Rückblick: Mittwoch, 22. August,
früher Abend
Ich
war verzweifelt, aber das Gefühl, was noch mehr vorherrschte, war unbändige
Wut. Wut auf diesen Arzt, der uns so ungeschickt mitteilt, dass unsere Tochter
Krebs hat, während sie dabei sitzt. Der uns, ohne uns Zeit zu geben, das eben
gehörte ansatzweise zu verdauen, mitteilt, dass ihr kleines Köpfchen bestrahlt
werden muss, dass ihr kleiner Körper fast ein ganzes Jahr mit hochgiftigen
Substanzen verseucht werden muss, dass sie auf Metastasen untersucht werden
muss, dass ihr Hirnwasser aus dem Rückenmarkskanal gezogen werden muss, um nach
versprengten Tumorzellen zu schauen. Wenn ich schon so eine schreckliche
Botschaft habe, dann doch nicht im Beisein des kleinen Patienten! Wie soll das
ohne Angstzustände für das Kind vonstatten gehen,
wenn es hautnah mitbekommt, wie die Eltern voller Panik sind? Sinnvoller wäre
es gewesen, uns erst einmal in Abwesenheit unserer Tochter zu informieren und
später die weitere Vorgehensweise zu besprechen. Studien haben ergeben, dass
Eltern in diesem ersten Moment sowieso nicht aufnahmefähig sind und nach Diagnosestellung
nur 10 bis 20 Prozent an Informationen mitbekommen. Alle Kraft, die ich bis
daher noch hatte, ergoss sich wie ein Schwall Wasser auf dem Boden. Wir wollten
sofort mit Prof. N sprechen. Sofort. Wir brachen das Gespräch an dieser Stelle
ab. Uli saß blass mit Loulou und Vianne auf dem Schoß in einer Ecke und las aus
einem Buch vor. Vianne wie auch Loulou spürten natürlich, dass irgendetwas
Schlimmes vor sich ging. Nach dem ersten Schock ließen wir Uli und Loulou nach
Hause fahren und kuschelten ganz viel mit unserer kleinen Maus. Micha gab mir
die Freiheit, meinen Tränen freien Lauf zu lassen. Ausgestattet mit Musik und Sonnenbrille
ging ich Joggen - zuerst durch “meinen“ Garten, dann am Wasser entlang. Ich
lief immer weiter die Voerde Richtung offenes Meer, Pier B1, B2, C1, C2, D1,
D2, ich lief und lief, während heiße Tränen meine Wangen hinab liefen, ich
schluchzte, Passanten schauten mich im Vorbeirennen an, aber ich konnte nicht
aufhören, ich wollte nur rennen, wegrennen, bis ans Ende der Welt, zum Meer.
Irgendwann klingelte mein Telefon: Micha war dran: „Prof. N will uns sprechen.“
„Ich bin in zehn, maximal 15 Minuten da“, sagte ich. Dann machte ich kehrt. Den
Rückweg konnte ich nie und nimmer in dieser Zeit schaffen. Ich war so weit
gelaufen. Also rannte ich, ich rannte, wie ich noch nie zuvor gerannt war. Der
Schweiß rann mir heiß den Rücken hinab. Ich musste das Weinen einstellen, um
genug Puste zu haben. Auf gar keinen Fall wollte ich das Gespräch verpassen.
Völlig fertig kam ich irgendwann im Krankenhaus an. Er war noch da.
„Es
– tut - mir – leid – ich – komme - gerade - vom – Laufen“, japste ich. Ich hockte
mich mit angezogenen Knien auf den Zimmerboden, den Rücken an die nackte Wand
gelehnt. Ich war so leer. „Ich rieche nicht so gut.“, sagte ich leise zu Prof. N.
„Das macht gar nichts“, sagte der Neurochirurg freundlich, während mir der
Schweiß in die Augen lief, „da kenne ich als Mediziner ganz andere Gerüche.“
Dieser Mann war toll. Sofort stellte sich die Ruhe ein, die ich immer in seiner
Gegenwart hatte. Aber die tief sitzende Hoffnungslosigkeit, die mich in diesem Moment
überfiel, konnte auch er mir im weiteren Verlauf des Gesprächs nicht nehmen.
Erst nach zehn Jahren gelte ein Patient als geheilt, und auch danach kann es
theoretisch zu einem erneuten Tumorwachstum kommen.
Die
meisten Fachschriften sprechen gar nicht von Heilung, sondern von „progressionsfreiem
Überleben“. Nach drei Jahren sind noch zwei Drittel der Patienten tumorfrei,
nach fünf Jahren lediglich die Hälfte. Bittere Statistiken, bittere Aussichten.
Noch heute danke ich Prof. N insgeheim für seine deutlichen Worte: „Sie werden
ab jetzt für immer mit dieser Erkrankung leben müssen.“ Viel später, im
Gespräch mit anderen betroffenen Familien, stellte sich heraus, dass wir die
Chance bekommen hatten, uns relativ früh von unserem „alten Leben“ zu verabschieden,
andere hatten einen ganz langen Weg vor sich, um genau dort hinzukommen.
Dadurch, dass wir so früh und nicht häppchenweise erfahren haben, was die
Diagnose Hirntumor bedeutet, konnten wir uns leichter in unser neues Leben
einfinden und auch für unsere Tochter ein wichtiger Stützpfeiler sein. Aus tiefstem
Herzen: „Danke, Prof. N!“
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