Rückblick: September 2012
Mein
erster Eindruck vom Telefonat bestätigte sich, als Dr. S auf uns zu kam und uns
herzlich begrüßte. Ich fand ihn auch in natura auf Anhieb kompetent und
sympathisch. Er informierte uns, dass sein Oberarzt gleich noch hinzu komme.
"Wie geht es Emma Vianne?", knüpfte er dann an. Ich war beeindruckt
von so viel Feingefühl. Vianne stand an erster Stelle, ihre Behandlung, ihr
Befinden. Mit Anonymität hatte das hier nichts zu tun, wie beruhigend. Dann
betrachtete er die MRT-Bilder, die wir mitgebracht hatten und schien sehr zufrieden.
Er erklärte, dass der Tumor eine günstige Lage gehabt hätte. Bei der noch bevorstehenden
Bestrahlung wären wahrscheinlich alle sensiblen Bereiche wie Sehnerv und
Hirnanhangdrüse nicht in der Bestrahlungsregion bzw. in den Bestrahlungswegen.
Er riet uns zur Chemotherapie, auch wenn deren Nutzen nicht eindeutig bewiesen
ist. Die Chemo sei jedoch eine Möglichkeit, die Zeit bis zum Bestrahlungsbeginn
im Alter von vier Jahren zu überbrücken. Man könne damit eine gute
Tumorkontrolle erlangen, ergänzte er. Jüngere Kinder werden ungern wegen der
gravierenden Spätfolgen bestrahlt, deshalb versucht man, den Bestrahlungsbeginn
so weit wie möglich nach hinten zu schieben. Der früheste Bestrahlungszeitpunkt
liegt bei 18 Monaten, wenn möglich soll aber bis zum vierten Lebensjahr
gewartet werden, da dann erst die Gehirnentwicklung abgeschlossen ist. Geduldig
hörten sich beide Ärzte unsere Fragen an. Als ich wissen wollte, wie lange sie
schon in Dortmund tätig sind und ob sie planen, in nächster Zeit in eine andere
Klinik zu wechseln, sahen sie mich erst etwas verstört, dann aber scheinbar
belustigt an. Ich glaube nicht, dass sie darüber jemals schon von einem
Patienten oder einem Angehörigen befragt worden sind.
Für mich war es aber eine wichtige Frage. Was hätte ich davon, wenn sie mitten
in Viannes Therapie weggingen und unsere Tochter sich wieder an neue Gesichter
gewöhnen müsste. Zudem hatte ich einen sehr guten ersten Eindruck hinsichtlich
ihrer ärztlichen Fähigkeiten. Und ich mochte sie auf Anhieb. Mit diesen Ärzten
konnte ich gut "zusammenarbeiten", und wenn ich sie schon nett fand,
würde Vianne sie auch mögen, da war ich mir ganz sicher. Gerade solch eine
schwere Behandlung hat für mich ganz viel mit gegenseitigem Vertrauen
zu tun. Nachdem fürs Erste alle unsere Fragen geklärt waren - die beiden hatten
sich wirklich viel Zeit für uns genommen und uns nie das Gefühl gegeben, lästig
zu sein - bot man uns einen Rundgang durch die onkologische Station an.
Angespannt folgten wir dem Arzt. Ich hatte Angst vor dem, was mich erwarten würde.
Ich war noch nicht so weit, von Chemotherapie gezeichneten Kindern gegenüber zu
treten. Die Glastür schwang auf. Als erstes nahm ich diesen Geruch wahr, der
mir bis heute bei jedem Besuch auf der Station in die Nase sticht, ein leicht
säuerlicher Geruch, unterlegt mit dem "Duft" von
Desinfektionsmitteln. Ich hätte am liebsten gleich kehrtgemacht. Die Zimmer
sahen nett aus, mit gemütlichen Relax-Sesseln ausgestattet. Hier war die Chance
auf ein Zimmer für uns allein groß. Rechts gab es einen Aufenthaltsraum für die
Jugendlichen, davor ein Spielzimmer für die Kleinen, und daneben die
Elternküche. Ich hörte piepsende Alarmsignale, sah Infusionsständer, Schläuche,
andere Eltern mit ihren Kindern und an den Flurwänden Fotos und bewegende
Dankesbriefe von ehemaligen Patienten. Ich musste hier weg, das war nicht
unsere Welt, das durfte nicht zu unserer Welt werden. Ich sagte nur knapp, dass
ich genug gesehen hätte, und ging eilig und schnurstracks auf den Ausgang zu.
Erst im Treppenhaus konnte ich wieder durchatmen.
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