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14. Juni 2016

Aufgewacht



 Rückblick: Samstag, 18. August 2012


Ganz früh am nächsten Morgen rief die Schwester von der Intensivstation an: „Emma ist wach und ruft nach Ihnen.“ Alle Ärzte, Schwestern und Pfleger nannten Vianne „Emma“, da der Name vorangestellt ist. Wir fanden „Emma Vianne“ klingt besser als „Vianne Emma“, führt aber oftmals zu Verwirrung. Denn ihr Rufname ist Vianne, und nur darauf hört sie auch. Und da sie in den letzten Wochen viele fremde Ärzte kennengelernt hatte, wurde sie ganz oft mit Emma angesprochen. Wir hatten in diesem Moment aber keine Lust, die nette Schwester zu korrigieren. Wir rannten zu unserer Tochter. Sie war wach. Ich war so aufgeregt. Würde sie wie immer sein? Wir schlüpften in Windeseile in unsere grünen Kittel. Ich ging zu ihr, streichelte sie sanft. Ein Blick in ihre Augen und ich wusste: das ist meine Vianne. Sie sah mich an und sagte: „Andi hat mir doch ´was versprochen...“ Ein zentnerschwerer Brocken fiel von meiner Seele. Sie bekam noch Schmerzmittel. Die Nacht hatte unsere kleine Kämpferin gut überstanden, von Stunde zu Stunde reduzierte sich auch die Gefahr einer Komplikation. Sie sollte ruhig liegen bleiben, aber Vianne war unruhig, aufgewühlt, zornig. Sie bewegte den Kopf viel zu viel, das Beruhigungsmittel wurde wieder etwas erhöht. Die Melodie einer blau-gelb-roten Sonnen-Babyspieluhr schien sie (und mich) zu beruhigen. Sie bekam sie in ihr Bett und wir zogen sie immer wieder auf. Unglaublich, dass sie erst vor kurzem eine fünfstündige Hirn-OP hinter sich gebracht hatte. Sie wirkte zwar angeschlagen, aber auch so lebendig. Bereits am Mittag durften wir sie zurück auf unser Zimmer in der Neurochirurgie nehmen. Wir betteten sie zwischen uns auf unser Schlafsofa. Der Tumor war draußen! Eine unendliche Erleichterung senkte sich sanft herab.

Andi und Ralf hatten unterdessen einen Campingplatz direkt am Meer ganz in der Nähe von Kiel bezogen. Sie leisteten Unglaubliches: obwohl sie ebenso litten wie wir, schafften sie es, die übrigen Kinder abzulenken und die Zeit mit baden gehen und Eis essen zu überbrücken. Am Tag nach der OP kamen sie kurz zu Besuch. Alle waren erleichtert, dass Vianne den schweren Eingriff so gut überstanden hatte. Und doch war alles so befremdlich. Vianne selbst schien gar nicht so schnell zu verstehen, was mit ihr auf einmal passiert war. Kein Wunder, sie war schließlich noch nicht einmal dreieinhalb Jahre alt. Wir erklärten ihr alles in kindgerechter Sprache - immer nur so viel, wie sie wissen wollte. Später am Tag besprach Prof. N mit uns das weitere Vorgehen: spätestens 72 Stunden nach der OP müsse ein Kontroll-MRT gemacht werden, um zu überprüfen, ob der Tumor wirklich komplett entfernt werden konnte oder ob evtl. noch ein Tumorrest nachweisbar sei. Aufgrund seines Aussehens und seiner klaren Umrisse tippe er auf einen gutartigen Tumor, letztendlich müsse man aber die Gewebeuntersuchung abwarten. Mit Viannes Zustand nach der OP war er insgesamt zufrieden. Vianne konnte frei stehen, an der Hand lief sie sehr unsicher und staksig, noch schlechter als vor der OP. Sie aß und sie trank, sie ging auf die Toilette und wirkte aufmerksam und rege, das war für uns noch wichtiger. In der rechten Hand fehlte die Feinmotorik. Die Hand konnte zwar stützen, aber sie konnte kaum einen Stift halten oder eine Seite umblättern. Und schon wieder hatten wir Angst. Angst vor dem postoperativen Kontroll-MRT, bzw. vor dem Ergebnis.
















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