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20. Juni 2016

Kollateralschäden



Rückblick:  Ende November bis Ende Dezember 2012 


Zwei Wochen verspätet konnten wir am 28. November 2012 mit dem nächsten Zyklus beginnen. Die Ärzte durften nicht eher starten, da Viannes Blutwerte nicht mitspielten. Alle zwei bis drei Tage ging es dann zum Bluttest. Erst wenn die Werte wieder ein gewisses Niveau erreicht haben, darf die nächste Portion Zellgift verabreicht werden - das sich wieder mit voller Wucht auf alle sich schnell teilenden Zellen stürzt und in der Hitze des Gefechts einfach auch mal ein paar "gute" Zellen wie die blutbildenden, die schleimhautbildenden oder die Haarzellen umnietet. Abgesehen von den Kollateralschäden eine gute Sache, schließlich wollten wir auch die letzte kleine versprengte Tumorzelle vernichten. Dass es die gab, führten uns zahlreiche Studienergebnisse vor Augen. Auch Kinder, deren Tumor komplett entfernt werden konnte und die auch keinen Hinweis auf Tumorzellen im Hirnwasser hatten, bekamen in ganz vielen Fällen ein Rezidiv (Wiedererkrankung). Mit einer lokalen Bestrahlung und evtl. auch mit einer Chemo konnte die Rückfallquote verringert werden. Das progressionsfreie Überleben (ohne das etwas Neues nachwächst) lag nach fünf Jahren bei immerhin 60-70 Prozent, nach zehn Jahren bei 50 Prozent. Also auf zur nächsten Runde - die Chemo an sich war nicht unser Feind, sondern eine Möglichkeit auf dem Weg zur Heilung.


Wir verbrachten wieder vier Tage mit Vianne in der Klinik. Sie ging gerne auf die Station, freute sich schon auf die vielen Bücher, auf ihre Schnullerzeit (im Krankenhaus durfte sie zum Schlafen und während der Untersuchungen immer ihren heißgeliebten Schnuller haben). Sie freute sich auf ihre Freundin Lilli (falls sie zeitgleich da war), auf unsere Besucher (die immer zahlreiche Geschenke für sie mitbrachten), auf die exklusive Spielzeit mit Micha oder mir, auf die Kunst- oder Musiktherapeutin, die abwechselnd vorbei schauten. Zuhause angekommen sackten ihre Blutwerte gleich wieder ziemlich tief in den Keller. Dieses Mal verordneten die Ärzte ihr Spritzen, die ihre Leukozyten künstlich in die Höhe puschten, damit wir im Zeitplan blieben. Anfangs gaben ihr die Schwestern im Krankenhaus die Spritzen, dafür mussten wir aber jeden Tag vorbei kommen. Eine Tortur in jeder Hinsicht. Die Spritze wurde direkt in den Muskel gegeben, für Vianne eine Qual, obwohl ein entsprechendes Pflaster die Stelle vorher betäubte. Später hatten wir einen ambulanten Pflegedienst. Doch eines Morgens musste der Pfleger kurzerhand absagen. Ich hatte die Wahl: entweder wieder in die Klinik oder die Spritze selber geben. Eigentlich ist das kein großer Akt, jeder Insulinkranke spritzt sich selbst. Theoretisch traute ich es mir zu, ich hatte oft genug zugeschaut. Aber konnte ich das bei meiner eigenen Tochter? Ich hatte noch nie auch nur irgendjemandem eine Spritze verabreicht.

Wir fragten Vianne einfach, ob es für sie okay wäre, wenn Papa sie auf den Schoß nimmt und Mama ihr die Spritze gibt. Sie stimmte zu. Ich atmete tief durch, bereitete die Spritze vor - und fing an zu zittern. "Jetzt reiß dich zusammen, du Weichei", wies ich mich selbst zureckt. "Vianne vertraut dir, also vertraue dir verdammt noch mal selbst!" Noch einmal atmete ich tief durch. Micha hielt Vianne mit Schnulli im Mund fest, Ada streichelte ihren Rücken, ich kniff ihre Haut am Oberschenkel mit Daumen und Zeigefinger zusammen, so dass eine Hautfalte entsteht und setzte die Spritze an. Meine Hand war auf einmal ganz ruhig. Ich war irgendwie erstaunt, wie leicht die Nadel in die Haut drang. Vianne weinte nur einen ganz kleinen Moment, kurz bevor die Nadel eindrang, dann war sie ruhig. Ich zog die Nadel wieder heraus. "Tat es doll weh?", fragte ich sie, während ich sie ganz fest in den Arm nahm. "eh eh", nuschelte sie zwischen ihrem Schnuller hervor. "Du sollst das immer machen." Völlig ausgelaugt ging ich erst einmal nach unten. Aber ich war auch unglaublich stolz. Ab diesem Tag gab ich Vianne regelmäßig die Spritzen und irgendwann musste sie niemand mehr festhalten. Tapferes Mädchen!

Die beiden MTX-Elemente in der Mitte des 2. Therapiezyklusses vertrug Vianne wieder ganz gut – abgesehen von dieser quälenden Verstopfung. Was aber viel wichtiger war: ihre Schleimhäute litten nicht, sie konnte weiterhin ohne Schmerzen essen und trinken. Und was noch viel wichtiger war: wir durften Weihnachten und Silvester gemeinsam zu Hause verbringen - ohne Therapie, ohne Fieber, einfach nur wir!



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