Rückblick: Freitag, 17.
August, nachmittags
Prof.
N. holte uns sofort mit ins Boot und wollte unsere Einschätzung über Viannes
momentanen Zustand hören. Wir fanden, dass sie auf uns noch müder als am Vortag
wirkte, ein Kriterium, das für eine sofortige Operation sprach, da sich ihr
Zustand zu verschlechtern schien. Auch Prof. N schien die Entscheidung tragen zu
können: "Hätten wir das Wochenende abgewartet, hätte ich keine ruhige
Minute gehabt", sagte er. Welch ehrliche Worte. Die Gefahr einer weiteren
Einblutung und eines gesteigerten Hirndrucks war einfach da. Ich wollte, dass
dieses scheußliche Ding aus ihrem Kopf raus kam - je eher, desto besser. Der
Arzt zeigte uns die MRT-Aufnahmen, meinte, der Tumor sei zwar groß, würde aber
günstig liegen. Er müsste einen großen Teil des Schädelknochens öffnen. Würde
der Tumor tiefer liegen, wäre die Öffnung kleiner. Wir sollten uns das so vorstellen,
als würde man durch ein Schlüsselloch schauen. Man könne gut erkennen, was in
der Ferne liegen würde, aber nicht den Bereich unmittelbar hinter dem
Durchguck. Weil Viannes Tumor relativ nah an der Schädeloberfläche lag, wollte
er deshalb einen größeren Bereich des Schädels öffnen, um einen besseren Blick
zu haben. Noch wussten wir nicht, um welche Art von Tumor es sich handelt, ob
gutartig oder bösartig. Aufgrund der gleichmäßigen Struktur und der
Zystenbildung hatten die Radiologin wie auch Prof. N eine Verdachtsdiagnose: Pilozytisches
Astrozytom , ein gutartiger Hirntumor. Der Neurochirurg würde den Tumor
entfernen. Um aber möglichst wenig gesundes Hirngewebe zu zerstören, wolle er
die Zystenränder stehen lassen. Sollte der Tumor
gutartig sein, wäre das kein Problem. Sollte er allerdings doch bösartig sein,
müsste nachoperiert werden. Ich versuchte mich auf das zu konzentrieren, was er
sagte. Aber meine Aufmerksamkeit drohte vom Sog der Verzweiflung weggerissen zu
werden. "Reiß dich verdammt noch mal zusammen, konzentriere dich",
schrie es in mir. Ich zwang meinen Blick wieder auf die MRT-Bilder. Dann ging
es um all die Dinge, die so unglaublich schief laufen können, mit all den
schrecklichen Folgen. Worte wie Lähmungen, Krampfanfälle, Tod fielen. Wir
unterschrieben und gaben unser Einverständnis - eine gemeinsame Entscheidung.
Die OP sollte gegen 17 Uhr beginnen und circa sechs Stunden dauern. Meine
größte Angst war nicht nur allein der Tod unseres Kindes. Ich hatte auch Angst,
ein komplett anderes kleines Mädchen nach dem Eingriff vorzufinden. Wir gingen
zurück zu unseren Kindern. Vianne strahlte: "Andi und Ralf sind da!"
Ihre kindliche Welt war nicht dunkel und verschwommen, obwohl auch sie zu
merken schien, dass irgendetwas nicht stimmte.
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