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14. Juni 2016

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Rückblick: Freitag, 17. August 2012, morgens

Der Morgen graute, und das Grauen traf mich - hinterhältig, mit voller Wucht. Ich schlug die Augen auf, und eine dunkle Welle überrollte mich. Ich schaute nach Vianne. Obwohl sie die ganze Nacht überwacht worden war, musste ich mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass es ihr gut ging. Sie schlief tief und fest und ruhig. Es war noch ganz früh am Morgen. Micha hatte noch in der Nacht mit mir telefoniert um mir zu sagen, dass er sicher im Ferienhaus angekommen war. Er hatte sich durch dichten Nebel gekämpft, als ob diese Nacht unser Innerstes widerspiegeln wollte. Im Ferienhaus angekommen, hatten sich die vier gemeinsam in ein Bett gekuschelt.
Das Frühstück kam - ich brachte kaum einen Bissen runter. In den Tagen in der Kieler Uniklinik entdeckte ich meine Liebe zu Kamillentee, den ich bisher immer verabscheut hatte, sogar wenn ich krank war. Ich weiß nicht mehr,  wann genau ich mir die erste Tasse holte, ich weiß nur, dass mich der Teebeutel auf dem Wägelchen im Krankenhausflur plötzlich anlächelte und ich seither immer Kamillentee trinke, wenn mich diese innere Kälte überfällt.
Ich kann mich nur bruchstückhaft an diesen Tag im Krankenhaus erinnern. Ganz genau erinnern kann ich mich aber an das erste Zusammentreffen mit Prof. N. Er strahlte Ruhe und Sicherheit aus, als er in unser Zimmer kam. Auch Vianne mochte ihn auf Anhieb. Wir hatten Fragen, so viele Fragen surrten in unseren Köpfen. Es sei wichtig, dass der Tumor entfernt werde, sagte er. Es gebe drei Möglichkeiten, erklärte uns der Professor: er operiert unsere Tochter noch heute, am Freitag, wenn wir der Meinung seien, ihr Zustand habe sich seit gestern verschlechtert. Alternative Nummer Zwei wäre eine Operation am Montag, dann könne er sein „Dreamteam“ zusammenstellen und sich in aller Ruhe vorbereiten. Unsere Tochter müsste dann das ganze Wochenende engmaschig überwacht werden, weil sie bereits eine Einblutung gehabt hätte, höchstwahrscheinlich als sie bei meinen Eltern übernachtet hatte. Das führte zu den schlagartigen motorischen Ausfälle, denn der Tumor saß in der linken Hirnhälfte, in dem Bereich, der die Motorik der rechten Körperhälfte steuert. Nicht auszudenken was gewesen wäre, wenn diese Blutung nicht von allein zum Stillstand gekommen wäre. Dann wäre sie gestorben, bei meinen Eltern. Wenn es also am Wochenende zu einer erneuten Blutung im Hirn käme, müsste eine Notoperation gemacht werden. Die dritte Option wäre eine Verlegung in eine heimatnahe Klinik, davon würde er uns aber dringend wegen der Einblutungsgefahr abraten: „Ich würde Emma (ihr Rufname ist doch Vianne!) auf keinen Fall transportieren. Kommt es dabei zur Blutung, können wir auch im Krankenwagen nichts mehr für sie tun“, erklärte er uns sachlich. Wir waren geschockt. Noch gestern schien unsere Tochter mehr oder weniger gesund, und heute war ihr Tod Thema. Sagte er das nur, weil er ihren Tumor operieren wollte? Standen Forschungen, Übungszwecke, Gelder im Vordergrund? Ich bin immer so schrecklich skeptisch.


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