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14. Juni 2016

Die letzten Tage davor


 Rückblick: Sommer 2012


Am Samstag sollte es los gehen. Um etwas Luft zum Packen zu haben, hatten Oma und Opa angeboten, Ada und Vianne von Dienstag bis Donnerstag zu sich zu nehmen. Mittwoch bekam ich einen Anruf: „Nicole, Vianne hatte Fieber gestern, in der Nacht hat sie ganz viel geweint, ihr Bein tat ihr so weh“, sagte meine Mutter. „Soll ich besser kommen und sie abholen?“, fragte ich besorgt. „Nein, nein, das Fieber ist auch schon wieder weg“, beschwichtigte meine Mutter. „Allerdings sind wir schon etwas beunruhigt, denn Vianne läuft so komisch und benutzt ihre rechte Hand nicht mehr richtig.“ Ich horchte auf. „Heute morgen hat sie allerdings ganz viele rote Pöckchen in den Handinnenflächen und an den Füßen bekommen.“ Die Anspannung wich der Erleichterung. Höchstwahrscheinlich hatte sie die Hand-Fuß-Mund-Krankheit, eine harmlos verlaufende Virusinfektion, die auch schon Jesse und Luke im Kleinkindalter durchgemacht hatten. Ich erinnerte mich, dass Tage zuvor einige Kindergartenkinder daran erkrankt waren. Das erklärte auch, warum die „Maus“ so seltsam lief und die Hand weniger benutzte, denn die Pöckchen können sehr schmerzhaft sein. Aber ich wollte trotzdem auf Nummer sicher gehen. Also machte ich gleich für den folgenden Tag einen Termin bei unserem Kinderarzt, der die Hand-Fuß-Mund-Krankheit bestätigte und „grünes Licht“ für unseren Urlaub gab. Angesprochen auf die rechtsseitig leicht eingeschränkte Motorik war er der Meinung, das käme von den schmerzhaften Pöckchen. „Dieser Virus löst keine toxische Reaktion im Hirn aus“, beruhigte er uns. Allerdings sollte sich Vianne in ein paar Tagen wieder ganz normal bewegen können.

Wir freuten uns sehr auf die Zeit am Meer. Wir machten ausgedehnte Radtouren mit den Mädchen im Fahrradanhänger, bauten Sandburgen, sprangen Trampolin am Strand und veranstalteten wieder unsere berühmt-berüchtigten Wasserschlachten rund ums Ferienhaus. Vianne wirkte fit, aber sie benutzte noch immer nur die linke Hand zum Essen und Malen, das rechte Bein zog sie – mal mehr, mal weniger nach.

Ich hatte ein komisches Gefühl. Auch nach mehreren Tagen gingen die Symptome nicht weg. Nun beobachtete ich meine Tochter mit Argusaugen. Fiel mir ihr unregelmäßiger Gang weniger auf, hatte ich ausgesprochen gute Laune. Ich war erleichtert und meinte, eine leichte Verbesserung zu bemerken. Und doch blieb dieses seltsam diffuse Gefühl. Als ob irgendetwas passierte, was ich noch nicht zu fassen bekam. Ich konnte nicht anders. Anstatt gemeinsam mit Micha ein schönes Glas Rotwein in der Abenddämmerung zu trinken, schnappte ich mir meinen Laptop und googelte nach den Symptomen. Könnte es eine

Hirnhautentzündung sein, konnte es in seltenen Fällen doch zu Komplikationen bei der Viruserkrankung kommen? Ich wühlte mich durch unzählige medizinische Fachseiten. Es war alles sehr diffus. Letztendlich wiesen ihre Symptome auf einen Hirntumor hin (der sehr, sehr selten im Kindesalter vorkommt). Ach Blödsinn, das hätte unser Kinderarzt, der sehr gründlich arbeitet und viel Erfahrung hat, sicher erkannt.

Zudem war Vianne ansonsten wirklich fit. Ich wollte jetzt mal nicht den „Teufel an die Wand malen“, obwohl mir mancher Freund nachsagt, etwas hypochondrisch veranlagt zu sein. Und trotzdem: weder Micha noch ich waren in diesem Urlaub richtig entspannt, und das kannten wir von uns gar nicht. Also beschlossen wir, eine Kinderärztin vor Ort aufzusuchen. Sie schaute sich Vianne an, meinte, dass sie einen aufgeweckten Eindruck macht und beruhigte uns erst einmal wieder. Sollten die Symptome nicht innerhalb der nächsten drei Tage verschwinden, wollte sie ein EEG bei einem Neurologen in Lübeck veranlassen. Dort fuhren wir dann auch hin. „Leichte Auffälligkeiten bei den Hirnströmen in der linken Hirnhälfte“, äußerte der Neurologe, „aber nichts, was derzeit etwas Schlimmeres vermuten lässt.“ Wir sollten ihr nochmals ein paar Tage geben und uns melden, wenn keine Besserung oder aber eine akute Verschlechterung eintritt. Nach einem an sich schönen Tag in Lübeck fuhren wir abermals etwas beruhigter zurück in unser Ferienhaus.

Zwei Tage später. Wir saßen beim Essen. Ich überredete Vianne, den Löffel in die rechte Hand zu nehmen. Sie strengte sich an und versuchte, ihre Hand zum Mund zu führen, aber der ganze Arm wirkte kraftlos, wackelte nur unkontrolliert und fand nicht den Weg zum Mund. Nur mit Mühe konnte sie den Löffel überhaupt halten. Auch der Ausdruck in ihren ansonsten so klar guckenden Augen gefiel mir überhaupt nicht. Das Glitzern war irgendwie weg. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter, und wir riefen sofort beim Neurologen an. Ein paar Tage später hatten wir abends einen MRT-Termin in Kiel. Die Ärzte wollten Viannes natürlichen Schlaf ausnutzen, damit keine Vollnarkose vonnöten ist, denn beim MRT muss das Kind sehr ruhig liegen.







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