Rückblick: Ende
November bis Ende Dezember 2012
Zwei
Wochen verspätet konnten wir am 28. November 2012 mit dem nächsten Zyklus
beginnen. Die Ärzte durften nicht eher starten, da Viannes Blutwerte nicht
mitspielten. Alle zwei bis drei Tage ging es dann zum Bluttest. Erst wenn die
Werte wieder ein gewisses Niveau erreicht haben, darf die nächste Portion
Zellgift verabreicht werden - das sich wieder mit voller Wucht auf alle sich
schnell teilenden Zellen stürzt und in der Hitze des Gefechts einfach auch mal
ein paar "gute" Zellen wie die blutbildenden, die
schleimhautbildenden oder die Haarzellen umnietet. Abgesehen von den Kollateralschäden
eine gute Sache, schließlich wollten wir auch die letzte kleine versprengte
Tumorzelle vernichten. Dass es die gab, führten uns zahlreiche Studienergebnisse
vor Augen. Auch Kinder, deren Tumor komplett entfernt werden konnte und die
auch keinen Hinweis auf Tumorzellen im Hirnwasser hatten, bekamen in ganz
vielen Fällen ein Rezidiv (Wiedererkrankung). Mit einer lokalen Bestrahlung und
evtl. auch mit einer Chemo konnte die Rückfallquote verringert werden. Das
progressionsfreie Überleben (ohne das etwas Neues nachwächst) lag nach fünf
Jahren bei immerhin 60-70 Prozent, nach zehn Jahren bei 50 Prozent. Also auf
zur nächsten Runde - die Chemo an sich war nicht unser Feind, sondern eine
Möglichkeit auf dem Weg zur Heilung.
Wir
verbrachten wieder vier Tage mit Vianne in der Klinik. Sie ging gerne auf die
Station, freute sich schon auf die vielen Bücher, auf ihre Schnullerzeit (im
Krankenhaus durfte sie zum Schlafen und während der Untersuchungen immer ihren
heißgeliebten Schnuller haben). Sie freute sich auf ihre Freundin Lilli (falls
sie zeitgleich da war), auf unsere Besucher (die immer zahlreiche Geschenke für
sie mitbrachten), auf die exklusive Spielzeit mit Micha oder mir, auf die
Kunst- oder Musiktherapeutin, die abwechselnd vorbei schauten. Zuhause
angekommen sackten ihre Blutwerte gleich wieder ziemlich tief in den Keller.
Dieses Mal verordneten die Ärzte ihr Spritzen, die ihre Leukozyten künstlich in
die Höhe puschten, damit wir im Zeitplan blieben. Anfangs gaben ihr die
Schwestern im Krankenhaus die Spritzen, dafür mussten wir aber jeden Tag vorbei
kommen. Eine Tortur in jeder Hinsicht. Die Spritze wurde direkt in den Muskel
gegeben, für Vianne eine Qual, obwohl ein entsprechendes Pflaster die Stelle
vorher betäubte. Später hatten wir einen ambulanten Pflegedienst. Doch eines Morgens
musste der Pfleger kurzerhand absagen. Ich hatte die Wahl: entweder
wieder in die Klinik oder die Spritze selber geben. Eigentlich ist das kein
großer Akt, jeder Insulinkranke spritzt sich selbst. Theoretisch traute ich es
mir zu, ich hatte oft genug zugeschaut. Aber konnte ich das bei meiner eigenen
Tochter? Ich hatte noch nie auch nur irgendjemandem eine Spritze verabreicht.
Wir
fragten Vianne einfach, ob es für sie okay wäre, wenn Papa sie auf den Schoß
nimmt und Mama ihr die Spritze gibt. Sie stimmte zu. Ich atmete tief durch,
bereitete die Spritze vor - und fing an zu zittern. "Jetzt reiß dich
zusammen, du Weichei", wies ich mich selbst zureckt. "Vianne vertraut
dir, also vertraue dir verdammt noch mal selbst!" Noch einmal atmete ich
tief durch. Micha hielt Vianne mit Schnulli im Mund fest, Ada streichelte ihren
Rücken, ich kniff ihre Haut am Oberschenkel mit Daumen und Zeigefinger
zusammen, so dass eine Hautfalte entsteht und setzte die Spritze an. Meine Hand
war auf einmal ganz ruhig. Ich war irgendwie erstaunt, wie leicht die Nadel in
die Haut drang. Vianne weinte nur einen ganz kleinen Moment, kurz bevor die
Nadel eindrang, dann war sie ruhig. Ich zog die Nadel wieder heraus. "Tat
es doll weh?", fragte ich sie, während ich sie ganz fest in den Arm nahm.
"eh eh", nuschelte sie zwischen ihrem Schnuller hervor. "Du
sollst das immer machen." Völlig ausgelaugt ging ich erst einmal nach
unten. Aber ich war auch unglaublich stolz. Ab diesem Tag gab ich Vianne
regelmäßig die Spritzen und irgendwann musste sie niemand mehr festhalten.
Tapferes Mädchen!
Die
beiden MTX-Elemente in der Mitte des 2. Therapiezyklusses vertrug Vianne wieder
ganz gut – abgesehen von dieser quälenden Verstopfung. Was aber viel wichtiger
war: ihre Schleimhäute litten nicht, sie konnte weiterhin ohne Schmerzen essen
und trinken. Und was noch viel wichtiger war: wir durften Weihnachten und
Silvester gemeinsam zu Hause verbringen - ohne Therapie, ohne Fieber, einfach
nur wir!
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