Rückblick: 28.
September 2012
Während
des zweiten Krankenhaus-Aufenthaltes hatte ich Geburtstag. An solchen Tagen
wird dir noch bewusster, wie sehr deine Welt aus den Angeln gehoben wurde.
Micha löste mich am frühen Nachmittag im Krankenhaus ab, so dass ich meinen Tag
Zuhause verbringen konnte. Ich machte mich auf den Heimweg, trennte mich nach
einem Glas Sekt schweren Herzens von Micha und Vianne und setzte mich ins Auto.
Ich fuhr und die Tränen liefen mir über das Gesicht. Es war mir so egal. Ich
stand vor der Ampel, alles stand still und ich dachte, der Schmerz frisst mich
innerlich auf, wenn ich mich nicht sofort vorwärts bewege. Ich fing an zu
schreien, laut, bestialisch, außer Kontrolle, aus der Tiefe meiner Seele. Der
Autofahrer auf der anderen Fahrbahnseite schaute irritiert. Danach ging es
besser. Auf den Autofahrten, wenn ich für mich war, und während des Laufens
vergoss ich häufiger Tränen und sammelte Kraft.
Ich
hatte einen schönen Geburtstag, ruhig, anders, besinnlich. Andi und die Kinder hatten den Schokoküssen lustige Gesichter aus weißem Zuckerguss
verpasst, eine gelb-grün-orangefarbene Girlande gebastelt und einen Napfkuchen für mich gebacken.
Micha hatte einen wunderschönen Gartentisch mit dazugehörigen Bänken gezimmert,
weiß der Geier, woher er dafür die Zeit genommen hatte. Ich glaube, er erwähnte
später einmal ein paar Nachtschichten.
Auf dem neuen Tisch lagen nun alle Präsente und viele liebe Briefe. Ich war
gerührt. Zwei Tage später kamen dann auch Micha und Vianne aus dem Krankenhaus
nach Hause.
Frühjahr 2014: „Meine
liebe Vianne. Ich muss mich beeilen, mein Schatz, meine Erinnerungen
verschwimmen langsam, verschwinden unaufhaltsam in der Tiefe, obwohl seit
deiner Erkrankung noch nicht einmal zwei Jahre vergangen sind. Ich will nicht vergessen,
ich darf diese Zeit nicht verlieren, bis ich sie für dich, für Ada, Luke und
Jesse aufgeschrieben habe - für euer Leben. Ich liebe das Leben mehr denn je –
unglaublich, aber wahr, und ich hoffe,
du wirst es ebenso empfinden, mein kleiner Engel, trotz aller Widrigkeiten. Ich
habe so oft das Gefühl, versagt zu haben, auch jetzt noch. Was hätten wir mehr
aus deiner Erkrankung ziehen können? Oftmals werde ich gefragt, was sich nach
solch einer Erfahrung geändert hat. Was hat sich geändert in unserem Leben? Anfangs
wusste ich keine Antwort darauf, oder meine Antwort hörte sich hölzern,
blechern, konstruiert an. Aber es hat sich etwas geändert, ganz tief in mir.
Ich spüre das Leben mit all seinen Schattierungen intensiver. Irgendwann wird
der Tag kommen, an dem du unsere Entscheidungen anzweifeln wirst. Vielleicht wirst
du aufgrund der schweren Chemotherapie nie Kinder bekommen können. Wir werden
dir unsere Entscheidung erklären. Nimm dein Leben und lebe, mein tapferer
Schatz!“
Die
Chemotherapien wurden zu unserem Alltag, wir lebten in einer zweigeteilten
Welt: in der realen Welt und in der Krankenhaus-Blase. Diese Blase wurde zu
unserem zweiten Zuhause - und irgendwann
real. Wir diskutierten mit den Schwestern, weil mal ein Medikament vergessen
wurde, obwohl es gegeben werden musste, oder mal gegeben wurde, obwohl es nicht
gegeben werden durfte. Einmal war das Zimmer nicht richtig desinfiziert, obwohl
Vianne kaum Abwehrkräfte hatte. Besonders stark nahm sie das Carboplatin mit.
Es zerstörte ihr Blut: ihre Blutgerinnung, ihre Abwehrkräfte, ihren
Sauerstofftransport. Einen Tag hatte Vianne nur noch einen Hämoglobin-Wert von
4,8 (normal ist 12-15), in vielen Kliniken gibt es bereits bei einem Wert unter
6 eine Bluttransfusion. Aber unser Energiebolzen sprang zwar blass, aber munter
den Krankenhausflur rauf und runter. Ein Arzt kam an uns vorbei. „Dann schauen
wir uns gleich ´mal deine Blutwerte an, aber ich glaube, der HB ist noch ganz
gut“, meinte er. Kurze Zeit später fiel er aus allen Wolken, als er die Zahlen
sah. Unsereins wäre bei diesem niedrigen Wert glatt aus den Socken gekippt.
Wieder
mussten wir eine schwere Entscheidung treffen. Bereits vor Viannes Erkrankung
hatten wir für die Herbstferien Flüge nach Mallorca gebucht - für uns sechs.
Aber Vianne konnte mitten in der Chemotherapie nicht mitkommen. sollten wir
stornieren? Brauchten die übrigen Kinder nicht dringend eine Auszeit, Abstand?
Auch unser Akku war bereits ziemlich leer, und uns stand noch ein langer zäher
Winter, bepackt mit Chemotherapie, Krankenhausaufenthalten,
Erkältungskrankheiten, Fieberattacken bevor. Also spielten wir mehrere
Szenarien durch.
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