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15. Juni 2016

Zellgift



Rückblick: Mittwoch, 12. September 2012 - später


Jetzt also war der Moment gekommen: das erste Mal floss das Zellgift in ihren kleine Körper. Ich sah wieder die kahlköpfigen, blassen, würgenden Kinder vor meinem inneren Auge. Kamillentee, wo bist du? Aber jetzt gehörten wir zu einem Kreis, zu dem wir nie gehören wollten. Wir hatten ein krebskrankes Kind. Hier der Behandlungsplan in der Übersicht: Insgesamt hat Vianne fünf verschiedene Chemotherapeutika bekommen, aufgeteilt in 5 Zyklen à 4 Blöcken. Im 1. Block wurden Cyclophosphamid (an drei aufeinanderfolgenden Tagen, jeweils für 1 Stunde) und Vincristin (Tag 1, als Spritze) verabreicht, nach 2 Wochen folgten im 2. Block Methotrexat (24-Std. Infusion, das Gegenmittel musste nach Stunde 42

verabreicht werden) und Vincristin (Tag 1), nochmals zwei Wochen später im 3. Block wieder Methotrexat und Vincristin und zwei Wochen später im 4. Block schließlich Carboplatin (Tag 1-3, ca. einstündige Infusion) und Etoposid (Tag 1-3, ca. halbstündige Infusion). Drei Wochen nach der letzten Gabe aus dem ersten Zyklus folgt der zweite und wiederum drei Wochen später der dritte Zyklus. Zyklus 4 und 5 sind anders aufgebaut. Dort fallen die beiden Methotrexat- und Vincristin-Gaben in der Mitte weg, so dass zwischen der

Cyclophosphamid/ Vincristin-Gabe und der Carboplatin/Etoposid-Gabe drei Wochen Pause liegen. So die Theorie. Laut Plan dauert die gesamte Chemotherapie 39 Wochen. Laut Plan… 

Das Cyclophosphamid wurde nun zum ersten Mal verabreicht, eine Stunde lief die Infusion über den Broviak-Katheter. Dazu gab es am ersten Tag Vincristin, welches zeitverzögert gespritzt wurde, damit man im Notfall sehen kann, auf welches Medikament das Kind reagiert. Gruselig. Ich behielt Vianne die ganze Zeit über im Auge. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber nicht das: es tat sich nach außen hin gar nichts. Kein Weinen, keine Schweißausbrüche, keine Müdigkeit, keine Übelkeit! Vianne wirkte wie immer, abgesehen von der Broviak-Wunde. Mir war zwar klar, dass die Wirkung zeitverzögert eintreten würde, doch ich traute „dem Braten“ trotzdem nicht. Aber auch nach den nächsten Infusionen am nächsten und übernächsten Tag zeigte Vianne keinerlei Symptome. Durch die ständige Wässerung, an der sie angeschlossen war, musste sie nur häufiger auf’s Töpfchen. Es war leichter das Töpfchen zu benutzen, als mit dem sperrigen und schlecht rollenden Infusionswägelchen die Toilette aufzusuchen. Und wenn Dreijährige müssen, dann müssen sie sofort. Na ja, wir haben es nicht immer rechtzeitig geschafft. Aber wir wurden immer besser. Auch in der Nacht stand ständiges Windelwechseln an, ansonsten gab’s eine Überschwemmung. Seltsam: Irgendwann boten die Nachtschwestern an, das Windelwechseln zu übernehmen.

In unserem Einzelzimmer fühlten wir uns einigermaßen wohl. Zuvor hatte ich Schwester B. gefragt, ob wir ein Einzelzimmer haben. „Ja, sie sind mit Vianne allein, aber das können wir nicht immer garantieren.“ „Ich kann nicht in ein Mehrbettzimmer“, brachte ich mit kehliger Stimme zustande, während ich merkte, wie mir die Tränen in die Augen schossen. In der Hinsicht bin ich echt eine Mimose, ich brauchte die Zeit für meine Tochter und mich allein.








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