Rückblick: Noch in Kiel/ August 2012
Ein
Anaplastisches Ependymom WHO Grad III ist ein hirneigener Tumor, der aus den
Ependymzellen, die die Hirnventrikekel auskleiden, entsteht. Es gibt mehrere
Subtypen: Grad I ist ein langsam wachsender Tumor, der als gutartig eingestuft
wird, Grad II ist ebenfalls noch gutartig, kann sich aber zu einem schnell wachsenden
verändern. In diesen beiden Fällen folgen nach der Operation lediglich in
zeitlichen Abständen MRT-Kontrollen. Grad III, die anaplastische Variante, ist
bösartig, die Zellen sind entartet und teilen sich schnell, so dass auch das
Tumorwachstum rasant ist. Bei Grad III muss auch nach einer erfolgreichen OP
mit kompletter Tumorentfernung nachbehandelt werden, denn die Erfahrung
aufgrund jahrzehntelang gesammelter Daten im Rahmen von
Therapie-Optimierungsstudien hat gezeigt, dass der Tumor in vielen Fällen
wieder wächst und die Überlebenschancen rapide sinken. Ein wirklich
gefährliches und hinterhältiges „A-loch“, dieses anaplastische Ependymom!
Die
aktuelle Studie HIT (für Hirntumor) 2000 Ependymom war gerade Ende 2012
abgeschlossen worden. Sie sah für die Unter-Vierjährigen eine vorgeschobene
Chemotherapie in fünf Blöcken (16 Gaben) vor und daran sich anschließend eine
circa sechswöchige Bestrahlung. Für uns käme das Interimsprotokoll, ein
sogenanntes Übergangsprotokoll, zum Tragen, das die gleiche Behandlung
vorsieht. Denn bis eine neue Studie geöffnet wird, kann es noch eine gewisse
Zeit dauern, da die Auswertung der Daten einige Zeit in Anspruch nimmt. Zudem
müssen Ethikkommissionen die neue Studie erst genehmigen, das kann ebenfalls
einige Zeit dauern. Diese Sorgfalt ist meiner Meinung nach auch ganz wichtig
bei solch schwerwiegenden Krankheiten, denn niemand möchte zum
Versuchskaninchen werden, sondern auf Basis versierter Daten behandelt werden.
Die neue Studie soll voraussichtlich 2015 anlaufen. Wir aber waren in einer
Zwickmühle. Es gab schon Erkenntnisse aus der HIT 2000 Studie, wir durften sie allerdings
noch nicht nutzen, da die neue Studie noch nicht eröffnet war. Aber wir wollten
natürlich nach neuesten Erkenntnissen behandelt werden. Also nahmen wir
telefonisch Kontakt zur Studienleitung in Hamburg auf. Der zuständige Onkologe
nahm sich gleich Zeit für uns und konnte uns beruhigen, dass keine gravierenden
Veränderungen bevorstehen würden. Während man von der Bestrahlung wusste, dass
sie zur Heilung führen kann, war der Nutzen der Chemotherapie umstritten. Bei
Kindern unter vier Jahren sei die vorgeschobene
Chemotherapie aber wichtig, um den Bestrahlungszeitpunkt so weit wie möglich
nach hinten zu verschieben, am besten bis zum Alter von vier Jahren, da gerade
das frühkindliche Gehirn extrem auf die Bestrahlung - mit all seinen schlimmen
Nebenwirkungen und Langzeitfolgen - reagieren würde. Na super!
Wieder mussten Micha und ich in kurzer Zeit eine wichtige Entscheidung für
unsere Tochter treffen. Denn das Protokoll sah vor, dass wir spätestens drei
Wochen nach OP mit der Chemotherapie beginnen sollen. Allein schon bei dem Wort
Chemotherapie sah ich zerbrechliche, durchschimmernde, fahl-blasse Kinder ohne
Haare vor mir, die sich andauernd übergeben müssen. Mir wurde übel. Ich schaute
meine süße Tochter an, die gerade heimlich und genüsslich die Schokocreme aus
den kleinen Frühstücks-Schächtelchen schleckte - natürlich ohne Brot dazu. Sie
sah doch schon wieder so gesund aus. Sie sollte Krebs haben? Krebs hatten doch
immer nur die anderen, der Sohn von entfernten Bekannten von Freunden. Aber
doch nicht wir. Vianne erholte sich doch so gut. Als sie schlief, schauten wir
im Internet nach Infos zum „Anaplastischen Ependymom“.
Die Ärzte hatten uns zwei seriöse Seiten empfohlen und uns geraten, nicht
irgendwelche Krebsforen im Internet zu besuchen. Ein weiser Rat, an den wir uns
auch erst einmal hielten. Dass bestrahlt werden muss war für Micha und mich
klar, wegen der Chemotherapie waren wir beide aber unsicher. Wir wollten später
eine Entscheidung treffen und erst einmal mehr Informationen sammeln. Was wir
aber schon jetzt intuitiv wussten: uns allen stand eine sehr lange, schmerzhafte
und entbehrungsreiche Zeit bevor. Wir brauchten so viel Hilfe, wie wir kriegen
konnten.
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