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16. Juni 2016

Mein Geburtstag



Rückblick: 28. September 2012

Während des zweiten Krankenhaus-Aufenthaltes hatte ich Geburtstag. An solchen Tagen wird dir noch bewusster, wie sehr deine Welt aus den Angeln gehoben wurde. Micha löste mich am frühen Nachmittag im Krankenhaus ab, so dass ich meinen Tag Zuhause verbringen konnte. Ich machte mich auf den Heimweg, trennte mich nach einem Glas Sekt schweren Herzens von Micha und Vianne und setzte mich ins Auto. Ich fuhr und die Tränen liefen mir über das Gesicht. Es war mir so egal. Ich stand vor der Ampel, alles stand still und ich dachte, der Schmerz frisst mich innerlich auf, wenn ich mich nicht sofort vorwärts bewege. Ich fing an zu schreien, laut, bestialisch, außer Kontrolle, aus der Tiefe meiner Seele. Der Autofahrer auf der anderen Fahrbahnseite schaute irritiert. Danach ging es besser. Auf den Autofahrten, wenn ich für mich war, und während des Laufens vergoss ich häufiger Tränen und sammelte Kraft.

Ich hatte einen schönen Geburtstag, ruhig, anders, besinnlich. Andi und die Kinder hatten den Schokoküssen lustige Gesichter aus weißem Zuckerguss verpasst, eine gelb-grün-orangefarbene Girlande gebastelt und einen Napfkuchen für mich gebacken. Micha hatte einen wunderschönen Gartentisch mit dazugehörigen Bänken gezimmert, weiß der Geier, woher er dafür die Zeit genommen hatte. Ich glaube, er erwähnte später einmal ein paar Nachtschichten. Auf dem neuen Tisch lagen nun alle Präsente und viele liebe Briefe. Ich war gerührt. Zwei Tage später kamen dann auch Micha und Vianne aus dem Krankenhaus nach Hause.

Frühjahr 2014: „Meine liebe Vianne. Ich muss mich beeilen, mein Schatz, meine Erinnerungen verschwimmen langsam, verschwinden unaufhaltsam in der Tiefe, obwohl seit deiner Erkrankung noch nicht einmal zwei Jahre vergangen sind. Ich will nicht vergessen, ich darf diese Zeit nicht verlieren, bis ich sie für dich, für Ada, Luke und Jesse aufgeschrieben habe - für euer Leben. Ich liebe das Leben mehr denn je – unglaublich, aber wahr,  und ich hoffe, du wirst es ebenso empfinden, mein kleiner Engel, trotz aller Widrigkeiten. Ich habe so oft das Gefühl, versagt zu haben, auch jetzt noch. Was hätten wir mehr aus deiner Erkrankung ziehen können? Oftmals werde ich gefragt, was sich nach solch einer Erfahrung geändert hat. Was hat sich geändert in unserem Leben? Anfangs wusste ich keine Antwort darauf, oder meine Antwort hörte sich hölzern, blechern, konstruiert an. Aber es hat sich etwas geändert, ganz tief in mir. Ich spüre das Leben mit all seinen Schattierungen intensiver. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem du unsere Entscheidungen anzweifeln wirst. Vielleicht wirst du aufgrund der schweren Chemotherapie nie Kinder bekommen können. Wir werden dir unsere Entscheidung erklären. Nimm dein Leben und lebe, mein tapferer Schatz!“

Die Chemotherapien wurden zu unserem Alltag, wir lebten in einer zweigeteilten Welt: in der realen Welt und in der Krankenhaus-Blase. Diese Blase wurde zu unserem zweiten Zuhause  - und irgendwann real. Wir diskutierten mit den Schwestern, weil mal ein Medikament vergessen wurde, obwohl es gegeben werden musste, oder mal gegeben wurde, obwohl es nicht gegeben werden durfte. Einmal war das Zimmer nicht richtig desinfiziert, obwohl Vianne kaum Abwehrkräfte hatte. Besonders stark nahm sie das Carboplatin mit. Es zerstörte ihr Blut: ihre Blutgerinnung, ihre Abwehrkräfte, ihren Sauerstofftransport. Einen Tag hatte Vianne nur noch einen Hämoglobin-Wert von 4,8 (normal ist 12-15), in vielen Kliniken gibt es bereits bei einem Wert unter 6 eine Bluttransfusion. Aber unser Energiebolzen sprang zwar blass, aber munter den Krankenhausflur rauf und runter. Ein Arzt kam an uns vorbei. „Dann schauen wir uns gleich ´mal deine Blutwerte an, aber ich glaube, der HB ist noch ganz gut“, meinte er. Kurze Zeit später fiel er aus allen Wolken, als er die Zahlen sah. Unsereins wäre bei diesem niedrigen Wert glatt aus den Socken gekippt.

Wieder mussten wir eine schwere Entscheidung treffen. Bereits vor Viannes Erkrankung hatten wir für die Herbstferien Flüge nach Mallorca gebucht - für uns sechs. Aber Vianne konnte mitten in der Chemotherapie nicht mitkommen. sollten wir stornieren? Brauchten die übrigen Kinder nicht dringend eine Auszeit, Abstand? Auch unser Akku war bereits ziemlich leer, und uns stand noch ein langer zäher Winter, bepackt mit Chemotherapie, Krankenhausaufenthalten, Erkältungskrankheiten, Fieberattacken bevor. Also spielten wir mehrere Szenarien durch.







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