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14. Juni 2016

Angekommen


Rückblick: 16./17. August 2012 - nach Mitternacht

Pfleger Michael brachte uns in unser Zimmer - ein schönes Zimmer, mit einem Kinderbett und einem Schlafsofa in der Nische am Fenster. „Ich mache Ihnen ihr Bett noch fertig“, sagte Michael. Er strahlte Ruhe aus, Ruhe, die wir so dringend brauchten. Micha und ich funktionierten. Wir sprachen ab, dass er mit den übrigen Kindern erst einmal zurück ins Ferienhaus fahren und morgen ganz früh mit unseren Sachen zurückkommen sollte. Micha wollte nicht fahren, ich konnte nicht fahren. Ich glaube, er war letztendlich der Stärkere von uns beiden, weil er Vianne loslassen und die übrigen Kinder versorgen konnte. Wir küssten uns, schauten uns eindringlich an. „Es wird alles gut, sie wird wieder gesund“, sprachen wir uns gegenseitig Mut zu. „Es wird gut, alles wird gut, es wird gut“,  – wie eine Maschine im Akkord hämmerten die Worte durch meinen Kopf. Ich drückte Ada, Luke und Jesse an mich. „Will bei Vianne bleiben!“, brach es aus Ada heraus. Micha schnappte sie sich. Dann war ich mit Vianne allein. „Bitte schlaf schnell ein, kleine Maus, bitte, ich breche gleich zusammen“, dachte ich nur. Sie tat mir den Gefallen. Als ob sie genau wusste, dass nichts mehr war wie vorher. Dass jetzt nicht der Zeitpunkt war, um „Theater“ vorm Schlafengehen zu machen. Sie war so lieb. Dann kamen die Tränen. Auch jetzt noch übermannt mich der Schmerz, wenn ich an diese Nacht zurückdenke, aber ich möchte, dass Vianne davon weiß, vom ersten Moment an, weil es jetzt ein Teil ihres Lebens ist.

Pfleger Michael kam noch einmal nach uns schauen: „Wollen Sie einen Kaffee?“ Ich hätte ihn knutschen können. Ja, ein heißes Getränk würde gut tun. „Kann ich sonst noch irgendetwas tun?“, fragte er einfühlsam. Ich saß da mit meinem Kaffee, ich schaute meine Tochter an. Ich betrachtete ihr feines Gesicht, ihren Kopf. Dort sollte ein apfelgroßer Tumor sitzen. Das konnte nicht sein. Wie lange war er wohl schon da? Ich versuchte, die letzten Monate Revue passieren zu lassen. In letzter Zeit hatte sie in der Nacht häufig wahnsinnig laut mit den Zähnen geknirscht. Warum war mir nicht eher etwas aufgefallen? ER konnte ja nicht erst die letzten drei Wochen gewachsen sein, seitdem sie angefangen hatte, sich seltsam zu bewegen. Auch die Kindergärtnerinnen hatten das ganze Jahr über keine Entwicklungsauffälligkeit entdeckt, keine gesteigerte Müdigkeit. Sie konnte bisher ebenso gut hüpfen, klettern, schneiden und malen wie Ada. „Ein Tumor!“, kreischte es in mir. Sie ist doch erst drei Jahre alt! Im Nachhinein weiß ich nicht, wie ich es in diesem Moment geschafft habe, halbwegs klare Gedanken zu fassen. Vielleicht liegt es in meinem Naturell. Es hilft mir mehr, irgendetwas zu tun, als untätig in der Ecke zu sitzen. Zuerst musste ich Hilfe holen. Ich rief meine Schwester an, mitten in der Nacht. Ich wusste, dass Andi und Ralf am nächsten Morgen mit ihrem Wohnmobil in den Urlaub starten wollten. Ich brauchte beide jetzt hier, allein schon wegen der drei anderen Kinder. Ich nahm mein Handy zur Hand. Wie sollte ich so etwas Unfassbares in Worte fassen? Es klingelte. Einmal, zweimal, dreimal - Andi ging ran. „Hallo Kurze, alles in Ordnung bei euch?“, fragte sie. Ich hörte mich selbst wie aus weiter Ferne sprechen, mechanisch, blechern. „Andi, setz dich bitte erst einmal. Sitzt du?“ Der Kloß im Hals wurde immer größer. „Vianne ist sehr krank. Sie hat“, stotterte ich, „sie hat einen Hirntumor.“ Ich weiß nicht mehr ob ich weinte. Aber Andi weinte, ganz leise. Meine Schwester und ihr Mann wollten sich noch in der Nacht ins Wohnmobil setzen und kommen. Ich hatte Angst, dass sie einen Unfall bauen würden und konnte sie überzeugen, erst am nächsten Morgen ganz früh aufzubrechen. Ich bat sie, unsere Eltern zu verständigen. Ich selbst hatte keine Kraft mehr. Ich legte mich in meinen Anziehsachen auf das Schlafsofa, schaute aus dem Fenster, mein Blick schweifte über das Klinikgelände. Mir war speiübel. Bloß nicht zusammenklappen, bloß nicht schlappmachen. Ich konnte körperlich spüren, wie innerlich etwas zerbrach. Ich lag einfach nur da, starrte und kämpfte gegen die Übelkeit. Waren wir hier in der Klinik überhaupt gut aufgehoben? Ich sprang vom Sofa auf, suchte Pfleger Michael. Er musste doch wissen, ob sich die Kieler mit Hirntumoren auskennen und gut operieren können. Wieder schossen mir die Tränen in die Augen. Ich ging zu ihm und stammelte: „Würdest du dein Kind hier operieren lassen? Ist es gut hier?“  „Ja!“, antwortete er ohne zu zögern. Ich schlich zurück ins Zimmer. Ich wollte nicht einschlafen, auch wenn mein Verstand mir sagte, dass ich bei Kräften bleiben musste. Ich wollte nicht einschlafen, weil das Aufwachen so schlimm ist. Aber irgendwann übermannte mich der Schlaf, während ich in meinen stinkenden, verschwitzten Klamotten lag und ins Leere starrte. Und starrte. Und starrte...

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