Rückblick: Dienstag,
4. September 2012
Bereits
am folgenden Dienstag fand die noch ausstehende Lumbalpunktion und das MRT des
Spinalkanals statt. Bei der Lumbalpunktion wird Hirnwasser aus dem
Rückenmarkskanal entnommen, um zu sehen, ob sich darin versprengte Tumorzellen
befinden. Gleichzeitig wird beim MRT der Wirbelsäule geschaut, ob sich dort Metastasen
angesiedelt haben. Für die beiden Untersuchungen sollte unsere Maus eine
leichte Narkose bekommen. Sie bekam den "Schlafsaft" Dormicum. Aber
irgendwie wirkte er nicht. Mit uns auf dem Zimmer lag ein kleiner Junge. Der
Fernseher lief. Vianne wollte immer wieder zum Fernseher schauen, schläfrig oder beduselt wirkte sie nicht. Wir
baten die Mutter des Kleinen, den Fernseher auszuschalten, es war so unruhig,
und wir waren so aufgeregt. Wieder eine Untersuchung, wieder auf's Ergebnis
warten müssen. Ich wollte nicht, dass sie Vianne weh tun. Gerade nach einer
Lumbalpunktion soll man die erste Zeit ruhig liegen bleiben, ansonsten gibt es
derbe Kopfschmerzen, aber unsere kleine "Zappelelse" konnte noch
nicht einmal das Dormicum ausbremsen. Ich war so negativ eingestellt und
rechnete bei den anstehenden Untersuchungen mit schlimmen Neuigkeiten.
Schließlich waren die letzten Nachrichten alle ziemlich übel gewesen. Bösartig statt
gutartig, rechtsseitige Bewegungseinschränkung statt Verbesserung der Motorik
nach der OP. Ich war so verdammt nervös, dass ich nur noch genervt war: der
Junge war zu laut, die Mutter zu unbeteiligt, ich wollte allein sein mit meiner
Tochter und meinem Mann. Ich beschwerte mich bei den Schwestern (was mir im Nachhinein
echt unangenehm ist) und der Junge wurde in ein anderes Zimmer verlegt. Erst
bei weiteren Krankenhausaufenthalten habe ich erfahren, dass der Junge
ebenfalls Krebs hat und gerade einen Rückfall erlitten hatte.
Eine
Schwester holte uns ab und brachte uns zum MRT im Hauptgebäude. Die
Kinderklinik ist durch einen unterirdischen engen und miefigen Tunnel mit dem
Hauptgebäude verbunden. An manchen Passagen passt gerade mal ein
Krankenhausbett durch – Gegenverkehr muss warten. Ich trug Vianne den ganzen
Weg auf dem Arm, ich konnte sie nicht loslassen. Schließlich kamen wir beim MRT
an und mussten unsere Tochter an der Tür abgeben. So etwas kannten wir aus Kiel
nicht, dort durfte sie sogar vor der großen Hirn-Operation, bei der sie nicht
wie jetzt lediglich sediert worden war (bei der Sedierung schläft man zwar, atmet
aber eigenständig), sondern eine richtige Narkose bekommen hatte (bei der
Narkose wird die Atmung ausgeschaltet und der Patient muss künstlich beatmet
werden) auf unserem Arm einschlafen. Hier war so etwas anscheinend nicht
möglich. Wir waren so perplex, dass wir nur schwach protestierten, allerdings
ohne Erfolg. Wir setzten uns geschockt auf die Bänke vor dem MRT-Raum, während
wir Vianne noch kurz weinen hörten. Knapp eine Stunde sollten beide
Untersuchungen zusammen dauern. Wir hockten einfach nur auf unseren Stühlen.
Ich fühlte mich wütend, hilflos, verzweifelt, hoffnungslos. Micha wirkte so
stark, aber innerlich sah es beim ihm auch nicht anders aus. Auf einmal kam Dr.
B. um die Ecke und setzte sich uns gegenüber.
In diesem Moment fiel mir das erste Mal auf, wie beruhigend seine Anwesenheit
auf mich wirkte. Er erklärte noch einmal genau, was gerade mit Vianne passiert
und ging behutsam auf unsere Fragen und Ängste ein. Ich schüttete meinen Unmut
über das Anästhesieteam über ihn aus. Noch ein weiterer Punkt störte mich:
Während in Kiel geduldig versucht wird, die Kinder ohne Sedierung ins MRT zu schicken, steht dieses Vorgehen in
Dortmund gar nicht zur Debatte. Darauf angesprochen schauten uns die
Anästhesisten lediglich mit großen Augen an. Wie? Jüngere Kinder ohne
Ruhigstellung ins MRT? Diese Vorstellung schien für die Dortmunder Kollegen so
abwegig wie ein zweitägiger Flug zur Sonne.
Dr.
B saß lange bei uns und half, die Zeit des Wartens und Bangens zu überbrücken.
Was für eine nette, menschliche Geste. Mehrere Male öffnete und schloss sich
die Tür zum MRT-Raum, und jedes Mal versuchten wir in den Gesichtern der Ärzte
und Schwestern zu lesen. Die Tür öffnete sich abermals. Vianne lag in ihrem
Gitterbettchen, und wir fuhren mit ihr zurück auf die Station. Alles habe gut
geklappt, erklärte der Anästhesist, mehr erfuhren wir noch nicht. Wir waren
zuerst einmal erleichtert, unsere Maus wieder bei uns zu haben. Vianne schlief
tief und fest. Der Ärger über das Anästhesieteam war wie wegblasen. Ich wollte
nur noch meine Tochter berühren, streicheln, riechen, genießen.
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