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14. Juni 2016

Wut



Rückblick:  Mittwoch, 22. August, früher Abend

Ich war verzweifelt, aber das Gefühl, was noch mehr vorherrschte, war unbändige Wut. Wut auf diesen Arzt, der uns so ungeschickt mitteilt, dass unsere Tochter Krebs hat, während sie dabei sitzt. Der uns, ohne uns Zeit zu geben, das eben gehörte ansatzweise zu verdauen, mitteilt, dass ihr kleines Köpfchen bestrahlt werden muss, dass ihr kleiner Körper fast ein ganzes Jahr mit hochgiftigen Substanzen verseucht werden muss, dass sie auf Metastasen untersucht werden muss, dass ihr Hirnwasser aus dem Rückenmarkskanal gezogen werden muss, um nach versprengten Tumorzellen zu schauen. Wenn ich schon so eine schreckliche Botschaft habe, dann doch nicht im Beisein des kleinen Patienten! Wie soll das ohne Angstzustände für das Kind vonstatten gehen, wenn es hautnah mitbekommt, wie die Eltern voller Panik sind? Sinnvoller wäre es gewesen, uns erst einmal in Abwesenheit unserer Tochter zu informieren und später die weitere Vorgehensweise zu besprechen. Studien haben ergeben, dass Eltern in diesem ersten Moment sowieso nicht aufnahmefähig sind und nach Diagnosestellung nur 10 bis 20 Prozent an Informationen mitbekommen. Alle Kraft, die ich bis daher noch hatte, ergoss sich wie ein Schwall Wasser auf dem Boden. Wir wollten sofort mit Prof. N sprechen. Sofort. Wir brachen das Gespräch an dieser Stelle ab. Uli saß blass mit Loulou und Vianne auf dem Schoß in einer Ecke und las aus einem Buch vor. Vianne wie auch Loulou spürten natürlich, dass irgendetwas Schlimmes vor sich ging. Nach dem ersten Schock ließen wir Uli und Loulou nach Hause fahren und kuschelten ganz viel mit unserer kleinen Maus. Micha gab mir die Freiheit, meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Ausgestattet mit Musik und Sonnenbrille ging ich Joggen - zuerst durch “meinen“ Garten, dann am Wasser entlang. Ich lief immer weiter die Voerde Richtung offenes Meer, Pier B1, B2, C1, C2, D1, D2, ich lief und lief, während heiße Tränen meine Wangen hinab liefen, ich schluchzte, Passanten schauten mich im Vorbeirennen an, aber ich konnte nicht aufhören, ich wollte nur rennen, wegrennen, bis ans Ende der Welt, zum Meer. Irgendwann klingelte mein Telefon: Micha war dran: „Prof. N will uns sprechen.“ „Ich bin in zehn, maximal 15 Minuten da“, sagte ich. Dann machte ich kehrt. Den Rückweg konnte ich nie und nimmer in dieser Zeit schaffen. Ich war so weit gelaufen. Also rannte ich, ich rannte, wie ich noch nie zuvor gerannt war. Der Schweiß rann mir heiß den Rücken hinab. Ich musste das Weinen einstellen, um genug Puste zu haben. Auf gar keinen Fall wollte ich das Gespräch verpassen. Völlig fertig kam ich irgendwann im Krankenhaus an. Er war noch da.
„Es – tut - mir – leid – ich – komme - gerade - vom – Laufen“, japste ich. Ich hockte mich mit angezogenen Knien auf den Zimmerboden, den Rücken an die nackte Wand gelehnt. Ich war so leer. „Ich rieche nicht so gut.“, sagte ich leise zu Prof. N. „Das macht gar nichts“, sagte der Neurochirurg freundlich, während mir der Schweiß in die Augen lief, „da kenne ich als Mediziner ganz andere Gerüche.“ Dieser Mann war toll. Sofort stellte sich die Ruhe ein, die ich immer in seiner Gegenwart hatte. Aber die tief sitzende Hoffnungslosigkeit, die mich in diesem Moment überfiel, konnte auch er mir im weiteren Verlauf des Gesprächs nicht nehmen. Erst nach zehn Jahren gelte ein Patient als geheilt, und auch danach kann es theoretisch zu einem erneuten Tumorwachstum kommen.
Die meisten Fachschriften sprechen gar nicht von Heilung, sondern von „progressionsfreiem Überleben“. Nach drei Jahren sind noch zwei Drittel der Patienten tumorfrei, nach fünf Jahren lediglich die Hälfte. Bittere Statistiken, bittere Aussichten. Noch heute danke ich Prof. N insgeheim für seine deutlichen Worte: „Sie werden ab jetzt für immer mit dieser Erkrankung leben müssen.“ Viel später, im Gespräch mit anderen betroffenen Familien, stellte sich heraus, dass wir die Chance bekommen hatten, uns relativ früh von unserem „alten Leben“ zu verabschieden, andere hatten einen ganz langen Weg vor sich, um genau dort hinzukommen. Dadurch, dass wir so früh und nicht häppchenweise erfahren haben, was die Diagnose Hirntumor bedeutet, konnten wir uns leichter in unser neues Leben einfinden und auch für unsere Tochter ein wichtiger Stützpfeiler sein. Aus tiefstem Herzen: „Danke, Prof. N!“


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