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14. Juni 2016

Genau im richtigen Moment




Rückblick: Freitag, 17. August, mittags

Aber Prof. N bedrängte uns in keiner Form. Er ließ Fakten und Erfahrung sprechen. Wir baten um Bedenkzeit. Es war schlimm, eine Entscheidung von solcher Tragweite in einem relativ kurzen Zeitraum treffen zu müssen, zumal wir diese Entscheidung nicht für uns selbst zu treffen hatten, sondern für unser dreijähriges Mädchen. Es sollten noch viele wichtige Entscheidungen hinzukommen in den nächsten Monaten. Wir mussten nachdenken, den Rücken freihaben, umringt von unseren vier Kindern war es so schwer, sich zu konzentrieren. Am liebsten hätte ich Vianne ununterbrochen im Arm gehalten. Aber da waren auch noch Jesse, Luke und Ada, die völlig verstört wirkten. Ich war so froh, dass Micha an meiner Seite war. Was machen Alleinerziehende in solch einer Situation? Wir konnten zumindest gemeinsam eine Entscheidung tragen, und diese Last war schon schwer genug. Was ich noch weiß ist, dass wir ganz viel Recherche betrieben haben. Wir haben im Internet nach der Neurochirurgie in Kiel gesucht, wir haben Ärzte aus unserem Bekanntenkreis angerufen und um Rat gefragt. Wir fanden heraus, dass die Uniklinik Kiel eines der größeren neurochirurgischen Zentren in Deutschland ist und auch insbesondere mit Kindern gute Erfahrungswerte hat. Welch Glück im Unglück. Unsere Entscheidung war gefallen. Wir würden mit Vianne hierbleiben. Wir informierten Prof. N. Aber erst musste er uns noch eine Frage beantworten: „Wo würden Sie ihr Kind operieren lassen, wenn es einen Hirntumor hätte? Im Nachhinein wirkt diese Frage vielleicht auf manch einen pietätlos, wir wollten aber eine ehrliche Antwort, nicht nur aus Ärztesicht, sondern aus der Sicht eines Vaters. „Ich könnte mein Kind nicht selbst operieren, ich würde zu Prof. S nach Essen gehen, ein hervorragender Neurochirurg.“ Diese Antwort machte uns nochmals deutlich, dass er uns nicht aus egoistischen Gründen dabehalten wollte, sondern als verantwortungsvoller Mensch. Ab diesem Moment vertraute ich ihm aus tiefstem Herzen - und das tue ich auch heute noch.
Nach dem Mittag sollte das Planungsgespräch für die Operation stattfinden. Irgendwie beschäftigten wir die vier Kinder, wir wichen Vianne nicht von der Seite. Die Kinder waren viel zu ruhig, sie stritten noch nicht einmal. Abwechselnd verschwanden Micha und ich im Spielzimmer, das meistens ganz leer war, weil derzeit kein weiteres Kind auf der Station war. Dann weinten oder telefonierten wir oder wir weinten und telefonierten gleichzeitig, denn den Kindern wollten wir unsere tiefe Verzweiflung nicht zeigen. Wir wussten, dass Hilfe nahte, meine Schwester und mein Schwager waren schon auf dem Weg. Irgendwann kam die
Krankenschwester ins Zimmer und benachrichtigte uns, dass das Aufklärungsgespräch zur OP beginnen könne. Fast im selben Moment stand  Andi vor uns. „Ich bin hier, Ralf sucht noch einen Parkplatz“, sagte sie atemlos und drückte mich ganz fest - genau im richtigen Moment. Ich wollte die vier nicht in der Obhut einer fremden Krankenschwester lassen. Ich war hektisch, deshalb wechselten Andi und ich nur wenige Worte. Mehr war auch gar nicht nötig. Micha und ich gingen ins Besprechungszimmer.

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