Rückblick: Ende September
2012
Ein
paar Tage später zuhause. Meine Eltern kamen zu Besuch und gingen eine Runde
mit den Kindern spazieren. Vianne saß in ihrem neuen Buggy, den wir auf der
Rückfahrt von Kiel noch schnell besorgt hatten. Ada fand’s doof, dass sie
laufen musste. Verständlich. Vianne konnte zwar wieder gehen, aber noch nicht
so weit und nicht so schnell. Ziemlich betroffen kamen meine Eltern eine Stunde
später wieder zurück, obwohl sie versucht hatten, sich nichts anmerken zu lassen.
Im Kinderwagen-Verdeck klebten massenweise Haare. Es ging los. Die Chemo zeigte
das erste Mal ihr wahres Gesicht. Obwohl ich wusste, dass sie ihre Haare
verlieren würde, war ich innerlich geschockt. Vor Vianne vertuschte ich es. Es
juckte sie überall, da die Haare im Nacken kitzelten oder im Gesicht klebten.
Ich schluckte kurz: „Was hältst du davon, wenn wir Frisör spielen“, fragte ich
meine kleine Maus. Vianne fand den Vorschlag gut. Also holte ich schnell Kamm
und Schere, legte ihr ein Handtuch über die Schultern, setzte sie auf einen
Drehstuhl und kürzte die verbliebenen blonden Löckchen. Es stand ihr gut. Sie
verlor anfangs nicht alle Haare, auch wenn sie deutlich lichter wurden. Aber
sie war meiner Vianne noch immer sehr ähnlich. Wir erklärten ihr, dass die
Chemo-Ritter in der Hitze des Gefechts nicht nur die doofen Zellen kaputtmachen, sondern manchmal auch ein paar
gute erwischen, so auch die Haarwurzeln. Meine Schwester hatte uns kindgerechte
Märchenbücher über die Chemotherapie von der Deutschen Kinderkrebsstiftung
mitgebracht. „Prinzessin Luzie und die Chemo-Ritter“ und das Geschwisterbuch „Prinz
Daniel und seine kranke Schwester Luzie“ wurden zur bevorzugten Lektüre von Ada
und Vianne. Toll, dass es auch ein Buch aus Sicht des Geschwisterkindes gab, da
hatten sich die Autoren wirklich Gedanken gemacht. Nach außen hin wirkten Luke,
Jesse und Ada stabil. Aber ab und zu blitzte ihre wirkliche Gefühlslage durch.
Jesse weigerte sich beharrlich, Vianne im Krankenhaus zu besuchen. Er
verdrängte. Luke schien in der Schule noch abwesender als sonst zu sein. Ada
wollte Vianne nicht mehr allein lassen, wollte immer dabei sein, konnte sich
nicht gut von uns trennen. Neben der Chemotherapie hatten wir noch weitere
Untersuchungen im Krankenhaus: es wurde ein Ultraschall und ein EKG vom Herzen
gemacht, regelmäßige Augenuntersuchungen und Hörtests standen an, die Hirnströme
wurden gemessen. Mit Mundschutz machten wir uns auf den Weg in die einzelnen
Abteilungen. Dort war es immer rappelvoll. Viele Erwachsene betrachteten Vianne
traurig. Vianne hatte zwar oftmals Angst, machte aber immer gut mit und verzauberte
durch ihre Art. Wir mussten zum Glück meistens nicht lange warten, bevor es
hieß: „Emma, kommst du mit?“ „Sie heißt Vianne“, hörte ich mich immer öfter
sagen. Es war Zeit, dass alle ihren wahren Namen im Gedächtnis behielten.
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