Ganz
früh am nächsten Morgen rief die Schwester von der Intensivstation an: „Emma
ist wach und ruft nach Ihnen.“ Alle Ärzte, Schwestern und Pfleger nannten
Vianne „Emma“, da der Name vorangestellt ist. Wir fanden „Emma Vianne“ klingt
besser als „Vianne Emma“, führt aber oftmals zu Verwirrung. Denn ihr Rufname
ist Vianne, und nur darauf hört sie auch. Und da sie in den letzten Wochen
viele fremde Ärzte kennengelernt hatte, wurde sie ganz oft mit Emma
angesprochen. Wir hatten in diesem Moment aber keine Lust, die nette Schwester
zu korrigieren. Wir rannten zu unserer Tochter. Sie war wach. Ich war so
aufgeregt. Würde sie wie immer sein? Wir schlüpften in Windeseile in unsere
grünen Kittel. Ich ging zu ihr, streichelte sie sanft. Ein Blick in ihre Augen
und ich wusste: das ist meine Vianne. Sie sah mich an und sagte: „Andi hat mir
doch ´was versprochen...“ Ein zentnerschwerer Brocken fiel von meiner Seele.
Sie bekam noch Schmerzmittel. Die Nacht hatte unsere kleine Kämpferin gut
überstanden, von Stunde zu Stunde reduzierte sich auch die Gefahr einer
Komplikation. Sie sollte ruhig liegen bleiben, aber Vianne war unruhig, aufgewühlt,
zornig. Sie bewegte den Kopf viel zu viel, das Beruhigungsmittel wurde wieder
etwas erhöht. Die Melodie einer blau-gelb-roten Sonnen-Babyspieluhr schien sie
(und mich) zu beruhigen. Sie bekam sie in ihr Bett und wir zogen sie immer
wieder auf. Unglaublich, dass sie erst vor kurzem eine fünfstündige Hirn-OP hinter
sich gebracht hatte. Sie wirkte zwar angeschlagen, aber auch so lebendig.
Bereits am Mittag durften wir sie zurück auf unser Zimmer in der Neurochirurgie
nehmen. Wir betteten sie zwischen uns auf unser Schlafsofa.
Der Tumor war draußen! Eine unendliche Erleichterung senkte sich sanft herab.
Andi
und Ralf hatten unterdessen einen Campingplatz direkt am Meer ganz in der Nähe
von Kiel bezogen. Sie leisteten Unglaubliches: obwohl sie ebenso litten wie wir,
schafften sie es, die übrigen Kinder abzulenken und die Zeit mit baden gehen
und Eis essen zu überbrücken. Am Tag nach der OP kamen sie kurz zu Besuch. Alle
waren erleichtert, dass Vianne den schweren Eingriff so gut überstanden hatte.
Und doch war alles so befremdlich. Vianne selbst schien gar nicht so schnell zu
verstehen, was mit ihr auf einmal passiert war. Kein Wunder, sie war
schließlich noch nicht einmal dreieinhalb Jahre alt. Wir erklärten ihr alles in
kindgerechter Sprache - immer nur so viel, wie sie wissen wollte. Später am Tag
besprach Prof. N mit uns das weitere Vorgehen: spätestens 72 Stunden nach der
OP müsse ein Kontroll-MRT gemacht werden, um zu überprüfen, ob
der Tumor wirklich komplett entfernt werden konnte oder ob evtl. noch ein
Tumorrest nachweisbar sei. Aufgrund seines Aussehens und seiner klaren Umrisse
tippe er auf einen gutartigen Tumor, letztendlich müsse man aber die
Gewebeuntersuchung abwarten. Mit Viannes Zustand nach der OP war er insgesamt
zufrieden. Vianne konnte frei stehen, an der Hand lief sie sehr unsicher und
staksig, noch schlechter als vor der OP. Sie aß und sie trank, sie ging auf die
Toilette und wirkte aufmerksam und rege, das war für uns noch wichtiger. In der
rechten Hand fehlte die Feinmotorik. Die Hand konnte zwar stützen, aber sie
konnte kaum einen Stift halten oder eine Seite umblättern. Und schon wieder
hatten wir Angst. Angst vor dem postoperativen Kontroll-MRT, bzw. vor dem
Ergebnis.
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