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22. Dezember 2016

Echtzeit! Fortsetzung: Tiefer Fall



Donnerstag, 23. April - nachmittags:


Im schlimmsten Fall habe ich mir ausgemalt, dass der Resttumor im Kopf in der Zwischenzeit gewachsen ist, schließlich haben wir dort nicht therapeutisch behandelt, während der kleine Bereich am Rücken bestrahlt wurde. Aber ich erhoffte mir zumindest eine kleine Wirkung durch den energetischen Heiler. Dass aber nicht nur der Resttumor merklich größer geworden ist, sondern sich zudem in diesem kurzen Zeitraum drei weitere Tumore gebildet haben, hat mich förmlich umgehauen. Wie geht man mit so einer Nachricht um: gar nicht. Ich war dermaßen schockiert, dass ich kaum handlungsfähig war. Die Psychologin betreute Vianne, während ich mir die verheerenden MRT-Bilder am Monitor anschaute. Wie groß die grauen Flecken bereits aussahen, wie deutlich sie zu erkennen waren. Sie müssen seit Februar gewachsen sein. "Wir haben gerade einmal April", fuhr es mir durch den Kopf. So schnell! So viele! Wir wollten ins Legoland, wir wollten Geburtstag feiern und uns erst am Montag (also heute) der MRT-Wahrheit stellen. Und nun? "Wenn sie wollen, können sie ruhig fahren", sagte Dr. B. Aktuell sei Vianne nicht gefährdet. Ich konnte es kaum glauben und fragte deshalb noch mal nach. Ich hatte mich nicht verhört. Ja, wir wollten dorthin und ich war ehrlich gesagt erleichtert, dass von medizinischer Seite keine Einwände bestanden.

Dr. B. nahm sich unglaublich viel Zeit, Zeit, die ich dringend brauchte, um auch nur ansatzweise das Gehörte zu verdauen. Vianne spielte scheinbar unbekümmert mit der Psychologin im Spielzimmer. Ich saß da mit Tränen in den Augen, mit Tränen auf den Wangen, mit verrotzter Nase - in einem Zustand, in dem man nicht unbedingt gesehen werden will, in dem man sich am besten ganz tief unter der Bettdecke verkriechen möchte. Aber eigentlich war es so egal.... Irgendwie kann ich mich nur noch schleierhaft an diese paar Stunden am Nachmittag erinnern. Ich weiß noch, dass ich nach Zeit fragte. Wie viel Zeit wir hätten, wann es mit den richtig üblen Auswirkungen losgehen würde, was wir zu erwarten hätten? Irgendwas von sechs bis acht Wochen geistert mir durch den Kopf, Dinge wie "es kann sein, dass sie irgendwann ihre Spucke nicht mehr schlucken kann." "Ich weiß nicht, ob ich das aushalten kann", stöhnte ich auf - mehrmals. Die Tür ging auf, Vianne hüpfte in den Raum. "Mama, guck mal, ich habe mir einen bunten Saft gemixt", rief sie erfreut. "Möchtest du auch einen?" Sie schaute mich erwartungsfroh an. Das "Fruchtalarm-Team" war gerade auf Station. "Welche Sorten magst du?", wollte sie wissen. Ich dachte nach, welche Fruchtsorte ich eigentlich mochte. Mir fiel keine ein. Ich nannte ihr irgendeine. Mir war schlecht. Die Tür schloss sich wieder. Wir sollten noch am selben Tag mit dem neuen Medikament beginnen: Erivedge. Die Krankenkasse hatte sich noch nicht abschließend zur Kostenübernahme geäußert, der Verein "Ein Herz für Kinder" wollte im Falle einer Absage erst einmal übernehmen. Aber wir hatten ja noch keine Absage. Dr. B. leitete alles in die Wege, klärte, telefonierte - ich hätte nicht mehr die Kraft dazu gehabt. Am Abend konnten wir das Medikament aus unserer Apotheke abholen. Zudem spannte das Klinikum ein Hilfsnetzwerk um uns. Über den sozialen Dienst wird eine Kinderkrankenschwester organisiert, die zu einem nach Hause kommt und anleitet und unterstützt, später dann ein Palliativdienst. Das Sterben mit all seinen Begleitern rückt plötzlich so nahe. Zu nah. Mein erster Gedanke war, dieses Netzwerk abzuweisen. Nicht, weil wir es nicht brauchen, nicht, weil wir es nicht gut finden, sondern weil wir es einfach nicht ertragen, weil wir den Gedanken an das wohl Kommende nicht ertragen.

