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15. Juni 2016

Chemostart



Rückblick: Mittwoch, 12. September 2012 - nachmittags

Auf Station angekommen, richteten wir unser Krankenhauszimmer erst einmal gemütlich ein. Loulous Schmetterlingsaufkleber klebten wir an Viannes Bett, die bunte Schmetterlingslampe aus Papier kam darüber. Die Powermaus-Postkarte hefteten wir an die Wand. Das „Schmücken“ wurde zu einem Ritual. Vianne sollte sich wohl fühlen, sobald sie wach wurde. Die unzähligen Stofftiere und die Eulen-Spieluhr lagen sowieso schon in ihren Armen. Unsere Lieblingsbücher platzierten wir auf dem kleinen Nachttisch. Schließlich schlug die Maus die Augen auf, nuckelte genüsslich an ihrem Schnuller, war ansonsten aber leicht irritiert, weil ihre rechte Brustseite mit einem sterilen Pflaster bedeckt war, worunter zwei Schläuche hinausführten. Wahrscheinlich tat die Stelle auch weh. „Du darfst nicht an den Schläuchen ziehen, mein Schatz“, erklärte ich ihr. „Warum nicht?“, wollte sie wissen. „Weil sie in deinen Körper hineingehen.“ „Unter die Haut?“, wollte Vianne  wissen. „Ja, unter die Haut.“ „Habe Hunger“, sagte sie. Das hörte sich doch gut an! Appetit war immer ein gutes Zeichen. Vor dem Eingriff hatte sie sechs Stunden lang nichts essen dürfen, also gab es jetzt ihr Lieblingsfrühstück: Nutella-Toast. Ich wusste gar nicht, wie ich Vianne hochheben sollte, ohne ihr wehzutun. Wo durfte ich sie packen, wo nicht? Zum Glück hatte uns der Chirurg noch im Aufwachraum kurze Instruktionen gegeben. Und trotzdem war es so befremdlich. Direkt hinter der Eintrittsstelle lag eine Muffe, die im Laufe der Zeit unter der Haut einwachsen würde. Zur ersten Stabilisation war der Broviak-Katheter mit einem kleinen Flügel außen mit jeweils zwei bis drei Stichen vernäht. Diese Fäden würden später gezogen. Das allerwichtigste aber war der sterile Umgang mit dem Zugang, damit sich keine

Bakterien einnisten. Die Schwester kam ins Zimmer, um nach Vianne zu schauen. „Gleich wird die erste Chemo angehängt“, verkündete sie. „Wie, was, gleich schon, so schnell nach der Operation? War das nicht zuviel für eine Dreijährige?“ All das schoss mir in einer Millisekunde durchs Hirn. Ich war noch nicht so weit. Ich würde nie so weit sein! Ich musste mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass die Chemo ihr helfen konnte, dass sie nicht ihr/unser Feind war. Das musste ich auch meiner Tochter vermitteln. Das war meine Aufgabe - sie möglichst gut dadurch zu bringen. Ich riss mich zusammen. In den Infogesprächen ein paar Tage zuvor hatten wir die Einwilligung zur Behandlung unterschrieben. Wir wurden umfangreich auf alle Nebenwirkungen und Folgeschäden hingewiesen. Auf den Infoblättern stand es schwarz auf weiß: Haarausfall (das wussten wir), Übelkeit und Erbrechen (auch bekannt), Blasenentzündungen, Schädigung der peripheren Nerven (in den Händen und Füßen), Mundschleimhautentzündungen, Unfruchtbarkeit, in seltenen Fällen Entstehung von Zweittumoren, Hörminderung, Nierenschäden, Beeinträchtigung der Leberfunktion, gelegentlich zentralnervöse Erscheinungen, anaphylaktische Reaktionen (Schock), Thrombozytopenie (wenig Blutplättchen, zuständig für die Blutgerinnung), allergische Reaktionen, Hirnnervenausfälle, Verstopfung, Leukopenie (wenig Abwehrkräfte), schwere zerebrale Störungen. All diese Nebenwirkungen und Spätfolgen können, müssen aber nicht auftreten. Wir hielten uns vor Augen, dass auch auf jedem Beipackzettel für Kopfschmerztabletten geringe wie auch schwerwiegende Nebenwirkungen aufgeführt sind. Das beruhigte etwas. Wir bekamen noch mehr Blätter, worauf mir achten müssen und was wir alles nicht tun dürfen, zum Beispiel keine frischen Erdbeeren und kein Eis vom Eisverkäufer essen, keine Hunde und Katzen streicheln.




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