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26. Juni 2016

Böse MRT-Wahrheit



Echtzeit!  9. September 2014


Das heutige MRT von Kopf und Wirbeläule hat mit Lumbalpunktion über anderthalb Stunden gedauert. Die Angst, die ich am Wochenende noch gut in Schach halten konnte, hüllt mich unaufhaltsam ein. Wieder versuche ich, in den Gesichtern der Ärzte zu lesen. Nachdem wir zur ihr durften, hat Vianne gleich angefangen zu weinen, zu strampeln, obwohl sie noch gar nicht richtig wach war. Da kommen böse Erinnerungen hoch. Als das Rezidiv entdeckt wurde, ist sie ebenso unruhig aus der Narkose gekommen. Auf dem Weg durch den Tunnel zurück zur Kinderklinik ist sie zum Glück wieder eingeschlafen. Wir unterhalten uns mit der Schwester, die ihr Bett schiebt, über deren Sommerurlaub. Wir greifen nach jedem Strohhalm, jeder Ablenkung, jeder Normalität. Micha und ich sind absolut durch den Wind, auch wenn ich es mir persönlich nicht eingestehen will. Ich merke es daran, dass ich Dinge von einer Minute auf die andere vergesse, verlege, verliere. In meinem Kopf entstehen andauernd Szenarien, was Dr. B in Kürze zu uns sagen wird: "Da ist wieder etwas", oder "alles gut" oder "sieht nicht gut aus", oder "wir sind uns nicht sicher". Dr. L. hat mich gestern bei Viannes Voruntersuchung nach meinem Bauchgefühl gefragt. Ich konnte ihr nicht antworten. Ich war wieder so verunsichert, obwohl ich bis vor kurzem noch überzeugt war, dass alles gut ist. Aber dann ist Vianne wieder so schlecht gelaufen, gestolpert, sah auf dem letzten Foto so müde um die Augen aus, hatte Nasenbluten, hat nachts ins Bett gemacht, was eigentlich nie vorkommt. Ich traue mir momentan selbst nicht über den Weg. In wenigen Stunden werden wir mehr wissen. Für mich könnte jetzt einfach die Zeit stehenbleiben. Angst kriecht in mir hoch, langsam, schleichend, unaufhaltsam. Vianne sieht so friedlich aus im Schlaf. Zumindest verlief die Narkosevorbereitung gut. Wir mussten nicht allzu lange warten, und die Wartezeit wurde uns von Wolke und Knolle, den beiden Klinikclowns versüßt. Dann kam noch K., unsere Kunsttherapeutin (sie ist toll!), und baute mit Vianne ein Zwergenhäuschen aus Ton. Auf meinen Wunsch hin legte Dr. B Vianne bereits auf Station einen Venenkatheter, dadurch durften wir bei der Narkoseeinleitung dabei sein. Dr. B. hat sie ganz süß mit einbezogen und bereits beim ersten Versuch einen Zugang im Arm gefunden. Vianne hat nur ganz kurz geweint. Ich will nicht mehr, dass sie weinen muss. Ich bin immer wieder erstaunt, wie stark und tapfer die Maus ist. Heute Morgen hat sie mich wiederholt gefragt, warum sie (und nicht Ada) krank geworden ist. Letztendlich haben beide Mädchen geweint (die eine wollte nicht ins MRT, die andere nicht ohne die eine in den Kindergarten). Wir konnten sie gut ablenken und mit zwei Dschungelbuch- und Arielle-Heften bestechen. Noch geht das...

Es ist gleich schon 16 Uhr, Vianne schläft noch immer. Meine Eltern kümmern sich Zuhause um die übrigen Kinder, Micha fährt gerade zum Wakeboarden, um den Kopf frei zu kriegen, Andi will abends noch zum "Händchen halten" vorbeikommen. Ich bin so dankbar, dass sie alle da sind. Prof. S kommt in unser Zimmer. Vianne ist mittlerweile wach. Es ist nicht gut, dass er zu uns kommt. Ich will nichts hören. Aber er spricht. Er spricht die Worte, die ich nicht hören will. "Da ist etwas, weiter unter, an der Wirbelsäule..." Den Rest höre ich wie durch Watte, betäubt, bruchstückhaft - Aussaat über Liquor - Rückenmark - Druck - müssen etwas tun - Chemo - Operation - Bestrahlung - später sprechen - soll jemand kommen? - nicht selbst Auto fahren.... Vianne ist verstört. Ich kann mich nicht mehr vor ihr zusammenreißen, sie kann meine tiefe Verzweiflung, meine Hoffnungslosigkeit mit ihren kleinen Händchen förmlich greifen - die Schonzeit für ihre zarte Kinderseele ist in diesem Moment vorbei. Meine Tränen kommen zeitverzögert, unaufhaltsam. Ich versuche so sehr, mich unter Kontrolle zu bringen. Ich starte einen halbherzigen Versuch, ihr meine Tränen zu erklären, sage ihr, dass ich traurig bin, weil der "freche Wicht" wieder da ist. Es gelingt nicht. Ich klinge so unecht. Dann halte ich sie einfach in den Armen, Prof. S. steht vor unserem Bett, er ist ausgeblendet für die nächsten Sekunden, Minuten. Nur meine Tochter und ich existieren in dieser Welt: ihre Stirn an meiner Stirn, ihre Händchen in meinen Händen, ihre Seele untrennbar verwoben mit meiner Seele. Prof. S fragt, ob er uns allein lassen soll, er berührt behutsam meine Schulter. Die Tränen hören nicht auf, nicht während mich die Krankenschwester in den Arm nimmt, nicht auf dem Weg zum Auto, nicht auf der Autofahrt, nicht Zuhause. Alle sind da: Andi und Ralf, Oma und Opa, die Kinder. Wir sagen allen die Wahrheit. Die Chancen stehen schlecht. Aber da ist noch eine andere Wahrheit nach den Worten von Prof. S.: "Wir haben zwar kein Schwert mehr, mit dem wir uns wehren können, aber wir haben noch einen kleinen Dolch." WIR HABEN NOCH EINEN DOLCH! Und den werden wir einsetzen.


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