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15. Juni 2016

Chemo: 2. Runde



Rückblick:  Mitte September 2012


Am nächsten Tag setzte ich unsere beiden Mäuse in den Fahrradanhänger und wir drehten eine kleine Runde an der Ruhr entlang, machten am Wasser Pause und ließen uns von der Herbstsonne verwöhnen. Wir nutzten Stöcke als Angeln und versuchten, winzig kleine Fische aus der Ruhr zu fischen. 

Alltägliche Dinge wurden plötzlich zu etwas Besonderem. Schon in Kiel hatten wir gemeinsam mit Vianne eine Liste von Dingen erstellt, die sie gerne unternehmen und erleben will: durch Pfützen hüpfen, Schiff fahren, ein Plüschreh kaufen, reiten gehen, im Schwimmbad planschen, wieder den Kindergarten besuchen - was für kleine kindliche Wünsche. Wir versuchten so viel wie möglich in die Tat umzusetzen. Die nächsten Tage waren erst einmal mit Krankengymnastik und Kontrollterminen in der Kinderklinik ausgefüllt. Aber diese Termine gaben mir Sicherheit. Ich konnte etwas tun. Ich konnte dieses Scheißding in ihrem Kopf bekämpfen. Jeden Abend vor dem Einschlafen legte ich meine Hand auf ihren Kopf und stellte mir vor, wie all meine Kraft in sie floss.
Mit dem Zauberwirbel, ein Strudel aus allen Farben des Regenbogens, wollte ich jede kleinste entartete Zelle hinwegfegen. Wir hatten anderthalb Wochen, bevor wir mit Vianne wieder stationär ins Krankenhaus mussten. Welch kostbare Zeit. Dieses Mal sollten wir voraussichtlich fünf Tage bleiben, da beim MTX vorgewässert wird, um die Nieren möglichst zu schützen. Also erschienen wir nicht erst Mittwochmorgen in der Klinik, sondern bereits am Dienstagmittag. Zuvor machten Vianne und ich einen „Mädelsausflug“ in die Dortmunder City. Wir trieben uns Ewigkeiten im Spielzeugladen herum, tranken bei Star Bucks Karamell-Kaffee und heiße Schokolade und alberten und kicherten so laut, dass uns die Leute anschauten. „Hey, sie darf das, sie lebt," wollte ich ihnen am liebsten entgegenschleudern.

Danach schauten wir uns Kleidchen an, kauften süße Ski-Handschuhe, die noch zwei Nummern zu groß waren und dinierten mittags in einem schicken Restaurant. Auf das Krankenhausessen hatten wir beide keine Lust. Zum Glück konnten wir wieder auf meine Familie zurückgreifen. Micha und ich teilten uns die Krankenhausbetreuung auf. Am Freitag-Nachmittag wollte er mich ablösen, damit Vianne ihn zu Gesicht bekommt (und die übrigen Kinder mich). Zwischendurch kam Micha nach der Arbeit immer kurz zu Besuch und brachte jedes Mal eine kleine Überraschung mit. Unsere Zeit der Lillefee-Hefte begann. Auf der Station deckten wir uns mit Spielzeug aus der „Spiele-Oase“  des Krankenhauses ein. Vianne fand es gut. Es schien sie nicht groß zu stören, wieder mit mir ins Krankenhaus zu fahren. Was für ein Segen, dass sie noch so klein war und ihr das Verständnis für diese lebensbedrohliche Erkrankung fehlte. Sie machte sich keine Sorgen um die Zukunft, denn den Begriff Zukunft gab es in ihrem kindlichen Denken noch nicht. Nur das Hier und Jetzt zählte - bewundernswert. Das Krankenhaus hatte auch etwas Abwechslung zu bieten. Am Dienstag kamen immer die Clowns auf Station, an anderen Tagen waren die Kunst- oder die Musiktherapeutin da und vormittags sorgte die Erzieherin für Unterhaltung. Ab und zu unterhielt ich mich in der Stationsküche mit anderen Eltern, aber es war niemand dabei, auf den ich mich näher einlassen mochte. Irgendwie gingen die Tage wieder schnell rum. Denn Vianne hielt uns gut auf Trab mit Vorlesen, spielen, kitzeln. Es ging ihr weiterhin gut. Das Methotrexat (MTX) ist dafür bekannt, dass es die Schleimhäute angreift. Die Ärzte hatten uns darauf vorbereitet. Aber Viannes Mundschleimhaut scheint äußerst zäh zu sein - sie hatte keine größeren Probleme und aß ohne Schmerzen, zwar nicht so gut wie zuhause, aber sie aß. Sie brauchte alle Kräfte für die langwierige Therapie.


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