Echtzeit! 9.
September 2014
Das
heutige MRT von Kopf und Wirbeläule hat mit Lumbalpunktion über anderthalb
Stunden gedauert. Die Angst, die ich am Wochenende noch gut in Schach halten
konnte, hüllt mich unaufhaltsam ein. Wieder versuche ich, in den Gesichtern der
Ärzte zu lesen. Nachdem wir zur ihr durften, hat Vianne gleich angefangen
zu weinen, zu strampeln, obwohl sie noch gar nicht richtig wach war. Da kommen
böse Erinnerungen hoch. Als das Rezidiv entdeckt wurde, ist sie ebenso unruhig
aus der Narkose gekommen. Auf dem Weg durch den Tunnel zurück zur Kinderklinik
ist sie zum Glück wieder eingeschlafen. Wir unterhalten uns
mit der Schwester, die ihr Bett schiebt, über deren Sommerurlaub. Wir greifen
nach jedem Strohhalm, jeder Ablenkung, jeder Normalität. Micha und ich sind
absolut durch den Wind, auch wenn ich es mir persönlich nicht eingestehen will.
Ich merke es daran, dass ich Dinge von einer Minute auf die andere vergesse,
verlege, verliere. In meinem Kopf entstehen andauernd Szenarien, was Dr. B in
Kürze zu uns sagen wird: "Da ist wieder etwas", oder "alles
gut" oder "sieht nicht gut aus", oder "wir sind uns nicht
sicher". Dr. L. hat mich gestern bei Viannes Voruntersuchung nach meinem
Bauchgefühl gefragt. Ich konnte ihr nicht antworten. Ich war wieder so
verunsichert, obwohl ich bis vor kurzem noch überzeugt war, dass alles gut ist.
Aber dann ist Vianne wieder so schlecht gelaufen, gestolpert, sah auf dem
letzten Foto so müde um die Augen aus, hatte Nasenbluten, hat nachts ins Bett
gemacht, was eigentlich nie vorkommt. Ich traue mir momentan selbst nicht über
den Weg. In wenigen Stunden werden wir mehr wissen. Für mich könnte jetzt einfach
die Zeit stehenbleiben. Angst kriecht in mir hoch, langsam, schleichend,
unaufhaltsam. Vianne sieht so friedlich aus im Schlaf. Zumindest
verlief die Narkosevorbereitung gut. Wir mussten nicht allzu lange warten, und
die Wartezeit wurde uns von Wolke und Knolle, den beiden Klinikclowns versüßt. Dann
kam noch K., unsere Kunsttherapeutin (sie ist toll!), und baute mit Vianne ein
Zwergenhäuschen aus Ton. Auf meinen Wunsch hin legte Dr. B Vianne bereits auf
Station einen Venenkatheter, dadurch durften wir bei
der Narkoseeinleitung dabei sein. Dr. B. hat sie ganz süß mit einbezogen und
bereits beim ersten Versuch einen Zugang im Arm gefunden. Vianne hat nur ganz
kurz geweint. Ich will nicht mehr, dass sie weinen muss. Ich bin immer wieder
erstaunt, wie stark und tapfer die Maus ist. Heute Morgen hat sie mich
wiederholt gefragt, warum sie (und nicht Ada) krank geworden ist. Letztendlich
haben beide Mädchen geweint (die eine wollte nicht ins MRT, die andere nicht
ohne die eine in den Kindergarten). Wir konnten sie gut ablenken und mit zwei
Dschungelbuch- und Arielle-Heften bestechen. Noch geht das...
Es
ist gleich schon 16 Uhr, Vianne schläft noch immer. Meine Eltern kümmern sich
Zuhause um die übrigen Kinder, Micha fährt gerade zum Wakeboarden, um den Kopf
frei zu kriegen, Andi will abends noch zum "Händchen halten"
vorbeikommen. Ich bin so dankbar, dass sie alle da sind. Prof. S kommt in unser
Zimmer. Vianne ist mittlerweile wach. Es ist nicht gut, dass er zu uns kommt.
Ich will nichts hören. Aber er spricht. Er spricht die Worte, die ich nicht
hören will. "Da ist etwas, weiter unter, an der Wirbelsäule..." Den
Rest höre ich wie durch Watte, betäubt, bruchstückhaft - Aussaat über Liquor - Rückenmark
- Druck - müssen etwas tun - Chemo - Operation - Bestrahlung - später sprechen
- soll jemand kommen? - nicht selbst Auto fahren.... Vianne ist verstört. Ich
kann mich nicht mehr vor ihr zusammenreißen, sie kann meine tiefe Verzweiflung,
meine Hoffnungslosigkeit mit ihren kleinen Händchen förmlich greifen - die
Schonzeit für ihre zarte Kinderseele ist in diesem Moment vorbei. Meine Tränen
kommen zeitverzögert, unaufhaltsam. Ich versuche so sehr, mich unter Kontrolle
zu bringen. Ich starte einen halbherzigen Versuch, ihr meine Tränen zu
erklären, sage ihr, dass ich traurig bin, weil der "freche Wicht"
wieder da ist. Es gelingt nicht. Ich klinge so unecht. Dann halte ich sie
einfach in den Armen, Prof. S. steht vor unserem Bett, er ist ausgeblendet für
die nächsten Sekunden, Minuten. Nur meine Tochter und ich existieren in dieser
Welt: ihre Stirn an meiner Stirn, ihre Händchen in meinen Händen, ihre Seele
untrennbar verwoben mit meiner Seele. Prof. S fragt, ob er uns allein lassen
soll, er berührt behutsam meine Schulter. Die Tränen hören nicht auf, nicht
während mich die Krankenschwester in den Arm nimmt, nicht auf dem Weg zum Auto,
nicht auf der Autofahrt, nicht Zuhause. Alle sind da: Andi und Ralf, Oma und
Opa, die Kinder. Wir sagen allen die Wahrheit. Die Chancen stehen schlecht.
Aber da ist noch eine andere Wahrheit nach den Worten von Prof. S.: "Wir
haben zwar kein Schwert mehr, mit dem wir uns wehren können, aber wir haben noch
einen kleinen Dolch." WIR HABEN NOCH EINEN DOLCH! Und den werden wir
einsetzen.
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