Rückblick: Minuten
später
Ich
musste an die Luft, Tränen drängten mit aller Macht nach draußen. Von all dem
Diskutieren hatte ich für kurze Zeit gar nicht mehr an den eigentlichen
Eingriff gedacht. Doch jetzt, vor dem Krankenhaus, wurde mir schlagartig wieder
bewusst, dass der Chirurg gerade einen Schnitt in Viannes Haut macht und einen
feinen Schlauch durch ihre Vene zieht. Bitte lass alles gut gehen! Wir tranken
einen Latte Macchiato beim Italiener gegenüber. Es half nichts. Ruhe hatten wir keine. Also kehrten wir schon bald auf unser Zimmer auf der Station
zurück. Wir warteten. Gefühlte Stunden später durfte einer von uns zu Vianne in
den Aufwachraum. Micha kennt mich und weiß, dass ich unbedingt bei ihr sein
muss, also ließ er mir den Vortritt. Ich bewundere immer, wie stark er ist. Ich
hätte, glaube ich, nicht länger warten können, meine Tochter zu sehen, zu
berühren, zu spüren. Wieder einmal flog ich durchs Treppenhaus. Ich klingelte
an der Tür zum Aufwachraum, desinfizierte gründlich meine Hände, zog den Kittel
über und ging zum Bett meiner Tochter. Ich sah viel Jod auf ihrem Hals und
ihrem Oberkörper, und ich sah die steril verpackten Schenkel des Broviak-Katheters.
Gerne hätte ich mir die Eintrittsstelle angeguckt, aber sie war unter einem
sterilen Pflaster verborgen. Jetzt
steckte ein Schlauch in ihrem Körper. Ich musste positiv denken, er würde ihr
viele schmerzhafte Pikse ersparen. Außerdem war er nicht für immer. Irgendwann
kam der Chirurg zu uns und erklärte, dass der Eingriff gut verlaufen sei.
Nachdem ich nun die Gewissheit hatte, dass es Vianne den Umständen entsprechend
gut ging, flackerte wieder diese kaum zu bändigende Wut auf. „Ich möchte sofort
mit der Chef-Anästhesistin sprechen“, teilte ich der Schwester unterkühlt mit.
Irgendetwas in meiner Stimme ließ sie wohl meine Beharrlichkeit und
Starrsinnigkeit spüren. Ich würde diesen Raum nicht eher verlassen, bis ich
eine Stellungnahme zu dem Desaster bekommen hatte. Kurz darauf erschien die
Chefärztin. Ich hatte beschlossen, beherrscht und sachlich meine Argumente
dazulegen. Die Frau war mir zum Glück sympathisch, so hatte ich mich besser im
Griff, ich kann nämlich sehr impulsiv und direkt sein, wenn ich jemanden
partout nicht mag. Sie hörte sich meine Bedenken und Einwände ruhig an,
versuchte erst, ihr Standard-Programm herunter zu leiern (erhöhtes
Sicherheitsrisiko, kein Raum vorhanden, hysterische Eltern,…), hörte aber
schnell damit auf, als sie merkte, dass meine Argumente nicht vom Tisch zu
weisen waren, insbesondere in unserer Situation, da Vianne noch sehr viele
Narkosen bekommen würde. Sie selbst würde Eltern bei der Narkoseeinleitung
akzeptieren, einige Kollegen jedoch nicht, und denen könne man nicht
vorschreiben, wie sie in diesem Fall vorzugehen hätten. Wir verständigten uns
darauf, dass bei Vianne möglichst Anästhesisten zum Einsatz kommen, die Eltern
zulassen.
Der
Begriff „Anästhesie“ stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet übersetzt „ohne
Wahrnehmung/Empfindung“ - da frage ich
mich, ob das manche Anästhesisten auf ihr Verhalten beziehen. Wie kann man denn
den Eltern ein Kleinkind entreißen, wenn es sich um einen geplanten Eingriff
handelt. Im Notfall habe
ich dafür vollstes Verständnis, das Leben und die Sicherheit des Kindes, nicht die Befindlichkeit der Eltern, stehen an
erster Stelle. Dieses Argument bringen die Anästhesisten auch gerne, wenn es
sich um keinen Notfall handelt. Aber keine Statistik noch irgendwelche
Erfahrungswerte belegen, dass mehr schief geht, wenn die Eltern bei der
Narkoseeinleitung dabei sind. Einige Eltern sind mit Sicherheit auch Störfaktoren
oder potentielle Gefahrenquellen, aber ich neige definitiv nicht zur Hysterie
und stehe nicht im Weg herum. Ich weiß, dass ich Vianne beruhigen und ihr ein
sanftes Hinübergleiten in die Narkose ermöglichen
kann.
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