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14. Juni 2016

Nach Hause



Rückblick:  Montag, 27. August 2012

Dann kam der Tag, an dem wir mit Vianne nach Hause fahren durften – nur zehn Tage nach der aufwendigen Hirn-OP. Einerseits freute ich mich sehr auf Zuhause, auf die übrigen Kinder, auf Andi und Ralf, Oma und Opa. Aber ich hatte auch Angst. Wir waren mit einem vermeintlich gesunden Kind in den Urlaub aufgebrochen (vor gerade einmal dreieinhalb Wochen), und nun kamen wir mit einem schwerkranken heim. Wie sollte ich rund um die Uhr auf Vianne Acht geben können und zeitgleich den anderen Kindern gerecht werden und dazu kochen, Informationen einholen, Hausaufgaben nachschauen, einkaufen? Konnte Vianne die Treppen bewältigen, ohne runter zu purzeln? Zudem fühlten wir uns in Kiel sicher und medizinisch gut betreut. Wir machten uns auch Gedanken, wie die Heimfahrt an sich verlaufen würde. Was wäre, wenn mit Vianne während der Fahrt irgendetwas passieren würde? Wie schnell könnten wir einen Rettungswagen holen oder die nächste Klinik erreichen, die sich mit Hirntumoren auskennt? Es gab so viele Ängste und Zweifel. Auch hier brachte Prof. N wieder Ruhe hinein. Wir könnten sowieso nicht jede Sekunde auf unsere Tochter achten, auch wenn wir sie zehnmal auf der Treppe begleiten würden, beim 11. Mal würde sie fallen. Wir sollten uns nicht so unter Druck setzen, die Naht würde einiges aushalten. Wir sollten vertrauen in unsere Tochter haben – sie würde ihre Grenzen ganz klar erkennen.

Zuversichtlich trugen wir Vianne und unsere Koffer ins Auto. Aber wir fuhren nicht los, ohne noch einmal „unserer“ Daniela Tschüss zu sagen, die zum Abschied mit Vianne kräftig im Bällebad tobte (natürlich mit krankengymnastischem Hintergrund). Micha zeigte mir noch einmal einen wunderschönen Ort im Alten Botanischen Garten. Wir stiegen zum höchsten Aussichtspunkt, von wo aus wir das Meer betrachten konnten. Dort entdeckte ich meinen Lieblingsplatz, eine alte Bank unter einer wunderschönen Trauerweide, deren tiefhängende Zweige uns wie ein schützender grüner Mantel umfingen. Adé Kiel! Wir kamen gut auf der Autobahn voran. Kein Stau vorm Elbtunnel, alles frei auf der A1. Vianne freute sich auf Zuhause, das merkten wir ihr an. Gutgelaunt erzählte sie Geschichten, schaute aufmerksam aus dem Fenster und schien mit sich und der Welt zufrieden. Je mehr Zeit ohne irgendwelche Vorkommnisse verging, desto ruhiger wurde auch ich. Tief in meinem Innern wusste ich irgendwann, dass ihr jetzt nichts passieren würde. Noch aus dem Auto rief ich unseren Hausarzt an und erklärte unsere Lage, ohne Umstände schrieb er meinen Mann und mich für die nächste Woche krank und gab uns zur schnellen Kontaktaufnahme seine private Mail-Adresse - er machte es uns wirklich einfach und nahm uns ganz viel von dem organisatorischen Druck, der auf uns lastete. Was gibt es Schlimmeres in so einer Situation, wenn man auch noch gegen bürokratische Hürden anrennen muss. Aber bisher hatten uns alle Beteiligten den Rücken freigehalten. Auch die Grundschule und der Kindergarten wussten Bescheid und kamen uns in jeder erdenklichen Form entgegen. Manchmal ist es wirklich ein Segen, in einem kleinen Örtchen zu leben.

Alle zwei Stunden machten wir Pause. Die gewohnte Eile, zu der ich ansonsten auf längeren Autofahrten neige, verspürte ich nicht mehr. Und irgendwann kamen wir zu Hause an. Ich war aufgeregt. Auf den letzten Metern explodierten tausend Gedanken in meinem Kopf. Die Kinder waren da, Andi war da, überall kleine Willkommensgrüße, Geschenke, bewegende Briefe von Freunden, und Blumen und Kuchen auf dem gedeckten Küchentisch. Welch ein wunderbar warmherziger Empfang. Ada und Vianne hatten sich schrecklich vermisst. Es war zwar lediglich ein paar Tage her, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, aber sie waren bisher noch nie voneinander getrennt gewesen. Wir alle waren unglaublich erleichtert, wieder zusammen zu sein und hielten uns ganz lange in den Armen. Andi und Ralf machten sich schließlich ziemlich erschöpft auf den Weg nach Hause. Sie hatten hier tapfer die Stellung gehalten.


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