Rückblick: September 2012
Wir
hatten es schließlich geschafft. Ada gewöhnte sich im Laufe der Zeit daran,
ohne ihre Zwillingsschwester in den Kindergarten zu gehen. Sie fand Freundinnen
und Freunde. Vianne war die ganze Zeit über präsent: Bilder von ihr hingen im
Eingangsbereich gemeinsam mit allen anderen Kindergartenkindern, im Gruppenraum
war ein Bild an der Geburtstagswand, zu Nikolaus brachte ihr Ada einen
gefüllten Strumpf mit aus dem Kindergarten. Alle Kindergartenkinder aus allen
Gruppen hatten ihren Daumenabdruck mit ihrem Namen darunter auf einem DIN-A
3-Bild hinterlassen: „Wir drücken alle die Daumen“, war darauf zu lesen. Ein
wunderschönes Bilderbuch „Die unglaubliche Geschichte von der Riesenbirne“ gab
es dazu, gemeinsam von allen Eltern. Und wieder flossen Tränen - dieses Mal vor
Rührung.
Nach
dem Wochenende standen bereits die nächsten Gespräche und Untersuchungen im
Klinikum an. Am Mittwoch, 12. September, sollte der ständige Zugang implantiert
und die Chemotherapie gestartet werden. Es ging alles so schnell. Am Montag
waren wir zum OP-Gespräch, wir sollten uns entscheiden, ob Vianne einen Port
oder einen Broviak-Katheter bekommen soll. Ein Port wird in Brusthöhe unter der
Haut verpflanzt, ist nicht sichtbar, muss aber jedes Mal angestochen werden für
jede Medikamentengabe oder Blutabnahme. Beim Broviak-Katheter führt ein
Schlauch, der in zwei oder auch drei Schenkeln mündet, aus dem Körper heraus, ebenfalls
in Brusthöhe. Er verwächst im Laufe der Zeit mit dem umgebenden Gewebe, zuvor
wird er mit wenigen Nadelstichen an der Haut fixiert. Ein Anstechen ist hier
nicht erforderlich, die Schenkel werden einfach
angestöpselt. Es muss sehr penibel auf die Pflege des Broviak-Katheters
geachtet werden, damit keine Infektionen entstehen. Auch das Duschen ist ein
Problem, da kein Wasser an die Schlaucheintrittsstelle gelangen darf. Es ist
nun einmal eine Öffnung an der Stelle, wo der Schlauch in den Körper tritt. Der
Katheter führt bis in den Herzvorhof. Die Ärzte hatten uns zum Broviak geraten,
weil Vianne so Angst vor dem Pieksen hat und die Chemotherapie langwierig ist.
Wenn ich mir so etwas implantieren lassen müsste, würde ich mich ganz
klar für den Port entscheiden. Der Broviak war mir zuwider, wie er da aus ihrem
Körper baumeln sollte - – ein Fremdkörper, der nicht zu unserer Tochter gehören
würde. Die Ärzte merkten meinen Widerwillen. Nebenan im Spielzimmer saß ein
etwa sechsjähriges Mädchen und spielte. Die Ärzte schlugen uns vor, den
Broviak-Katheter einmal in Natura zu sehen. Sie fragten das Kind, ob es Lust
hätte, Vianne ihren Zugang zu zeigen. Die Kleine stimmte auf Anhieb zu. Ich war
erstaunt, wie unbefangen sie damit umging. Aber für sie schien der Schlauch ein
Teil von ihr zu sein. „Die Kinder nehmen den Katheter viel schneller an als
wir Erwachsenen“, bestätigten die Ärzte. Auch Vianne schien dieser Schlauch,
dessen Enden in einem hübschen Stoffbeutel verstaut waren, nicht zu
schockieren. Schweren Herzens entschieden wir uns für den Katheter, und haben
diese Entscheidung auch nie bereut.
Nun
sollte nur noch kurz der Blutdruck gemessen werden, ein Kinderspiel, dachte
ich. Die Schwester kam mit dem Gerät und Vianne fing an zu weinen und zu
schreien, obwohl zuvor auch schon mal der Blutdruck gemessen worden war. Die
Schwester erklärte ihr den Vorgang, aber Vianne wollte partout nicht. Sogar Micha
und ich machten es ihr vor. Vianne schrie noch immer. Mir brach der Schweiß
aus. Wie sollte bloß die OP übermorgen ablaufen, wenn sie schon vor dem
Blutdruckmessen Angst hatte. Wir redeten mit Engelszungen auf sie ein, wir
versprachen ihr eine kleine Überraschung. Nichts half. Plötzlich stand Ada neben
ihr, bisher hatte sie sich sehr im Hintergrund gehalten. „Ich will mal“, sagte
sie zur Schwester. Micha und ich schauten uns erstaunt an. Sie ließ sich die
Manschette um den Oberarm legen, während sie Vianne die ganze Zeit über in die
Augen sah. Das Gerät pumpte und surrte. „Siehst du, gar nicht schlimm“, sagte
Ada. Ich hätte sie knutschen können, meine kleine „Große“. Dann ließ sich
Vianne anstandslos die Manschette umlegen. Sie vertraute ihrer
Zwillingsschwester. Ich war gerührt. Wir alle waren gerührt. Die beiden taten sich
gegenseitig so gut.
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