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15. Juni 2016

Gerührt



Rückblick: September 2012

Wir hatten es schließlich geschafft. Ada gewöhnte sich im Laufe der Zeit daran, ohne ihre Zwillingsschwester in den Kindergarten zu gehen. Sie fand Freundinnen und Freunde. Vianne war die ganze Zeit über präsent: Bilder von ihr hingen im Eingangsbereich gemeinsam mit allen anderen Kindergartenkindern, im Gruppenraum war ein Bild an der Geburtstagswand, zu Nikolaus brachte ihr Ada einen gefüllten Strumpf mit aus dem Kindergarten. Alle Kindergartenkinder aus allen Gruppen hatten ihren Daumenabdruck mit ihrem Namen darunter auf einem DIN-A 3-Bild hinterlassen: „Wir drücken alle die Daumen“, war darauf zu lesen. Ein wunderschönes Bilderbuch „Die unglaubliche Geschichte von der Riesenbirne“ gab es dazu, gemeinsam von allen Eltern. Und wieder flossen Tränen - dieses Mal vor Rührung.
Nach dem Wochenende standen bereits die nächsten Gespräche und Untersuchungen im Klinikum an. Am Mittwoch, 12. September, sollte der ständige Zugang implantiert und die Chemotherapie gestartet werden. Es ging alles so schnell. Am Montag waren wir zum OP-Gespräch, wir sollten uns entscheiden, ob Vianne einen Port oder einen Broviak-Katheter bekommen soll. Ein Port wird in Brusthöhe unter der Haut verpflanzt, ist nicht sichtbar, muss aber jedes Mal angestochen werden für jede Medikamentengabe oder Blutabnahme. Beim Broviak-Katheter führt ein Schlauch, der in zwei oder auch drei Schenkeln mündet, aus dem Körper heraus, ebenfalls in Brusthöhe. Er verwächst im Laufe der Zeit mit dem umgebenden Gewebe, zuvor wird er mit wenigen Nadelstichen an der Haut fixiert. Ein Anstechen ist hier nicht erforderlich, die Schenkel werden einfach angestöpselt. Es muss sehr penibel auf die Pflege des Broviak-Katheters geachtet werden, damit keine Infektionen entstehen. Auch das Duschen ist ein Problem, da kein Wasser an die Schlaucheintrittsstelle gelangen darf. Es ist nun einmal eine Öffnung an der Stelle, wo der Schlauch in den Körper tritt. Der Katheter führt bis in den Herzvorhof. Die Ärzte hatten uns zum Broviak geraten, weil Vianne so Angst vor dem Pieksen hat und die Chemotherapie langwierig ist. Wenn ich mir so etwas implantieren lassen müsste, würde ich mich ganz klar für den Port entscheiden. Der Broviak war mir zuwider, wie er da aus ihrem Körper baumeln sollte - – ein Fremdkörper, der nicht zu unserer Tochter gehören würde. Die Ärzte merkten meinen Widerwillen. Nebenan im Spielzimmer saß ein etwa sechsjähriges Mädchen und spielte. Die Ärzte schlugen uns vor, den Broviak-Katheter einmal in Natura zu sehen. Sie fragten das Kind, ob es Lust hätte, Vianne ihren Zugang zu zeigen. Die Kleine stimmte auf Anhieb zu. Ich war erstaunt, wie unbefangen sie damit umging. Aber für sie schien der Schlauch ein Teil von ihr zu sein. „Die Kinder nehmen den Katheter viel schneller an als wir Erwachsenen“, bestätigten die Ärzte. Auch Vianne schien dieser Schlauch, dessen Enden in einem hübschen Stoffbeutel verstaut waren, nicht zu schockieren. Schweren Herzens entschieden wir uns für den Katheter, und haben diese Entscheidung auch nie bereut.
Nun sollte nur noch kurz der Blutdruck gemessen werden, ein Kinderspiel, dachte ich. Die Schwester kam mit dem Gerät und Vianne fing an zu weinen und zu schreien, obwohl zuvor auch schon mal der Blutdruck gemessen worden war. Die Schwester erklärte ihr den Vorgang, aber Vianne wollte partout nicht. Sogar Micha und ich machten es ihr vor. Vianne schrie noch immer. Mir brach der Schweiß aus. Wie sollte bloß die OP übermorgen ablaufen, wenn sie schon vor dem Blutdruckmessen Angst hatte. Wir redeten mit Engelszungen auf sie ein, wir versprachen ihr eine kleine Überraschung. Nichts half. Plötzlich stand Ada neben ihr, bisher hatte sie sich sehr im Hintergrund gehalten. „Ich will mal“, sagte sie zur Schwester. Micha und ich schauten uns erstaunt an. Sie ließ sich die Manschette um den Oberarm legen, während sie Vianne die ganze Zeit über in die Augen sah. Das Gerät pumpte und surrte. „Siehst du, gar nicht schlimm“, sagte Ada. Ich hätte sie knutschen können, meine kleine „Große“. Dann ließ sich Vianne anstandslos die Manschette umlegen. Sie vertraute ihrer Zwillingsschwester. Ich war gerührt. Wir alle waren gerührt. Die beiden taten sich gegenseitig so gut.


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