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16. Juni 2016

Auf dem Trockenen schwimmen



Rückblick: November 2013


Am schwersten fiel  Vianne, dass sie mit ihrem Broviak-Katheter nicht baden gehen durfte. Das Duschen ging lediglich mit etlichen wasserdichten Pflastern, ein Schwimmbad-Besuch kam gar nicht in Frage. Dabei liebte sie es so sehr, ausgiebig zu planschen. Die Infektionsgefahr war einfach zu groß. Aber Kinder sind schließlich kreativ. Ada und Vianne verlegten den Hallenbad-Besuch kurzerhand in unsere Küche. Sie zogen sich ihre Badehosen an, ich musste die Schwimmflügelchen hervorholen und dann sprangen sie in den unsichtbaren Pool, ruderten mit ihren Armen und Beinen und quietschten laut. Neben den Arztspielen wurde dieser "Schwimmbadbesuch" zu ihrem neuen Lieblingsspiel. Manchmal schoben sie sich bis zu einer halben Stunde lang in Bauchlage oder auch in Rückenlage über unseren Granitboden. Doch irgendwann sollte das Spiel ein jähes Ende haben. Nachdem sie wieder einmal einen "Badbesuch" mit ausgiebigen Brustschwimmen hinter sich hatten, kam Vianne zu mir und erzählte, der Brovi-Schlauch sei „rausgerutscht“. Wie? Beunruhigt schaute ich unter ihr Hemdchen. Das Pflaster, dass über der Eintrittsstelle klebte, war zum Glück nicht blutig. Auch sonst sah alles normal aus. Ich wollte das Pflaster ablösen und mir den Zugang genauer ansehen, aber Vianne fing an zu weinen. Den Pflasterwechsel - trotz Pflasterlöser - empfand sie immer noch als Tortur. Da sie mir versicherte, die Eintrittsstelle würde nicht wehtun, beließ ich es erst einmal dabei. Am nächsten Tag hatten wir sowieso einen ambulanten Termin in der Klinik zum Durchspülen des Katheters. Dann wollte ich die Ärzte nachschauen lassen. Nach viel Geschrei - ich war schon wieder nass geschwitzt - ließ sie sich am nächsten Tag das Broviak-Pflaster wechseln. Ich traute meinen Augen kaum: obwohl der Schlauch über zwei Plastikflügelchen mit der Haut mit zwei Stichen vernäht gewesen war, schaute nun die Muffe hervor (der Teil, der an der Eintrittsstelle eigentlich unter der Haut liegen und dort mit dem umliegenden Gewebe verwachsen sollte). „Oh nein!“ Sie hatte Recht gehabt. Das muss doch weh getan haben, schoss es mir durch Kopf. Ich streichelte sie. Tapfere kleine Maus. Wie hart im Nehmen sie doch war. Der Katheter funktionierte noch, es konnte noch Blut entnommen und die Kochsalzlösung zum Spülen hineingegeben werden. Unsere Onkologen schickten uns gleich zum Herz-Ultraschall, denn die Katheterspitze soll in der oberen Hohlvene, nahe dem Herzen, liegen. Das Ultraschallbild zeigte, dass sie nur ein klein wenig  verschoben war. Wieder auf Station angekommen, holten die Onkologen einen Chirurgen zur Beurteilung hinzu. Er riet zu einem neuen Katheter. Die Muffe, die eigentlich kurz vor der Austrittsstelle des Katheters in das Körpergewebe einwachsen soll, verhindert, dass Bakterien von außen eindringen können. Die Infektionsgefahr war bei Vianne jetzt einfach zu groß, da die Muffe nun außen lag. Schließlich hatte sie noch rund neun Monate Therapie vor sich, wenn alles nach Plan verlief. Wieder eine Operation, wieder eine Narkose. Mir war so elend zu Mute. Ich wollte nicht mehr, dass sie ihr wehtun. Bereits am nächsten Tag sollte der Eingriff erfolgen. Ich rief Micha an. Ich rief meine Eltern an, die im Wechsel mit Andi immer zu uns kamen und Zuhause die Stellung hielten, während wir im Krankenhaus waren. Ohne die Hilfe meiner Eltern oder meiner Schwester/meines Schwagers wären wir schlichtweg durchgedreht. So wussten wir zumindest die übrigen Kinder gut betreut.

Der Chirurg (er war mir von Anfang an unsympathisch) blieb gleich da, um die Aufklärung für den Eingriff (die immer Pflicht ist) vorzunehmen. Ich machte mir Sorgen, deshalb fragte ich genau nach. Nach meiner zweiten Frage schaute er mich genervt an und sagte ziemlich provokant: "Sie sind aber nervig!" Ich bekam urplötzlich Schnappatmung. Im ersten Moment guckte ich ihn nur völlig perplex und sprachlos an. Ich konnte gar nicht glauben, was er gerade von sich gegeben hatte. Dann kam die Wut. Aber ich war so getroffen, dass ich kaum die richtigen Worte fand. Ich war einfach nur noch geschafft, hatte vor Wut und Verzweiflung nur noch Tränen in den Augen, die ich mühsam zu unterdrücken versuchte. Diesem Affen wollte ich auf gar keinen Fall meine Tränen zeigen. Unsere Onkologin spürte, dass ich innerlich kurz davor war, auszurasten, und versuchte zu beschwichtigen. Mühsam presste ich nur noch hervor, dass ich mich keinen Moment länger mit ihm unterhalten werde. Ich fühlte mich so klein. Dann forderte er mich auf, "für Emma" (SIE HEIßT VIANNE!!!) die Patientenaufklärung zu unterschreiben. Am liebsten hätte ich ihm das Papier um die Ohren gepfeffert, aber wenn ich nicht meine Zustimmung gab, konnte Vianne am nächsten Tag nicht operiert werden. Und ohne neuen Broviak konnte die Therapie nicht weitergehen. Ich zog Vianne an, hob sie auf meinen Arm und verließ die Klinik. Ich war außer mir. Aber wer mich kennt, weiß, dass die Sache damit nicht erledigt war. Todmüde setze ich mich abends an meinen Rechner und setzte einen offiziellen Beschwerdebrief auf, den ich an die Klinik faxte. Ein Exemplar an den Leiter der Kinderchirurgie, einen an den Klinikleiter und einen zur Kenntnisnahme an die Onkologie.

Vianne wurde am nächsten Tag vom Chef persönlich operiert, es folgte eine Entschuldigung des besagten Arztes. Ich war so müde... Sie hatte die zweite "Operative Einpflanzung eines zentralvenösen Katheters" gut überstanden.








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