was noch auf sie,
auf uns alle zukommen wird. Je eher sie sich an den Gedanken gewöhnen, desto
besser. Wir wollen uns nicht mehr an die Hoffnung klammern. Wir haben nicht aufgegeben,
wir sind es nur leid, immer wieder tief zu fallen. "Aber ich kann nicht
ohne Vianne spielen", meinte Ada leise...
Micha
und ich beschlossen, am nächsten Tag mit den Kindern Richtung Legoland zu
fahren. Die Ferienwohnungen waren gebucht, die Tickets bestellt. Wir sagten der
restlichen Familie erst einmal nichts von den MRT-Aufnahmen - das hatte Zeit
bis nach der Geburtstagsfeier. Noch am Donnerstagabend packten wir ein paar
Sachen zusammen, klärten die Katzenbetreuung und verschlossen unsere Ängste.
Freitagmorgen ging es los...
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