Irgendwann machte ich mich auf den Heimweg. Vianne wirkte so normal. Ich fand es an der Zeit, mit ihr zu sprechen. Sie wurde in wenigen Tagen sechs Jahre alt. Wenn jemand ein Anrecht auf die Wahrheit hat, dann sie. Sie hatte mich verzweifelt gesehen - was sollte ich ihr auch vormachen? Ich sagte, dass ich unglaublich traurig sei, weil nicht nur der Resttumor in ihrem Kopf gewachsen sei, sondern noch ein paar weitere. "Hat der freche Wicht Kinder gekriegt?", wollte sie wissen. "Ja, viele", antwortete ich. Ich fragte sie, ob sie noch einmal ein Medikament ausprobieren wolle, mit dem wir den frechen Wicht vielleicht noch etwas aufhalten und im besten Fall sogar besiegen können. Mir war es wichtig, sie in die Entscheidung einzubeziehen. Sie hatte schon beim Temodal geschrien, dass wir sie nicht dazu zwingen können, die Tablette zu schlucken. "Nein, ich will nicht", sagte sie bestimmt. Ich erklärte, dass es aber sehr wichtig sei, das  Medikament auszuprobieren. "Warum?", fragte sie. "Weil du sonst sehr  wahrscheinlich sterben wirst", sagte ich äußerlich betont ruhig, aber innerlich nach Fassung ringend. Sie hingegen wirkte vollkommen gefasst. "Gut, dann überlege ich es mir noch einmal." Während der restlichen Fahrt war sie sehr  ruhig, nicht wirklich beunruhigt, sie schien nur sehr nachdenklich. "Und?", hakte ich später nach mit dem Hinweis, dass wir wenn noch heute starten müssten. "Na gut", meinte sie leicht genervt. "Komm, wir schaffen das, wir geben nicht auf", keimte kurz der gewohnte Kampfgeist in mir auf, "ich will nicht, dass der freche Wicht gewinnt. "Mama, das wollte ich nur von dir hören", grinste mich die Maus an.

Micha hatte zu Hause die Stellung gehalten, als ich in der Klinik war. Er ahnte schon, was kommen würde. Ich erzählte ihm schweren Herzens von den neuen Ergebnissen. Wir sagten allen Kindern die ganze Wahrheit - dass Vianne wahrscheinlich sterben wird. Um sie zu schützen - vor dem, was noch auf sie, auf uns alle zukommen wird. Je eher sie sich an den Gedanken gewöhnen, desto besser. Wir wollen uns nicht mehr an die Hoffnung klammern. Wir haben nicht aufgegeben, wir sind es nur leid, immer wieder tief zu fallen. "Aber ich kann nicht ohne Vianne spielen", meinte Ada leise...

Micha und ich beschlossen, am nächsten Tag mit den Kindern Richtung Legoland zu fahren. Die Ferienwohnungen waren gebucht, die Tickets bestellt. Wir sagten der restlichen Familie erst einmal nichts von den MRT-Aufnahmen - das hatte Zeit bis nach der Geburtstagsfeier. Noch am Donnerstagabend packten wir ein paar Sachen zusammen, klärten die Katzenbetreuung und verschlossen unsere Ängste. Freitagmorgen ging es los...


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