Am
Samstag sollte es los gehen. Um etwas Luft zum Packen zu haben, hatten Oma und
Opa angeboten, Ada und Vianne von Dienstag bis Donnerstag zu sich zu nehmen.
Mittwoch bekam ich einen Anruf: „Nicole, Vianne hatte Fieber gestern, in der
Nacht hat sie ganz viel geweint, ihr Bein tat ihr so weh“, sagte meine Mutter. „Soll
ich besser kommen und sie abholen?“, fragte ich besorgt. „Nein, nein, das
Fieber ist auch schon wieder weg“, beschwichtigte meine Mutter. „Allerdings
sind wir schon etwas beunruhigt, denn Vianne läuft so komisch und benutzt ihre
rechte Hand nicht mehr richtig.“ Ich horchte auf. „Heute morgen hat sie allerdings
ganz viele rote Pöckchen in den Handinnenflächen und an den Füßen bekommen.“ Die Anspannung wich der Erleichterung. Höchstwahrscheinlich hatte sie die
Hand-Fuß-Mund-Krankheit, eine harmlos verlaufende Virusinfektion, die auch
schon Jesse und Luke im Kleinkindalter durchgemacht hatten. Ich erinnerte mich,
dass Tage zuvor einige Kindergartenkinder daran erkrankt waren. Das erklärte
auch, warum die „Maus“ so seltsam lief und die Hand weniger benutzte, denn die
Pöckchen können sehr schmerzhaft sein. Aber ich wollte trotzdem auf Nummer
sicher gehen. Also machte ich gleich für den folgenden Tag einen Termin bei
unserem Kinderarzt, der die Hand-Fuß-Mund-Krankheit bestätigte und „grünes
Licht“ für unseren Urlaub gab. Angesprochen auf die rechtsseitig leicht
eingeschränkte Motorik war er der Meinung, das käme von den schmerzhaften
Pöckchen. „Dieser Virus löst keine toxische Reaktion im Hirn aus“, beruhigte er
uns. Allerdings sollte sich Vianne in ein paar Tagen wieder ganz normal bewegen
können.
Wir
freuten uns sehr auf die Zeit am Meer. Wir machten ausgedehnte Radtouren mit
den Mädchen im Fahrradanhänger, bauten Sandburgen, sprangen Trampolin am Strand
und veranstalteten wieder unsere berühmt-berüchtigten Wasserschlachten rund ums
Ferienhaus. Vianne wirkte fit, aber sie benutzte noch immer nur die linke Hand
zum Essen und Malen, das rechte Bein zog sie – mal mehr, mal weniger nach.
Ich
hatte ein komisches Gefühl. Auch nach mehreren Tagen gingen die Symptome nicht
weg. Nun beobachtete ich meine Tochter mit Argusaugen. Fiel mir ihr
unregelmäßiger Gang weniger auf, hatte ich ausgesprochen gute Laune. Ich war
erleichtert und meinte, eine leichte Verbesserung zu bemerken. Und doch blieb
dieses seltsam diffuse Gefühl. Als ob irgendetwas passierte, was ich noch nicht
zu fassen bekam. Ich konnte nicht anders. Anstatt gemeinsam mit Micha ein
schönes Glas Rotwein in der Abenddämmerung zu trinken, schnappte ich mir meinen
Laptop und googelte nach den Symptomen. Könnte es eine
Hirnhautentzündung
sein, konnte es in seltenen Fällen doch zu Komplikationen bei der
Viruserkrankung kommen? Ich wühlte mich durch unzählige medizinische
Fachseiten. Es war alles sehr diffus. Letztendlich wiesen ihre Symptome auf
einen Hirntumor hin (der sehr, sehr selten im Kindesalter vorkommt). Ach Blödsinn,
das hätte unser Kinderarzt, der sehr gründlich arbeitet und viel Erfahrung hat,
sicher erkannt.
Zudem
war Vianne ansonsten wirklich fit. Ich wollte jetzt mal nicht den „Teufel an
die Wand malen“, obwohl mir mancher Freund nachsagt, etwas hypochondrisch
veranlagt zu sein. Und trotzdem: weder Micha noch ich waren in diesem Urlaub
richtig entspannt, und das kannten wir von uns gar nicht. Also beschlossen wir,
eine Kinderärztin vor Ort aufzusuchen. Sie schaute sich Vianne an, meinte, dass
sie einen aufgeweckten Eindruck macht und beruhigte uns erst einmal wieder.
Sollten die Symptome nicht innerhalb der nächsten drei Tage verschwinden, wollte
sie ein EEG bei einem Neurologen in Lübeck veranlassen. Dort fuhren wir dann
auch hin. „Leichte Auffälligkeiten bei den Hirnströmen in der linken Hirnhälfte“,
äußerte der Neurologe, „aber nichts, was derzeit etwas Schlimmeres vermuten lässt.“
Wir sollten ihr nochmals ein paar Tage geben und uns melden, wenn keine
Besserung oder aber eine akute Verschlechterung eintritt. Nach einem an sich schönen
Tag in Lübeck fuhren wir abermals etwas beruhigter zurück
in unser Ferienhaus.
Zwei
Tage später. Wir saßen beim Essen. Ich überredete Vianne, den Löffel in die
rechte Hand zu nehmen. Sie strengte sich an und versuchte, ihre Hand zum Mund
zu führen, aber der ganze Arm wirkte kraftlos, wackelte nur unkontrolliert und
fand nicht den Weg zum Mund. Nur mit Mühe konnte sie den Löffel überhaupt
halten. Auch der Ausdruck in ihren ansonsten so klar guckenden Augen gefiel mir
überhaupt nicht. Das Glitzern war irgendwie weg. Mir lief es eiskalt den Rücken
hinunter, und wir riefen sofort beim Neurologen an. Ein paar Tage später hatten
wir abends einen MRT-Termin in Kiel. Die Ärzte wollten Viannes natürlichen
Schlaf ausnutzen, damit keine Vollnarkose vonnöten ist, denn beim MRT muss das
Kind sehr ruhig liegen.
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