Rückblick: September 2012
Früh
am nächsten Morgen brachen wir auf Richtung Essener Uniklinikum. Obwohl wir an
diesem Tag zügig vorankamen, war der Weg dorthin eine Katastrophe, weil die A40
gerade ausgebaut wurde und ständig irgendein Teilstück entweder gesperrt oder
nur einseitig befahrbar war. Staus waren vorprogrammiert. "Wie sollten wir
im Notfall schnell das Klinikum erreichen?", fragte ich mich schon auf dem
Hinweg. Ich war so nervös, versuchte aber, mich auf das anstehende Gespräch zu
konzentrieren. An sich war es der gleiche Ablauf: ansprechendes Gelände, nette
und kompetente Gesprächspartner. Aber die Zimmer waren viel kleiner und
hoffnungslos überfüllt. Alles in mir schrie laut "Nein". Das schaffe
ich hier nicht. Gleichzeitig quälte mich ein schlechtes Gewissen. Ein
Uniklinikum bot so einige Vorteile: mehr Gelder, folglich auch bessere Personalschlüssel
und vielleicht auch bessere medizinische Geräte, eine bessere Vernetzung. Auch
die Ärztin war maßgeblich an der Hirntumor-Studie für Rezidive beteiligt, also
absolut vertraut mit Ependymomen. Aber hier würden wir nur im Ausnahmefall ein Einzelzimmer
bekommen, soviel war klar. Für die Eltern standen in den kleinen Kammern
lediglich Klappbetten bereit, die tagsüber abgebaut werden mussten, um überhaupt
noch durch das Zimmer zu kommen. Die Privatsphäre ging gleich null. Müsste ich
mit meiner Tochter wegen eines Beinbruchs hier zwei Wochen verbringen wäre das
ja ok, aber nicht für eine knapp einjährige Behandlungsdauer unter solch großer
emotionaler Belastung. Ich wollte für mich sein, wenn mir nach Weinen zumute
war, ich wollte für mich sein, wenn ich mit meiner Tochter herumalbere,
schmuse, Kitzelmonster spiele, wenn ich ihr schräge Lieder vorsinge oder blöde
Reime erzähle. Innerlich hatte ich bereits eine Entscheidung getroffen, kam mir
aber dabei so klein und schwach vor. Auf dem Weg zum Auto konnte ich nicht mehr
an mich halten. Ich schluchzte laut und konnte nicht aufhören. Erst Micha
konnte mich wieder beruhigen, indem er mir sage, ich solle mich auf mein
Bauchgefühl verlassen. Langsam konnte ich wieder klar denken. Essen war insgesamt
schon etwas anonymer und nüchterner. Die Ärzte hatten sich im Gegensatz zu den
Dortmundern nicht erkundigt, wie es Vianne gerade geht. Außerdem waren auf der
Station so viele Ober- und Assistenzärzte tätig, dass wir sicher jeden Tag ein
neues Gesicht sehen würden. Was hätten wir also von der Professorin, die im
Thema ist, wenn sie nicht greifbar ist. Die Behandlung an sich läuft an allen
Kliniken nach dem gleichen Protokoll. Zudem liegt Dortmund logistisch gesehen
viel günstiger für uns, wir wären schnell dort und Micha arbeitet quasi um die
Ecke, so dass wir uns schnell ablösen könnten mit Viannes Betreuung. Bis
Donnerstag hatten wir uns Bedenkzeit erbeten. Aber unsere Entscheidung stand
eigentlich schon am Dienstag fest. Donnerstagmorgen informierten wir beide
Kliniken und waren sehr angetan von der Reaktion der Essener. Die Professorin
sagte, sie hätte sich schon gedacht dass wir uns für die heimatnahe Klinik entscheiden,
sicherte uns aber ihre Unterstützung zu, falls wir eine Zweitmeinung bräuchten
oder falls Vianne nochmals
operiert werden müsse. Die Zusammenarbeit der Fachleute untereinander funktionierte
gut, auch über die Kliniken hinaus, und das machte uns sehr zuversichtlich. Die
Spezialisten kannten sich, regelmäßig fand ein guter Fachaustausch statt. Jetzt
ging es also wirklich los.
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