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15. Juni 2016

Wut und Erleichterung



Rückblick: Minuten später

Ich musste an die Luft, Tränen drängten mit aller Macht nach draußen. Von all dem Diskutieren hatte ich für kurze Zeit gar nicht mehr an den eigentlichen Eingriff gedacht. Doch jetzt, vor dem Krankenhaus, wurde mir schlagartig wieder bewusst, dass der Chirurg gerade einen Schnitt in Viannes Haut macht und einen feinen Schlauch durch ihre Vene zieht. Bitte lass alles gut gehen! Wir tranken einen Latte Macchiato beim Italiener gegenüber. Es half nichts. Ruhe hatten wir keine. Also kehrten wir schon bald auf unser Zimmer auf der Station zurück. Wir warteten. Gefühlte Stunden später durfte einer von uns zu Vianne in den Aufwachraum. Micha kennt mich und weiß, dass ich unbedingt bei ihr sein muss, also ließ er mir den Vortritt. Ich bewundere immer, wie stark er ist. Ich hätte, glaube ich, nicht länger warten können, meine Tochter zu sehen, zu berühren, zu spüren. Wieder einmal flog ich durchs Treppenhaus. Ich klingelte an der Tür zum Aufwachraum, desinfizierte gründlich meine Hände, zog den Kittel über und ging zum Bett meiner Tochter. Ich sah viel Jod auf ihrem Hals und ihrem Oberkörper, und ich sah die steril verpackten Schenkel des Broviak-Katheters. Gerne hätte ich mir die Eintrittsstelle angeguckt, aber sie war unter einem sterilen Pflaster  verborgen. Jetzt steckte ein Schlauch in ihrem Körper. Ich musste positiv denken, er würde ihr viele schmerzhafte Pikse ersparen. Außerdem war er nicht für immer. Irgendwann kam der Chirurg zu uns und erklärte, dass der Eingriff gut verlaufen sei. Nachdem ich nun die Gewissheit hatte, dass es Vianne den Umständen entsprechend gut ging, flackerte wieder diese kaum zu bändigende Wut auf. „Ich möchte sofort mit der Chef-Anästhesistin sprechen“, teilte ich der Schwester unterkühlt mit. Irgendetwas in meiner Stimme ließ sie wohl meine Beharrlichkeit und Starrsinnigkeit spüren. Ich würde diesen Raum nicht eher verlassen, bis ich eine Stellungnahme zu dem Desaster bekommen hatte. Kurz darauf erschien die Chefärztin. Ich hatte beschlossen, beherrscht und sachlich meine Argumente dazulegen. Die Frau war mir zum Glück sympathisch, so hatte ich mich besser im Griff, ich kann nämlich sehr impulsiv und direkt sein, wenn ich jemanden partout nicht mag. Sie hörte sich meine Bedenken und Einwände ruhig an, versuchte erst, ihr Standard-Programm herunter zu leiern (erhöhtes Sicherheitsrisiko, kein Raum vorhanden, hysterische Eltern,…), hörte aber schnell damit auf, als sie merkte, dass meine Argumente nicht vom Tisch zu weisen waren, insbesondere in unserer Situation, da Vianne noch sehr viele Narkosen bekommen würde. Sie selbst würde Eltern bei der Narkoseeinleitung akzeptieren, einige Kollegen jedoch nicht, und denen könne man nicht vorschreiben, wie sie in diesem Fall vorzugehen hätten. Wir verständigten uns darauf, dass bei Vianne möglichst Anästhesisten zum Einsatz kommen, die Eltern zulassen.

Der Begriff „Anästhesie“ stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet übersetzt „ohne Wahrnehmung/Empfindung“ -  da frage ich mich, ob das manche Anästhesisten auf ihr Verhalten beziehen. Wie kann man denn den Eltern ein Kleinkind entreißen, wenn es sich um einen geplanten Eingriff handelt. Im Notfall habe ich dafür vollstes Verständnis, das Leben und die Sicherheit des Kindes, nicht die Befindlichkeit der Eltern, stehen an erster Stelle. Dieses Argument bringen die Anästhesisten auch gerne, wenn es sich um keinen Notfall handelt. Aber keine Statistik noch irgendwelche Erfahrungswerte belegen, dass mehr schief geht, wenn die Eltern bei der Narkoseeinleitung dabei sind. Einige Eltern sind mit Sicherheit auch Störfaktoren oder potentielle Gefahrenquellen, aber ich neige definitiv nicht zur Hysterie und stehe nicht im Weg herum. Ich weiß, dass ich Vianne beruhigen und ihr ein sanftes Hinübergleiten in die Narkose ermöglichen kann.






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