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14. Juni 2016

Gespräche -



Rückblick: Freitag, 17. August, nachmittags

Prof. N. holte uns sofort mit ins Boot und wollte unsere Einschätzung über Viannes momentanen Zustand hören. Wir fanden, dass sie auf uns noch müder als am Vortag wirkte, ein Kriterium, das für eine sofortige Operation sprach, da sich ihr Zustand zu verschlechtern schien. Auch Prof. N schien die Entscheidung tragen zu können: "Hätten wir das Wochenende abgewartet, hätte ich keine ruhige Minute gehabt", sagte er. Welch ehrliche Worte. Die Gefahr einer weiteren Einblutung und eines gesteigerten Hirndrucks war einfach da. Ich wollte, dass dieses scheußliche Ding aus ihrem Kopf raus kam - je eher, desto besser. Der Arzt zeigte uns die MRT-Aufnahmen, meinte, der Tumor sei zwar groß, würde aber günstig liegen. Er müsste einen großen Teil des Schädelknochens öffnen. Würde der Tumor tiefer liegen, wäre die Öffnung kleiner. Wir sollten uns das so vorstellen, als würde man durch ein Schlüsselloch schauen. Man könne gut erkennen, was in der Ferne liegen würde, aber nicht den Bereich unmittelbar hinter dem Durchguck. Weil Viannes Tumor relativ nah an der Schädeloberfläche lag, wollte er deshalb einen größeren Bereich des Schädels öffnen, um einen besseren Blick zu haben. Noch wussten wir nicht, um welche Art von Tumor es sich handelt, ob gutartig oder bösartig. Aufgrund der gleichmäßigen Struktur und der Zystenbildung hatten die Radiologin wie auch Prof. N eine Verdachtsdiagnose: Pilozytisches Astrozytom , ein gutartiger Hirntumor. Der Neurochirurg würde den Tumor entfernen. Um aber möglichst wenig gesundes Hirngewebe zu zerstören, wolle er die Zystenränder stehen lassen. Sollte der Tumor gutartig sein, wäre das kein Problem. Sollte er allerdings doch bösartig sein, müsste nachoperiert werden. Ich versuchte mich auf das zu konzentrieren, was er sagte. Aber meine Aufmerksamkeit drohte vom Sog der Verzweiflung weggerissen zu werden. "Reiß dich verdammt noch mal zusammen, konzentriere dich", schrie es in mir. Ich zwang meinen Blick wieder auf die MRT-Bilder. Dann ging es um all die Dinge, die so unglaublich schief laufen können, mit all den schrecklichen Folgen. Worte wie Lähmungen, Krampfanfälle, Tod fielen. Wir unterschrieben und gaben unser Einverständnis - eine gemeinsame Entscheidung. Die OP sollte gegen 17 Uhr beginnen und circa sechs Stunden dauern. Meine größte Angst war nicht nur allein der Tod unseres Kindes. Ich hatte auch Angst, ein komplett anderes kleines Mädchen nach dem Eingriff vorzufinden. Wir gingen zurück zu unseren Kindern. Vianne strahlte: "Andi und Ralf sind da!" Ihre kindliche Welt war nicht dunkel und verschwommen, obwohl auch sie zu merken schien, dass irgendetwas nicht stimmte.

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