Rückblick: Freitag, 17. August, mittags
Aber
Prof. N bedrängte uns in keiner Form. Er ließ Fakten und Erfahrung sprechen.
Wir baten um Bedenkzeit. Es war schlimm, eine Entscheidung von solcher
Tragweite in einem relativ kurzen Zeitraum treffen zu müssen, zumal wir diese
Entscheidung nicht für uns selbst zu treffen hatten, sondern für unser dreijähriges
Mädchen. Es sollten noch viele wichtige Entscheidungen hinzukommen in den
nächsten Monaten. Wir mussten nachdenken, den Rücken freihaben, umringt von
unseren vier Kindern war es so schwer, sich zu konzentrieren. Am liebsten hätte
ich Vianne ununterbrochen im Arm gehalten. Aber da waren auch noch Jesse, Luke
und Ada, die völlig verstört wirkten. Ich war so froh, dass Micha an meiner
Seite war. Was machen Alleinerziehende in solch einer Situation? Wir konnten
zumindest gemeinsam eine Entscheidung tragen,
und diese Last war schon schwer genug. Was ich noch weiß ist, dass wir ganz
viel Recherche betrieben haben. Wir haben im Internet nach der Neurochirurgie
in Kiel gesucht, wir haben Ärzte aus unserem Bekanntenkreis angerufen und um
Rat gefragt. Wir fanden heraus, dass die Uniklinik Kiel eines der größeren neurochirurgischen
Zentren in Deutschland ist und auch insbesondere mit Kindern gute
Erfahrungswerte hat. Welch Glück im Unglück. Unsere Entscheidung war gefallen.
Wir würden mit Vianne hierbleiben. Wir informierten
Prof. N. Aber erst musste er uns noch eine Frage beantworten: „Wo würden Sie
ihr Kind operieren lassen, wenn es einen Hirntumor hätte? Im Nachhinein wirkt
diese Frage vielleicht auf manch einen pietätlos, wir wollten aber eine
ehrliche Antwort, nicht nur aus Ärztesicht, sondern aus der Sicht eines Vaters.
„Ich könnte mein Kind nicht selbst operieren, ich würde zu Prof. S nach Essen
gehen, ein hervorragender Neurochirurg.“ Diese Antwort machte uns nochmals
deutlich, dass er uns nicht aus egoistischen Gründen dabehalten wollte, sondern
als verantwortungsvoller Mensch. Ab diesem Moment vertraute ich ihm aus tiefstem
Herzen - und das tue ich auch heute noch.
Nach
dem Mittag sollte das Planungsgespräch für die Operation stattfinden. Irgendwie
beschäftigten wir die vier Kinder, wir wichen Vianne nicht von der Seite. Die
Kinder waren viel zu ruhig, sie stritten noch nicht einmal. Abwechselnd
verschwanden Micha und ich im Spielzimmer, das meistens ganz leer war, weil derzeit
kein weiteres Kind auf der Station war. Dann weinten oder telefonierten wir
oder wir weinten und telefonierten gleichzeitig, denn den Kindern wollten wir
unsere tiefe Verzweiflung nicht zeigen. Wir wussten, dass Hilfe nahte, meine
Schwester und mein Schwager waren schon auf dem Weg. Irgendwann kam die
Krankenschwester
ins Zimmer und benachrichtigte uns, dass das Aufklärungsgespräch zur OP
beginnen könne. Fast im selben Moment stand Andi vor uns. „Ich bin hier, Ralf sucht noch
einen Parkplatz“, sagte sie atemlos und drückte mich ganz fest - genau im
richtigen Moment. Ich wollte die vier nicht in der Obhut einer fremden Krankenschwester
lassen. Ich war hektisch, deshalb wechselten Andi und ich nur wenige Worte.
Mehr war auch gar nicht nötig. Micha und ich gingen ins Besprechungszimmer.
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