Rückblick: Freitag, 17. August 2012, früher Abend
Wir
traten hinaus ins Sonnenlicht, wanderten ziellos über das Klinikgelände. Die
Sonne lachte, und unserer kleinen Tochter wurde gerade die Schädeldecke aufgebohrt.
Das einzig Gute am Sonnenschein war, dass Micha und ich Sonnenbrillen tragen
konnten, denn wir wollten nicht ganz Kiel unsere verquollenen Augen und unsere
Verzweiflung zeigen. Wir verließen das Klinikgelände, weil wir raus mussten,
aber zugleich wollten wir uns auch nicht zu weit entfernen, falls irgendetwas
sein sollte. Wir hatten dem Ärzteteam unsere
Handynummern
dagelassen und sie hatten versprochen, sich zu melden, wenn die Operation
beendet sei. Wie wir diese circa fünf Stunden des Wartens, Bangens und
Ausharrens herum bekommen haben, weiß ich nicht mehr im Detail. Wir wechselten
nur wenige Worte, mehr war auch gar nicht nötig, denn wir wussten, wie es im
jeweils anderen aussah. Wir kehrten in unser Krankenzimmer zurück, Micha
spielte Sudoku, ich las ein Buch, an dessen Titel ich mich nicht einmal mehr
erinnern kann. Ich wanderte im Zimmer auf und ab, kuschelte
mich an Micha, wanderte wieder auf und ab. In unserem Krankenzimmer stand die Welt still, während
sich vor unserem Fenster alles weiterdrehte. Ich beobachtete Leute, die
fröhlich schwatzend oder in Fachgespräche vertieft über das Klinikgelände
schlenderten. Wie konnte alles so normal wirken, während sich unsere Welt auf
den Kopf stellte? Ich erwartete noch immer, jeden Moment aufzuwachen. Als eines
unserer Telefone klingelte, schafften wir es kaum, auf den richtigen Knopf zu
drücken. Unser Neurochirurg war dran. Die Operation sei gut verlaufen, wir
könnten jetzt zu ihr kommen. Wir rannten Richtung Aufwachraum. Da lag sie,
unsere kleine Tochter. Auf den ersten Blick wirkte alles gut: sie wurde nicht
mehr beatmet, und sie hatte einen relativ kleinen Verband um den Kopf. Ich
hatte gedacht, der gesamte Kopf wäre mit einem riesigen weißen „Turban“
umwickelt. Aber nein, nur ihre linke Kopfseite war bandagiert. Die vom Jod rot gefärbten
Haare stachen scharf hervor. Sie sah friedlich aus, trotz der vielen piepsenden
Geräte, mit denen sie verkabelt war. Als wir den Aufwachraum betraten, hatte
Prof. N ihre Hand gehalten. Er sah in diesem Moment sehr alt aus, hatte tiefe
Ringe unter den Augen. Irgendjemand erzählte mir im Nachhinein, er wäre erst
gegangen, nachdem Vianne seinen Händedruck mit ihrer rechten Hand zart erwidert
hatte. Es schien fast, als wäre er etwas betrübt, als hätte er mehr Funktion
erwartet. „Sie hat ihr rechtes Bein schon ganz leicht bewegt“, sagte er. Ich
war erleichtert, sie schien also noch Gefühl in ihrer rechten Körperhälfte zu
haben. Nach der Operation wären nämlich verschiedene Möglichkeiten denkbar
gewesen, von Lähmungen bis hin zur kompletten Wiederherstellung ihrer Motorik,
da durch die Tumorentfernung der Druck auf ihr Hirn genommen wurde. Prof. N
berichtete uns, dass er den Tumor samt Zysten und Zystenrändern komplett entfernen
konnte. Die Zysten hätten sich nach der Entleerung quasi von selbst vom
umliegenden Gewebe abgeschält.
Dann verabschiedete er sich müde. Alles Weitere solle am folgenden Tag
besprochen werden.
Vianne
wurde zur weiteren Beobachtung auf die Kinderintensivstation gebracht. Wir
wichen nicht von ihrer Seite. Irgendwann in der Nacht legte uns die
Krankenschwester nahe, dass wir uns selbst etwas Schlaf gönnen sollten, sie
würde gut auf Vianne Acht geben und wir bräuchten unsere Kraft, wenn sie
aufwachen würde. Nur widerwillig trennten wir uns, auch wenn wir wussten, dass
die Schwester Recht hatte. Sie versprach, uns auf der Stelle zu verständigen,
wenn irgendetwas sein sollte oder wenn Vianne richtig zu sich kommen würde. Erschöpft
von der mentalen Anspannung der letzten 24 Stunden fielen Micha und ich todmüde
in unser Krankenhausbett.
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